Die Lernkartei im Sachunterricht am Beispiel des Rahmenplanthemas Tiere


Examensarbeit, 2003

110 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Zielsetzung
1.2 Aufbau

2. Offener Unterricht als Rahmen für die Arbeit mit Karteien
2.1 Historischer Kontext
2.2 Zur Bedeutung des Offenen Unterrichts - Ziele und Merkmale
2.3 Formen des Offenen Unterrichts
2.3.1 Die Freie Arbeit
2.3.2 Der Werkstattunterricht
2.3.3 Die Tages- und Wochenplanarbeit
2.4 „Wandel der Kindheit“ - Gründe für einen Offenen Unterricht
2.4.1 Familiensituation
2.4.2 Wohnumwelt
2.4.3 Konsum
2.4.4 Medien
2.4.5 Konsequenzen für die Grundschule

3. Die Lernkartei
3.1 Konzeption der Lernkartei
3.1.1 Ursprung und Entwicklung von Karteien
3.1.2 Beschreibung verschiedener Karteitypen
3.1.3 Didaktische Funktionen der Lernkarteien
3.2 Konstruktion einer Lernkartei
3.2.1 Anforderungen an eine Lernkartei
3.2.1.1 Schülerorientierung
3.2.1.2 Sachliche Richtigkeit
3.2.1.3 Soziales Lernen anregen und unterstützen
3.2.1.4 Förderung von Selbständigkeit und Selbstverantwortung
3.2.1.5 Formale Gestaltung von Lernkarteien
3.2.2 Zusammenfassung der Anforderungen in Stichpunkten
3.3 Einsatz der Lernkartei
3.3.1 Einsatz der Lernkartei im Grundschulunterricht
3.3.2 Didaktisch-methodische Überlegungen zum Einsatz

4. Zusammenfassung und Fragestellung

5. Die Lernkartei im Sachunterricht
5.1 Ziele und Aufgaben des Sachunterrichts
5.1.1 Das Rahmenplanthema „Tiere“
5.2 Funktion einer Lernkartei im Sachunterricht am Beispiel des Rahmenplanthemas „Tiere“
5.3.1 Die praktische Auseinandersetzung mit dem Thema „Tiere“ und die Funktion einer Kartei
5.3.2 Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Thema „Tiere“ und die Funktion einer Kartei
5.3.2.1 Die Vermittlung von fachlichen Inhalten durch eine Lernkartei am Beispiel des Themas „Tiere“
5.3.2.2 Der Erwerb von fachlichen Qualifikationen durch eine Lernkartei am Beispiel des Themas „Tiere“
5.3 Die Lernkartei und andere Unterrichtsmedien
5.3.1 Die Lernkartei und der Unterrichtsfilm
5.3.2 Die Lernkartei und das Anschauungsmodell
5.4 Zusammenfassung der Diskussion in Stichpunkten

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Anlagenverzeichnis

Anlagen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Die Grundschule hat in den vergangenen Jahrzehnten komplexere Aufgaben erhalten. Neben die traditionelle Aufgabe, allen Kindern eine gleiche Grundbildung zu vermitteln, treten heute zunehmend erzieherische Aufgaben. So gehört z.B. die Vermittlung sozialer Verhaltenskompetenz und die Hinführung zu erforderlichen Lerneinstellungen heute mit zu den wesentlichen Aufgaben der Grundschule. (vgl. FÖLLING-ALBERS 2001, S. 41)

Die Aufgaben der Grundschule haben sich deshalb verändert, weil sich auch die Kinder im Vergleich zu noch vor fünfzig Jahren verändert haben. Ein angemessenes Sozialverhalten bspw. kann nicht mehr ohne weiteres bei allen Kindern einer Klasse vorausgesetzt werden, da verschiedene Faktoren (z.B. „Vereinzelung der Kinder“) dazu beitragen, dass es nicht in ausreichendem Maße erlernt wird oder erlernt werden kann.

Vor dem Hintergrund der Veränderungen von Kindheit ergeben sich für die Grundschule Herausforderungen, denen sie sich stellen muss. Die Idee eines „offenen Unterrichts“ kommt diesen Veränderungen entgegen. Lernen soll hier nicht mehr primär in geschlossenen, vom Lehrer dominierten Lernsituationen erfolgen, sondern von den Schülern mitbestimmt und mitgestaltet werden.

„Je mehr Lehrerinnen und Lehrer „aus der Mitte“ heraustreten (Wallrabenstein 1992) und dennoch weiterhin notwendigerweise „Mittler“ zwischen Kindern und der Welt (Schwarz 1994) bleiben, je mehr sie den Unterricht öffnen und die Kinder an der Planung und Organisation beteiligen, desto stärker wächst auch die Bedeutung jener gegenständlichen Mittel, an die definierbare Funktionen im Lernprozeß übertragen werden können“ (CLAUSSEN 1994, S. 8).

Ausgehend von der Erkenntnis, dass die Kinder nicht zur gleichen Zeit die gleichen Lernschritte und Aufgaben bewältigen können, da sie unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, soll das schulische Lernen stärker auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des einzelnen Schülers zugeschnitten werden.

Lernkarteien spielen in der Verwirklichung eines offeneren Unterrichts eine besondere Rolle, „da mit ihnen spezielle Lern- und Arbeitsverfahren im Sinne einer Individualisierung und Aktivierung der Kinder verbunden sind“ (SCHAARE 1993, S. 20).

1.1 Zielsetzung

Aus meiner Erfahrung, die ich im Schulpraktikum gewinnen konnte und aus der theoretischen Beschäftigung mit Lernkarteien im Rahmen meines Studiums ergaben sich folgende Fragen:

- Was sind die Grundlagen eines „offenen Unterrichts“? Welche Ziele werden mit ihm verfolgt und warum wird er praktiziert?
- Was kann eine Lernkartei im Grundschulunterricht leisten? Wie müssen Lernkarteien für den Grundschulunterricht gestaltet sein?
- Eignen sich Lernkarteien als Lernmittel für den Sachunterricht? Welche Möglichkeiten bzw. Grenzen ergeben sich aus der Verwendung dieses Mediums im Sachunterricht?

Das Ziel vorliegender Arbeit ist die Darstellung des offenen Unterrichts welcher den Rahmen für die Arbeit mit Lernkarteien bietet und die Auseinandersetzung mit Lernkarteien für den Grundschulunterricht. Ein weiteres Ziel besteht darin, die Eignung von Lernkarteien speziell für den Sachunterricht am konkreten Beispiel „Tiere“ zu untersuchen. Zur Veranschaulichung dieser Überlegungen sind der Arbeit selbst erstellte Materialien für eine Lernkartei beigefügt.

1.2 Aufbau

In Kapitel 2 wird zunächst ein Überblick über den „offenen Unterricht“ gegeben, da dieser den Rahmen für die Arbeit mit Karteien bietet. Zu Anfang werden die Ursprünge des offenen Unterrichts skizziert und es wird dargestellt, welche Ziele mit ihm verfolgt werden und wodurch er sich auszeichnet. Danach werden Unterrichtsformen vorgestellt, in denen Lernkarteien zum Einsatz kommen können und wichtige Gründe für eine offene Gestaltung von Unterricht angeführt.

In Kapitel 3 wird die Lernkartei selbst als Lernmittel für den Grundschulunterricht thematisiert. Vorab steht die Konzeption von Lernkarteien im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Beschreibung der Herkunft von Lernkarteien und der verschiedenen Karteitypen dient als Grundlage, um daraus die speziellen didaktischen Funktionen von Karteien abzuleiten. Nachfolgend werden die Anforderungen, die an eine Lernkartei für den Grundschulunterricht zu stellen sind herausgearbeitet, um im 5. Kapitel daran zu untersuchen, inwieweit sich dieses Lernmedium für den Sachunterricht eignet. Zuvor werde ich jedoch näher auf den Einsatz der Kartei eingehen, um einen Bezug zur praktischen Umsetzung im Unterricht der Grundschule herzustellen.

Im 4. Kapitel folgen eine Zusammenfassung der bisher erarbeiteten wichtigsten Punkte und ein damit verbundener Ausblick auf das folgende Kapitel.

Im 5. Kapitel werden vorab die Anforderungen für das Lernen im Sachunterricht auf der Basis des Hessischen Rahmenplans Grundschule (1995) beschrieben. Aus diesen Anforderungen beleuchte ich das beispielhaft ausgewählte Lernfeld „Tiere“ näher, um im Folgenden daran zu prüfen, welche Funktionen die Lernkartei für die Bearbeitung dieses Themas im Sachunterricht haben kann. Außerdem soll untersucht werden, welche Vor- und Nachteile eine Kartei gegenüber zwei weiteren, im Unterricht häufig verwendeten Medien (Unterrichtsfilm und Anschauungsmodell) hat. Im letzten Punkt dieses Kapitels erfolgt eine Zusammenfassung von Möglichkeiten und Grenzen einer Lernkartei im Sachunterricht. Das Kapitel 5 wird durch Verweise auf den Anhang dieser

Arbeit ergänzt, in welchem sich von mir erstellte, beispielhafte Materialien für eine Lernkartei befinden.

Das Kapitel 6 enthält abschließend die Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte dieser Arbeit.

2. Offener Unterricht als Rahmen für die Arbeit mit Karteien

2.1 Historischer Kontext

Der Begriff des „Offenen Unterrichts“ hat seine Wurzeln in der englischen Primarstufenreform. Das Ausgangskonzept, auf das sich der Offene Unterricht heute gründet, war in Großbritannien unter dem Ausdruck „Informal Education“ (informeller Unterricht) bekannt. Eine ausführliche Definition für den Begriff liefert KERNIG:

Informal learning and teaching sind Aktivitäten, die in einer geplanten Umgebung stattfinden, die so arrangiert ist, dass jedes Kind frei ist, Zeit, Raum, Materialien und Hilfe eines kompetenten Erwachsenen zu nutzen, um Lernfortschritte entlang des Weges zu machen, der durch seine eigenen Interessen und seinen eigenen Lernstil angezeigt ist. Die Aufgabe der Lehrerin ist, die individuellen Anliegen jedes Kindes und seinen Lernstil zu ermitteln, damit die schulische Umgebung als Antwort auf diese bekannten Bedürfnisse geplant und gepflegt wird. Ihre Funktion ist dann, dem Kind beim Erreichen pädagogischer Ziele (…) aktiv beizustehen“

(KERNIG 1997, S. 42, Hervorhebung im Original).

Durch offizielle Berichte, der vom britischen Erziehungsministerium eingesetzten Hadow-Kommission in den Jahren 1931 und 1933 und der Plowden-Kommission im Jahr 1963 steigerte sich der Bekanntheitsgrad der Informal Education wesentlich. Die Plowden-Kommission hatte die Aufgabe, verschiedene Grundschulen und Kleinkindeinrichtungen durch Untersuchungen vor Ort zu prüfen. Die Vertreter gelangten nach GÖHLICH (1997) zu der Auffassung, dass „(…) Schule sich bewusst an die Aufgabe [macht], die für Kinder geeignete Umgebung anzubieten, die es ihnen erlaubt, sie selbst zu sein und sich auf die ihnen gemäße Weise und in dem ihnen gemäßen Tempo zu entwickeln“ (GÖHLICH 1997, S. 27).

Die Erkenntnisse im Plowden-Report führten zu einer breiten Akzeptanz und Übernahme der Informal Education in England.

Die englische Konzeption erregte in diesen Jahren auch die Aufmerksamkeit der amerikanischen Grundschulbewegung. Im Zuge politischer Veränderungen in Amerika in den siebziger Jahren fand das Buch „The English Infant School and Informal Education“ von Lillian Weber großen Anklang. Weber war aufgrund eigener Hospitationen an englischen Grundschulen überzeugt von der Konzeption der Informal Education. Sie gründete daraufhin das „Open-Corridor-Programm“, eine auf die damaligen amerikanischen Verhältnisse zugeschnittene Form des offenen Unterrichtens. Der in diesem Zusammenhang entstandene Begriff der „Open Education“ (offenes Unterrichten) bildete nun gemeinsam mit der Konzeption aus England die Grundlage für die deutsche Entwicklung des Offenen Unterrichts. (ebd. S. 30)

Der Beginn des Offenen Unterrichts in Deutschland lässt sich nicht exakt datieren. Etwa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden Forderungen laut, die den Unterricht noch stärker weg von Anschauungsund Realienunterricht hin zu mehr Kindgemäßheit, Selbstverantwortung von Schülern, sozialem Lernen (s. Punkt 3.2.1.1, 3.2.1.3 und 3.2.1.4) und Chancengleichheit im Bildungssystem verlagern wollten (vgl. HAARMANN 1998, S. 13).

Einen Meilenstein für die Schulentwicklung setzte KEY mit dem Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ (1907). Sie griff den alten Ansatz der „Pädagogik vom Kinde aus“ neu auf. Dies hatte zur Folge, dass durch ihn vielfältige pädagogische Schwerpunkte gesetzt wurden, was die inhaltliche und organisatorische Gestaltung von Unterricht betraf. Kindheit wurde nun wieder als eigenständiger Prozess begriffen, der beinhaltet, dass Kinder nicht als „kleine Erwachsene“ verstanden werden, sondern dass sich, angelehnt an Piaget, Lernen im Kindesalter in bestimmten, aufeinander folgenden Entwicklungsstufen vollzieht. Eine wichtige Vertreterin dieser Auffassung war Maria Montessori. Aber auch andere Ansätze der Reformpädagogik trugen dazu bei, die Entwicklung der Öffnung des Unterrichts voranzutreiben. In diesem Zusammenhang sind Vertreter wie Gaudig, Otto, Freinet, Petersen und Kerschensteiner zu nennen (vgl. JÜRGENS, E. 1994, S. 41).

In Deutschland zeichnete sich erst in den siebziger Jahren eine wirkliche Wende und damit eine Abkehr von den „herkömmlichen Unterrichtskonzeptionen (Heimatkunde, Anschauungsunterricht, Gesamtunterricht)“ ab (GÖHLICH 1997, S. 31).

Der Weg führte zwar weg von diesen Konzeptionen, aber nicht hin zur Informal Education im Sinne des englischen Vorbilds, sondern „zu einer strikten Unterrichtsplanung, in der lernziel-, unterrichtstechnologie- und wissenschafts-orientierte Unterrichtsplanung dominieren“ (ebd. S. 31). Zu einer ersten, erfolgreichen Erprobung des englischen informellen Unterrichtskonzepts kam es im Jahr 1974 in einer Berliner Grundschule („Tempelhof-Projekt“). Von diesem Zeitpunkt an gewinnt die Informal Education unter den Lehrern in Deutschland mehr und mehr an Bedeutung. Schließlich etabliert sich für diese Form des Unterrichtens in der Bundesrepublik der Begriff des „Offenen Unterrichts“. (ebd. S. 32)

2.2 Zur Bedeutung des Offenen Unterrichts - Ziele und Merkmale

Will man den Begriff des Offenen Unterrichts definieren, so steht man schnell vor dem Problem, dass man nirgends eine exakte Definition für „Offenen Unterricht“ finden wird: „ Den Offenen Unterricht gibt es nicht!“ (JÜRGENS 1994, S. 24, Hervorhebung von mir). Offener Unterricht wird vielmehr verstanden als ein „Sammelbegriff, [der] vielfältige Formen inhaltlicher, methodischer und organisatorischer Öffnung mit dem Ziel eines veränderten Umgangs mit dem Kind“ enthält (WALLRABENSTEIN 1997, S. 54). Die Häufigkeit des Einsatzes dieser Formen (vgl. Punkt 2.3) kennzeichnet den Grad der Offenheit im Unterricht.

Offene Unterrichtsformen stellen eine Reaktion auf den Wandel gesellschaftlicher Entwicklungen und somit einer veränderten Kindheit dar (auf diesen Wandel werde ich in Punkt 2.4 näher eingehen). Die sich daraus ergebenden Leitziele offener Unterrichtsformen beziehen sich u. a. deshalb auf Möglichkeiten der Mitbestimmung und Mitgestaltung des Unterrichts von Seiten der Schüler.

Die Leitziele des Offenen Unterrichts nach WALLRABENSTEIN (1997) sind:

„Offenes Lernen mit entdeckendem und problemlösendem Verhalten, Lernbewusstsein, Kreativität, soziale Sensibilität, Kooperationsbereitschaft“ (ebd., S. 77 Hervorhebung im Original).

Solche Leitziele erfordern ein grundsätzliches Umdenken im Hinblick auf eine neue Lehrer- und Schülerrolle im Unterricht. In den im Unterricht am häufigsten praktizierten „geschlossenen Lernsituationen“2 ist es hauptsächlich so, dass nicht nach den „individuellen Bedürfnissen der Schüler [gefragt wird]“ (RAMSEGER 1992, S. 20).

BRÜGELMANN (2000) hat in einer Studie Lehrer, Studenten und Mitarbeiter von Schulämtern danach befragt, welche Assoziationen sie mit Offenem Unterricht in Verbindung bringen. Die Antworten der Befragten fielen wie folgt aus:

- Ermöglichen von Selbst- und Mitbestimmung (88%)
- Aufnahme von Erfahrungen aus der Lebenswelt (80%)
- Lernen mit allen Sinnen (76%)
- Differenzierung nach Leistungsunterschieden (72%)
- Aufmerksamkeit für persönliche Gedanken und Gefühle (64%)
- Einbeziehung außerschulischer Lernmöglichkeiten (61%)

(vgl. BRÜGELMANN 2000, S. 136).

Im Weiteren sollten die beteiligten Lehrer sich selbst im Zusammenhang mit der Umsetzung des Offenen Unterrichts einschätzen. Hier wurden vor allem Schwierigkeiten im Hinblick auf

- die Realisierung der Selbsttätigkeit der Kinder,
- die Berücksichtigung der sinnlichen Erfahrungen,
- die Selbstverantwortung für das Lernen und
- die inhaltliche Eigenständigkeit der Kinder genannt (vgl. ebd. S. 138)

Aus der Befragung geht hervor, wie groß die Barriere zwischen dem Anspruch des Offenen Unterrichts und der Realisierung in der Wirklichkeit ist. Die Umsetzung eines Offenen Unterrichts wird von den Lehrern in manchen Anforderungen als schwierig eingestuft. Dies ist möglicherweise ein Grund dafür, warum der „strikt organisierte Frontal-Unterricht […] immer noch eher die Regel denn die Ausnahme ist“ (CLAUSSEN 1994, S. 9). Es gibt zwar kaum fundierte Analysen über die tatsächliche Umsetzung des Offenen Unterrichts in den Schulen, jedoch nimmt BRÜGELMANN (1997) an, dass nur ca. 10-20% der Lehrer ihren Unterricht mehr oder weniger öffnen. (vgl. BRÜGELMANN 1997, S. 8)

BÖNSCH & SCHITTKO (1979) machen die Merkmale von Offenem Unterricht u. a. an diesen vier Punkten fest:

- „Die Schüler sollen an den unterrichtlichen Entscheidungen zunehmend beteiligt werden. (...)
- Die Erfahrungen, Fragen und Anliegen der Schüler sollen stärker zum Ausgangspunkt und Inhalt von Unterricht werden.
- Die unterschiedliche Ausgangslage der Schüler soll im Unterricht mehr berücksichtigt werden.
- Der Unterricht soll (…) so angelegt werden, daß er die sozialen Beziehungen in Richtung auf Gleichheit und Gegenseitigkeit entwickelt und das kooperative Verhalten fördert“ (BÖNSCH & SCHITTKO 1979, S. 12).

Kennzeichnend für diese Merkmale ist vor allem die starke Schülerorientierung und die damit verbundene Gestaltung des Unterrichts ausgehend von den Bedürfnissen der Kinder. Die Schüler erhalten so „Möglichkeiten zur Mitbestimmung über ihre Lernangelegenheiten“, was sich wiederum positiv auf deren Motivation auswirkt (ebd. S. 11). Zu diesen Lernangelegenheiten zählen u. a. die freie Wahl der Arbeitsform (Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit), des Arbeitstempos, der vom Lehrer bereitgestellten Arbeitsmaterialien und ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich der Inhalte des Unterrichts.

BENNER (1989) schlägt in diesem Zusammenhang eine Differenzierung in institutionelle, methodische und thematische Öffnung des Unterrichts vor. Institutionelle Öffnung meint das Öffnen der Schule nach außen hin zu Lernorten, die nicht unbedingt unmittelbar mit der Schule in Verbindung stehen müssen, wie z.B. Bauernhöfe, Zoos, Betriebe, oder einfach eine Wiese, auf der verschiedene Pflanzen vor Ort angeschaut werden können. Die methodische Öffnung von Unterricht beinhaltet sehr vielfältige Formen, auf die ich in Punkt 2.3 noch näher eingehen werde. Als Beispiele wären hier Freiarbeit, Projektunterricht, Wochenplan- und Werkstattunterricht zu nennen. Die Forderung nach der thematischen Öffnung von Unterricht beinhaltet weitestgehend eine Überschreitung der Fächergrenzen zugunsten eines fächerübergreifenden Unterrichts. Wichtig ist hierbei, dass eine sinnvolle Verknüpfung der verschiedenen Lerninhalte der einzelnen Fächer stattfindet, die sich aus den einzelnen Fächern zu einem Thema ergeben. (vgl. BENNER 1989, S. 51-54)

Auch die Rolle des Lehrers hat sich mit der Entstehung von offenen Unterrichtsformen grundlegend gewandelt. Dazu gibt JÜRGENS (1994) drei Merkmale des Lehrerverhaltens an, die auf Offenheit im Unterricht hinweisen:

„Lehrerverhalten:

- Zulassung von Handlungsspielräumen und Förderung von (spontanen) Schüleraktivitäten,
- Preisgabe bzw. Relativierung des Planungsmonopols,
- Orientierung an den Interessen, Ansprüchen, Wünschen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler“ (JÜRGENS 1994, S. 45).

Der Lehrer soll sich im Unterricht von der Position des Wissensvermittlers lösen und die Rolle eines Beraters und Initiators von Lernprozessen einnehmen.

Zudem muss in offenen Unterrichtssituationen vom Lehrer ein möglichst großes, vielfältiges und abwechslungsreiches Angebot an pädagogischem Arbeitsmaterial bereitgestellt werden, um „entdeckendes, problemlösendes und handlungsorientiertes, sowie selbstverantwortliches Lernen“ zu ermöglichen (ebd. S. 46).

Auch die Lernumgebung (Klassenraum) erfährt in offen unterrichteten Klassen eine Veränderung. Sie sollte sich auszeichnen durch vielfältige, abwechslungsreiche und differenzierte Lernangebote. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang z. B. Leseecke, Forschertisch, Bibliothek, verschiedene Arbeitsecken und Lernmaterialien, zu denen Bücher, verschiedene Medien und auch Lernkarteien gehören. (vgl. BÖNSCH 1991, S. 56f)

Abschließend bleibt anzumerken, dass „Offenheit“ von manchen Kritikern gerne mit „Beliebigkeit“ gleichgesetzt wird. Das Lernen im offenen Unterricht ist jedoch von seinem Selbstverständnis her keineswegs beliebig. Vielmehr gibt er Kindern Raum sich individuell zu entwickeln, Fragen zu stellen und Lernen auch zukünftig als etwas Spannendes und Bereicherndes zu erfahren. Die Beliebigkeit im Sinne des „Laissez-faire“-Prinzips ist nicht Bestandteil oder gar die Grundlage des offenen Unterrichts. (vgl. JÜRGENS 1994, S. 11)

2.3 Formen des Offenen Unterrichts

Im Folgenden werden nun einige Formen des offenen Unterrichts vorgestellt. Ich werde mich bei der Darstellung der Formen auf diejenigen beschränken, in denen die Lernkartei üblicherweise zum Einsatz kommt.

2.3.1 Die Freie Arbeit

Die Ursprünge der Freien Arbeit sind bereits im 19. Jahrhundert zu finden. Damals waren es Vertreter wie Montessori und Petersen und später auch Freinet, die die ersten Grundsteine für diese Art des Unterrichts legten. Grundgedanke war zu dieser Zeit die Leitidee Montessoris „Hilf mir, es selbst zu tun“. Während die Freie Arbeit lange Zeit nur in Alternativschulen praktiziert wurde, fand sie gegen Ende der sechziger Jahre im Zuge der Grundschulreformen auch in den Regelschulen Beachtung. (vgl. CLAUSSEN 1995, S. 13)

Das kennzeichnende Element an der Freien Arbeit ist, dass der Unterricht nicht primär vom Lehrer gesteuert wird, sondern dass die Schüler die Organisation selbst in der Hand haben. Jeder Schüler entscheidet sich für bestimmte Aufgaben, die er innerhalb der festgelegten freien Arbeitszeit erledigen möchte. Die Aufgaben können aus allen Fächern stammen. Die Schüler sind demnach frei in der Wahl, was sie lernen wollen, „damit sie aus eigenen Stücken weiterführende Interessen und Neigungen zeigen können“ (ebd., S. 21).

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass es den Kindern frei steht, wie (mit welchen Materialien) und mit wem (alleine oder in Gruppen) sie das, was sie interessiert, erlernen wollen. Hierfür muss der Lehrer ein breites Angebot an Lern- und Arbeitsmaterialien erstellen, welches die Kinder auffordert, „handelnd, entdeckend, forschend [und] erprobend“ an eine Aufgabe heranzugehen (KLEINERT 1993, S. 70). „Lernen vollzieht sich dabei als eigenständiges Verknüpfen des Neuen mit dem, was das Kind bereits weiß“ (ebd. S. 70). Zu diesen Materialien gehören u. a. Lernkarteien, Spiele, Bücher, Experimentiermaterial u. a. m.

Weil nicht grundsätzlich davon auszugehen ist, dass jedes Kind dauerhaft Interesse an einem Thema hat bzw. selbständig genug ist, sich Aufgaben zu suchen, ist es von Nöten, dass der Lehrer diese Kinder in solchen Situationen berät und ermutigt, sich mit bestimmten Materialien zu beschäftigen. Hierbei ist es wichtig, dass dies nicht unter Zwang geschieht. Vielmehr kommt dem Lehrer die Aufgabe zu, die Schüler „auf Ideen zu bringen“. Weiterhin hat der Lehrer in der Freien Arbeit Gelegenheit, einzelne Schüler zu beobachten und dadurch festzustellen, welche Vorschritte der Einzelne im Lernen macht.

Bei einem solchen veränderten Bild von Unterricht ist jedoch zu betonen, dass die Freiheit der einzelnen Kinder nicht grenzenlos ist. „Ihr Freiraum endet da, wo sie Mitschüler und Mitschülerinnen stören und einengen“ (JÜRGENS 1993, S. 48). Um dies den Kindern zu verdeutlichen hat es sich bewährt, mit den Schülern Verhaltensregeln zu erarbeiten, die für alle verbindlich sind, wie z. B. „ich verhalte mich leise und störe andere Kinder nicht beim Lernen“ und „ich bringe das benutzte Arbeitsmaterial wieder dahin zurück, wo ich es geholt habe“.

Zusammenfassend ergeben folgende Leitziele für die Freie Arbeit:

„Jedes Kind soll…

- …mit Interesse und Freude lernen dürfen.
- …lernen, was und soviel es lernen will und kann.
- …wie und solange es lernen will und kann.
- …effektiv Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten erweitern können.
- …lernen, sich selbst einzuschätzen, zu kontrollieren und zu …verbessern.
- …allein und mit anderen arbeiten dürfen und arbeiten lernen.
- …dabei die Hilfe bekommen, die es wünscht und braucht.
- …dabei persönliche Zuwendung und Anerkennung erfahren.
- …diese Freiheiten als individuelle Chance und Aufgabe erkennen, nutzen, bewahren und erweitern lernen“ (GERVÉ 1997, S. 28).

2.3.2 Der Werkstattunterricht

Die Grundgedanken des Werkstattunterrichts sind zurückzuführen auf Celestin Freinet (1896-1966). Seine Idee war es, die Schule als Arbeitsatelier (Arbeitswerkstatt) zu gestalten.

Der Lehrer bereitet ein breites Angebot an Arbeitsaufträgen mit den dazugehörigen Materialien vor, die von den Schülern selbständig bearbeitet werden sollen. Die vom Lehrer vorstrukturierten Arbeitsaufträge haben „meist projektorientierten Charakter“ und liegen im Klassenraum aus (JUNG 2003, S. 8). Während der Werkstattarbeit dürfen die Kinder selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge sie die Aufträge erledigen wollen. Jedes Kind darf sich soviel Zeit für die einzelnen Aufgaben nehmen, wie es braucht.

Anders als bei der Freien Arbeit haben die Schüler keinen großen Einfluss auf die Themen und Aufgabenstellungen der Werkstattarbeit. Unterschiedliche Befürworter regen jedoch zu einer Öffnung des Werkstattunterrichts durch vermehrte Beteiligung der Schüler bei der Entscheidungen über Inhalte und Aufgabenstellungen an.

Damit die Schüler ihre Arbeiten besser strukturieren und planen können, bietet es sich an, einen sog. „Arbeitsbericht“ einzuführen. Jedes Kind führt darin Buch über seine erledigten Aufgaben und über diejenigen, die es bspw. am nächsten Tag zu bearbeiten plant.

Die Lernmaterialien sollten vielfältig und fächerübergreifend konzipiert sein. Fächerübergreifend meint in diesem Zusammenhang, dass das Thema von mehreren Fachgebieten aus beleuchtet wird und dass die Inhalte aus diesen Fachgebieten bezüglich des Themas in die Werkstattarbeit mit aufgenommen werden.

Die Rolle des Lehrers im Werkstattunterricht umfasst zwei Bereiche. Einerseits muss die Lehrperson im Vorfeld die gesamte Werkstatt zusammenstellen und vorbereiten, was u. U. sehr aufwendig sein kann. Andererseits hat der Lehrer im Werkstattunterricht mehr Zeit zur Verfügung, weil er nicht wie im Frontalunterricht damit beschäftigt ist, der ganzen Klasse die Inhalte zu vermitteln. Diese Zeit sollte sinnvoll genutzt werden. So besteht für ihn die Aufgabe im Unterricht darin, die Schüler zu beraten, unklare Aufgabenstellungen zu erklären und auf Fragen einzugehen. Außerdem können einzelne Schüler gezielt beobachtet werden, deren Lernfortschritte dokumentiert und die erledigten Aufgaben eingesehen werden.

Die Dauer des Werkstattunterrichts kann sehr unterschiedlich sein. Sie ist abhängig davon, wie viele Stunden die Schüler dafür zur Verfügung haben und wie umfangreich die Werkstatt konzipiert ist. In der Regel sollte sie jedoch nicht länger als fünf Wochen dauern, da sonst schnell Langeweile bezüglich des Themas bei den Kindern aufkommt. (vgl. WEBER 1998)

2.3.3 Die Tages- und Wochenplanarbeit

Die Wurzeln der Tages- und Wochenplanarbeit sind, wie auch die der Werkstattarbeit, zurückzuführen auf Freinet. Gegen Ende der siebziger Jahre entwickelte er ein Konzept, welches zwei Schritte der Vorbereitung enthielt. Am Ende einer Schulwoche sollte von den Schülern in Zusammenarbeit mit dem Lehrer der sog. „plan collective“ festgelegt werden. Dieser Plan beinhaltete alle Aufgaben, die in der nächsten Schulwoche bearbeitet werden sollten. Am Anfang der folgenden Woche erstellte dann jeder Schüler aus diesem Angebot für sich einen individuellen Arbeitsplan, den „plan individuelle“. Der Plan konnte alleine oder mit dem Lehrer gemeinsam festgelegt werden. (vgl. VAUPEL 1999, S. 72)

Ausgehend von dieser Idee entwickelte sich der Wochen- bzw. Tagesplan, wie er heute in vielen Grundschulen praktiziert wird.

Die Praxis gestaltet sich so, dass der Lehrer zu Beginn einer Zeitphase, meist eines Tages oder einer Woche, ein für die Schüler gut überschaubares Angebot an Aufgaben zur Verfügung stellt. Bei diesen Aufgaben ist zwischen Pflicht und Wahlaufgaben zu unterscheiden. Die Pflichtaufgaben sind von allen Schülern zu erledigen und die Wahlaufgaben können nach Beendigung des Pflichtteils in Angriff genommen werden.

Innerhalb eines festgelegten Zeitraums (z. B. eine Stunde pro Tag) dürfen die Schüler nun selbst entscheiden, welche Aufgaben sie wann bearbeiten wollen, die „Zeiteinteilung ist ihre eigene Aufgabe und Verantwortung“ (CLAUSSEN 1993, S. 55). Eine solche Wahlfreiheit stellt hohe Ansprüche an die Schüler. Sie müssen lernen, sich ihre Zeit sinnvoll einzuteilen, um alle Pflichtaufgaben zu bewältigen. Nach dem Erledigen einzelner Aufgaben werden die Lösungen anhand von ausgelegten Kontrollblättern von den Schülern selbst kontrolliert. Jeder Schüler hat einen Plan, auf dem er die erledigten Aufgaben „abhaken“ kann. Durch diesen Plan hat jeder Schüler den Überblick über bereits bearbeitete Aufträge und diejenigen, die es noch vor sich hat. (ebd. S.55)

Wichtig bei der Wochenplanarbeit ist vor allem, dass die Planung und Organisation nicht ausschließlich vom Lehrer ausgeht. Die Schüler sollen in die Erstellung ihrer Wochenpläne miteinbezogen werden. „Aus der geschlossenen Form - vom Lehrer aufgestellte Wochenpläne werden schließlich Pläne, die gemeinsam mit den Lernenden oder gar von ihnen allein aufgestellt werden“ (VAUPEL 1999, S. 74).

Der Tages- aber vor allem der Wochenplan bietet gute Möglichkeiten zur Differenzierung. Durch den Wahlaufgaben-Anteil müssen Schüler, die schneller arbeiten als die übrigen Klassenkameraden, nicht auf diese warten. Umgekehrt haben langsamere Schüler in dieser Form des Unterrichts die Möglichkeit, ihrem Tempo gemäß zu arbeiten und trotzdem Erfolgserlebnisse zu erzielen. Der Lehrer sollte den Wochenplan deshalb immer so gestalten, dass alle Kinder mindestens den Pflichtteil schaffen können und die lernschwächsten Schüler auch die Gelegenheit erhalten, sich aus dem Wahlaufgabenangebot Aufgaben herauszusuchen.

2.4 „Wandel der Kindheit“ - Gründe für einen offenen Unterricht

Zu den Schlagworten „Wandel der Kindheit“ oder „Veränderte Kindheit gibt es seit den achziger Jahren zahlreiche Beiträge und Diskussionen. Ausgangspunkt für diese Diskussionen war die Auffassung, dass sich Kindheit innerhalb der letzten fünfzig Jahre grundlegend verändert hat. Auf die Gründe, die für diese Veränderungen verantwortlich sind, soll in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden. Vielmehr sollen im Folgenden einige Aspekte dieser Veränderungen skizziert und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Grundschule deutlich gemacht werden.

2.4.1 Familiensituation

Die Vorstellung von der Großfamilie, in der bis zu vier Generationen gemeinsam unter einem Dach zusammenleben ist in der heutigen Zeit, zumindest in Deutschland, nicht mehr gültig. Vielmehr hat in den vergangenen Jahrzehnten eine „Pluralisierung der Formen des Zusammenlebens“ stattgefunden (FÖLLING-ALBERS 2001, S. 19). Zu diesen Formen zählen u. a. nichteheliche Lebensgemeinschaften, EinEltern-Familien und Stiefelternschaften.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Ledige Kinder unter 18 Jahren nach Lebensformtypen ihrer Eltern(teile). Quelle: Statistisches Bundesamt

Wie man in der Statistik des Statistischen Bundesamts ablesen kann, verändern sich die Familiensituationen in Deutschland zwar langsam aber stetig. Während im April 1996 noch 84 % aller minderjährigen Kinder mit beiden Elternteilen aufwuchsen, waren es im April 2001 noch 81 %. Dagegen steigt die Anzahl derjenigen Kinder, die nur von einer Person betreut werden. Im April 1996 und 1997 wuchsen 12 % der Kinder bei Alleinerziehenden auf. Den Erhebungen von Mikrozensus zur Folge lebten im Mai 2000 und im April des darauf folgenden Jahres bereits 14 % der Kinder bei nur einem Elternteil.

Die Familiengröße hat sich dahingehend verändert, dass viele Kinder ohne oder mit nur einem Geschwister aufwachsen. Ca. 40 % der Kinder sind Einzelkinder. Dadurch fehlt es oft an wichtigen Grunderfahrungen im Umgang mit Geschwistern. (ebd. S.19)

Als Beispiele wären hier das gemeinsame Spiel oder das Streiten zu nennen. WOLF (1996) spricht in diesem Zusammenhang auch von einer zunehmenden „Vereinzelung“ der Kinder (WOLF 1996, S. 412). Auch aus der steigenden Anzahl der allein erziehenden Eltern ergeben sich Konsequenzen für das Aufwachsen von Kindern.

Viele der Alleinerziehenden sind auf das Ausüben mindestens einer Erwerbstätigkeit angewiesen. Daraus ergibt sich eine Betreuungsproblematik, die in manchen Fällen zu einer Vernachlässigung der Kinder führen kann (vgl. JÜRGENS, 1994, S. 36).

2.4.2 Wohnumwelt

Das „traditionelle Raumerleben“ von Kindern lässt sich nach BUCHER (1994) wie folgt beschreiben:

„Kinder, die ihre ersten Lebensjahre vor allem im Haus und in seiner unmittelbaren Umgebung verbringen, sich dann allmählich immer weiter weg wagen, in den nahen Wald pirschen, auf den nächsten Hügel steigen, ins benachbarte Dorf vorstoßen, und immer weiter wie die Kreise auf einem glatten Teich […]“ (BUCHER 1994 S. 2).

Solche Erfahrungen sind heute oft nicht mehr oder nur noch eingeschränkt möglich. Gerade in Städten kann man beobachten, wie Kindern immer weniger Raum zum Spielen und Erkunden bleibt. JÜRGENS (1994) spricht in diesem Zusammenhang von „Inseln“ und „einzig für sie [die Kinder] eingerichteten Rückzugsräumen, wie […] Spielplätze, Freizeit- und Jugendheime oder das Kinderzimmer“ (JÜRGENS 1994, S. 36)

In einer Studie bestätigt FÖLLING-ALBERS (2001) eine „Verhäuslichung der Kindheit“, das bedeutet, dass viele Kinder ihre Freizeit vermehrt in der Wohnung verbringen und nicht mehr draußen (FÖLLING-ALBERS 2001, S. 28ff). Das unorganisierte, spontane Spielen in der freien Natur nimmt immer mehr ab.

2.4.3 Konsum

Heute besteht ein sich immer weiter entwickelnder Trend zum Massenkonsum. Der Hauptkonsumartikel ist Spielzeug. Dieses Spielzeug ist oft soweit ausgefeilt und technisiert, dass die Kinder nur noch einen Knopf drücken, einen Hebel umlegen müssen, um es in Gang zu setzen. ROLFF (1995) sieht darin einen „Verlust an Eigentätigkeit“ (ROLFF 1995, S. 62). Die Spielsachen werden von den Kindern oder deren Eltern in Massen gekauft, sehr selten selbst hergestellt. Nach ROLFF liegt aber gerade in der „Planung und Herstellung des Gegenstands (…) die ganzheitliche Auseinandersetzung mit der Objekt- und Ideenwelt.“ Denn „bei eigentätiger Aneignung objektivieren sich Selbstbild, Selbstsicherheit, Kompetenz und Urteilsvermögen“. (ebd. S. 63)

2.4.4 Medien

Das von Kindern am stärksten genutzte Medium ist der Fernseher.

„Der Fernsehkonsum ist in den letzten Jahren bei den Kindern vor allem in den Haushalten, die zusätzliche Kabel- und Satellitenprogramme empfangen können, drastisch in die Höhe gegangen“ (ebd. S. 68).

Messungen der Gesellschaft für Konsum-, Markt- und Absatzforschung und auch anderen Instituten zur Folge verbringen Grundschulkinder täglich im Durchschnitt zweieinhalb Stunden vor dem Fernseher. Die Gefahr des häufigen Fernsehens sieht ROLFF u. a. in einem möglichen Rückgang der Fantasie und der Denktätigkeit, da diese durch das Fernsehen nicht oder nur in geringem Maße aktiviert würden (ebd. S. 68f).

Weiterhin bedeutet vermehrter Fernsehkonsum, die Wirklichkeit „aus zweiter Hand“ zu erleben (JÜRGENS, 1994, S. 32f).

Kinder eignen sich zwar beim Fernsehen eine Fülle von Informationen an, jedoch sind diese Informationen „symbolische Repräsentationen“ dessen, was Wirklichkeit ist (ROLFF, 1995, S. 69).

Auch der Computer ist ein Medium, mit dem sich heute bereits Grundschulkinder beschäftigen. Jeder 7. Haushalt in dem Grundschulkinder leben, verfügt über einen PC (ebd. S. 63). Zu den Motiven für die Nutzung ist nach einer Studie von FÖLLING-ALBERS (2001) zu sagen, dass die meisten Kinder den PC nutzen, um „Spaß zu haben“ (71 %) dicht gefolgt von der Intention „Spiele zu spielen“ (FÖLLING-ALBERS 2001, S. 37). Die wenigsten Kinder nutzen den Computer, um sich Informationen zu beschaffen.

2.4.5 Konsequenzen für die Grundschule

Diese Zusammenstellung beinhaltet nur einen Ausschnitt aus einer noch vielfältigeren und tiefgreifenderen Palette von Veränderungen der Kindheit. Diese Veränderungen verlangen, dass man auf sie reagiert.

Aber wie kann die Grundschule auf diese, sowohl positiven als auch negativen Rahmenbedingungen sinnvoll reagieren?

Schule sollte in erster Linie offen sein für Veränderungen, denn Offenheit ist die Voraussetzung dafür, Bestehendes zu verändern.

Für die Beantwortung dieser Frage hat KRETSCHMANN (1997) sechs Punkte aufgestellt, die die nötigen Veränderungen sehr treffend beschreiben:

- Die Schule sollte den Kindern „Erfahrungen und Erlebnisse aus erster Hand“ ermöglichen
- Kinder, deren Möglichkeiten in Bezug auf fantasievolle Eigenbetätigung gering waren, sollten bewusst zu selbständigem Lernen erzogen werden. Das bedeutet dass sie befähigt werden sollen, „von sich aus Lernaktivitäten zu beginnen, den Handlungsablauf und die Zeiteinteilung zu strukturieren und die erworbenen Kompetenzen durch Üben und Anwenden abzusichern“
- „Die Schule sollte den Kindern Zugang zu verbliebenen Lebensräumen schaffen“ (z. B.: Außerschulische Lernorte)
- „Lernen ist ein hochgradig sozialer Akt“. Lehrer sollten deshalb soziale Beziehungen unter den Kindern stärken und Gelegenheit geben, diese zu vertiefen.
- „Die Schule sollte Brücken schlagen zwischen den Lebensräumen der Kinder, der Familie und der Schule“. (z. B.: durch Miteinbeziehung der Eltern am Schulalltag)
- „Die Schule sollte den Kindern einen Ausgleich für verlorengegangene Lebens- und Erfahrungsräume bieten, indem sie sich selbst zu einem für Kinder entwicklungsgünstigen Lebensraum verändert“. (z. B. eine „wohnliche Einrichtung des Klassenzimmers, mit Gegenständen und Materialien angereichert, welche die Neugier der Kinder Wecken […]“ (KRETSCHMANN 1997, S. 188 Hervorhebung von mir).

[...]


2 Mit „geschlossenen Lernsituationen“ sollen an dieser Stelle die frontalen, hauptsächlich vom Lehrer geführten Lernsituationen gemeint sein.

Ende der Leseprobe aus 110 Seiten

Details

Titel
Die Lernkartei im Sachunterricht am Beispiel des Rahmenplanthemas Tiere
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Biologiedidaktik)
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
110
Katalognummer
V22029
ISBN (eBook)
9783638254793
Dateigröße
1451 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Diese Arbeit enthält neben einem theoretischen Teil auch eine praktische Umsetzung des Themas für den Grundschulunterricht.
Schlagworte
Lernkartei, Sachunterricht, Beispiel, Rahmenplanthemas, Tiere
Arbeit zitieren
Kirsten Thielmann-Koch (Autor:in), 2003, Die Lernkartei im Sachunterricht am Beispiel des Rahmenplanthemas Tiere, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22029

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