Nicht nur in der jungen Bundesrepublik schlug die Debatte über ihre von den USA geforderte Wiederbewaffnung
spätestens seit dem Sommer des Jahres 1950 hohe Wellen, auch die französische
Öffentlichkeit reagierte auf den amerikanischen Wunsch nach einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag
für Europa größtenteils ablehnend. Zwar sprachen sich im Juli 1954 – also kurz vor dem
Scheitern des EVG-Vertrages in der Assemblée Nationale – bereits 54 Prozent der Franzosen für
eine deutsch-französische Annäherung aus, ihre tiefverwurzelten Vorbehalte gegenüber dem alten
„Erbfeind“ jenseits des Rheins blieben davon jedoch meist unberührt. So glaubten gerade einmal 31
Prozent der Befragten, dass sich die von Disziplin, Fleiß und Tatkraft, aber ebenso von Arroganz,
Grausamkeit und Militarismus geprägte Mentalität der benachbarten Deutschen seit Kriegsende
grundlegend gewandelt habe.1 Solchen Gegebenheiten hatten die schwachen Regierungen der Vierten
Republik natürlich Rechnung zu tragen. Ihre Außenpolitik verfolgte deshalb die Strategie einer
„doppelten Eindämmung“: Einerseits sollte die Sowjetunion von einem Überfall auf Westeuropa
abgeschreckt werden, andererseits galt es jedoch gleichzeitig die potentiellen Gefahren eines militärisch
und wirtschaftlich wiedererstarkenden Deutschlands dauerhaft zu bannen. Welche Grenzen
die neuen Rahmenbedingungen des seit 1946/47 offen ausgetragenen Ost-West-Konflikts und die in
dessen Gefolge – spätestens mit Ausbruch des Korea-Krieges – unausweichlich gewordene Wiederbewaffnung
Westdeutschlands jener doppelten Eindämmungsstrategie zogen, vor allem jedoch wie
und mit welchen Ergebnissen die Diplomaten und Politiker des Quai d’Orsay versuchten, den vitalen
Sicherheitsinteressen Frankreichs auf internationalem Parkett Geltung zu verschaffen, bilden die
zentralen Fragestellungen der vorliegenden Abhandlung. [...]
1 Vgl. RIOUX, Jean-Pierre: Französische öffentliche Meinung und EVG. Parteienstreit oder Schlacht der Erinnerungen?,
in: Walter SCHWENGLER / Hans-Erich VOLKMANN (Hg.), Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und
Probleme der Forschung (MGFA, Militärgeschichte seit 1945, Bd. VII), Boppard 1985, S. 171f.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Grundzüge französischer Sicherheitspolitik bis Mitte 1950
- Vom Pariser Veto zum EVG-Projekt (1950-1952)
- Pleven-Plan und Spofford-Kompromiss
- Das Vertragswerk vom Mai 1952
- Schwarzer Tag für Europa und Pariser Verträge (1954)
- Hauptgründe für das Scheitern der EVG
- Der westdeutsche NATO-Beitritt als Ersatzlösung
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Geschichte des Ost-West-Konflikts und der französischen Sicherheitspolitik im Kontext der deutschen Wiederbewaffnung zwischen 1949 und 1955. Sie analysiert, wie Frankreich die potentiellen Gefahren eines wiedererstarkenden Deutschlands und die Bedrohung durch die Sowjetunion zu bannen versuchte, während gleichzeitig die Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Zuge des Kalten Krieges unabdingbar wurde.
- Die Sicherheitspolitik Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg
- Die Reaktion Frankreichs auf die Forderung nach einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag
- Die Verhandlungen um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)
- Das Scheitern der EVG und der westdeutsche NATO-Beitritt
- Die Herausforderungen der "doppelten Eindämmung" und der Versuch, die Interessen Frankreichs im internationalen Kontext zu wahren
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung beleuchtet die Debatte über die Wiederbewaffnung Westdeutschlands und die französischen Vorbehalte gegenüber dem ehemaligen Feind. Sie skizziert die Herausforderungen der "doppelten Eindämmung", die Frankreichs Außenpolitik prägten, und stellt die zentralen Fragestellungen der Arbeit vor.
Grundzüge französischer Sicherheitspolitik bis Mitte 1950
Dieses Kapitel analysiert die Sicherheitspolitik Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg, die in der europäischen Dominanz Frankreichs den Schutz gegen deutsche Aggression sah. Frankreich verfolgte eine Politik der Abschwächung Deutschlands, sowohl durch Gebietsabtretungen als auch durch die Bildung von Bündnissen. Die wachsende Angst vor einer sowjetischen Hegemonie führte jedoch zu einem Kurswechsel und der Zustimmung zur Währungsreform in Westdeutschland sowie zur Gründung der Bundesrepublik.
Vom Pariser Veto zum EVG-Projekt (1950-1952)
Dieses Kapitel untersucht die Entwicklung der EVG, ausgehend vom Pariser Veto gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands. Der Pleven-Plan und der Spofford-Kompromiss, die zur Gründung der EVG führten, werden beleuchtet, sowie die Auswirkungen des Vertragswerks vom Mai 1952.
Schwarzer Tag für Europa und Pariser Verträge (1954)
Dieses Kapitel befasst sich mit dem Scheitern der EVG im August 1954 und den Hauptgründen dafür. Es analysiert die Folgen des Scheiterns für die europäische Integration und die Rolle des westdeutschen NATO-Beitritts als Ersatzlösung.
Schlüsselwörter
Die Arbeit behandelt zentrale Themen wie die deutsche Frage, die Sicherheitspolitik Frankreichs, die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), der Ost-West-Konflikt, die Wiederbewaffnung Westdeutschlands, die "doppelte Eindämmung", der Kalte Krieg, die NATO und die deutsch-französischen Beziehungen.
- Quote paper
- Arndt Schreiber (Author), 2003, Frankreich und das Problem eines westdeutschen Verteidigungsbeitrages 1949-1955, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/21803