Akzeptanzprobleme bei der Meldung von NATURA 2000 Gebieten in Schleswig-Holstein


Seminararbeit, 2003

23 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2 Das NATURA 2000 Meldeverfahren
2.1 Einführung in die Vogelschutz- und die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie
2.1.1 Ziele, Prinzipien und Rechtsvorschriften
2.1.2 Rechtscharakter
2.2 Die Umsetzung der NATURA 2000 Richtlinien in Schleswig-Holstein
2.2.1 Zeitverzug bei der Meldung geeigneter Gebiete
2.2.2 Stand der Dinge: Meldeverfahren 3. Tranche und Nachmeldung Vogelschutz

3 Akzeptanzprobleme bei der Meldung in Schleswig-Holstein
3.1 Argumentation und Artikulation der Betroffenen
3.1.1 Identifikation der Betroffenengruppen
3.1.2 Beispiele für die Artikulation der Akzeptanzprobleme
3.2 Stolls Strukturmodell zu Erklärung von Akzeptanzproblemen
3.3 Ursachen für die Akzeptanzprobleme
3.3.1 Emotionale Aspekte
3.3.2 Kulturelle Aspekte
3.3.3 Wahrnehmungsbarrieren
3.3.4 Kommunikationsbarrieren

4 Handlungsstrategien zur Lösung der Akzeptanzprobleme
4.1 Die Sympathiekampagne des zuständigen Landesministeriums
4.1.1 Maßnahmen und Instrumente
4.1.2 Zielgruppenanalyse und Evaluation
4.2 Empfehlungen für die Verbesserung der Akzeptanzchancen von NATURA 2000
4.2.1 Mehr Partizipationsmöglichkeiten für die Betroffenen
4.2.2 Deutlichere Kommunikation der wirtschaftlichen Chancen von NATURA 2000
4.2.3 Soziale Interaktionen mit den Betroffenengruppen fördern
4.2.4 Bildung und Wissen über NATURA 2000 stärken

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

7. Gutachten der Dozentin

1. Einleitung

Dies ist die dritte Vertreibung in hundert Jahren: NATURA 2000 ist der Todesstoß. 1

Im Juni 2003 hat das Kabinett in Schleswig-Holstein eine Liste mit rund 240 Gebieten gebilligt, die unter den Schutz der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (1992) gestellt werden sollen. Zum zweiten Mal wird so das seit 1994 bestehende NATURA 2000 Netz der europäischen Mitgliedsstaaten ergänzt und vervollständigt. Thema dieser Arbeit ist die damit verbundene Akzeptanzproblematik in den betroffenen Regionen. Ausgehend von einer qualitativen Datengrundlage mittels repräsentativ ausgewählter Fallbeispiele soll die Diskussion um NATURA 2000 mit Hilfe eines Strukturmodells zur Erklärung von Akzeptanzproblemen in Großschutzgebieten (Stoll-Kleemann 1999, S. 165f.) operationalisiert werden. Ziel dieser Arbeit ist zu untersuchen, wo die Gründe für die ablehnende Haltung der einheimischen Bevölkerung und die Heftigkeit der Diskussionen liegen und Handlungsstrategien zu entwickeln, mit denen Naturschützer und Politiker mehr Akzeptanz für NATURA 2000 erreichen können.

Zunächst wird im zweiten Kapitel das so genannte Akzeptanzobjekt dargestellt: NATURA 2000 soll „einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten [...] bewahren oder wiederherstellen“ (EU KOM 2000, S.9). Mit der Meldung eines Gebietes tritt das so genannte Verschlechterungsverbot in Kraft. Landwirte und deren Verbandsfunktionäre, Gemeinde- und Tourismusvertreter sowie Industrie- und Gewerbetreibende sehen darin vor allem eine Einschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Sie repräsentieren in der teils heftig geführten Debatte die größten Betroffenengruppen. Die Analyse der Akzeptanzprobleme im dritten Kapitel hebt vier Ursachenebenen hervor: 1. Die Angst vor Einschränkungen und dem Verlust individueller Entscheidungsfreiheit, 2. das Infragestellen traditioneller Wertvorstellungen, 3. kognitive Dissonanzen und selektive Wahrnehmung infolge der Schwierigkeiten beim Umgang mit der Komplexität des NATURA 2000 Konzepts und 4. Vermittlungsschwächen, soziale Distanzen, Stereotype und Gruppenprozesse. Diese ökonomischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen Faktoren stehen – so erklärt es das Strukturmodell Stoll-Kleemanns – in einem engen kausallogischen Zusammenhang.

Auf der Basis der in der Ursachenanalyse erarbeiteten Folgerungen für Akzeptanzschaffungsprozesse werden im vierten Kapitel Handlungsstrategien zur Lösung der Akzeptanzprobleme in NATURA 2000 Gebieten entwickelt und konkrete Anregungen für die NATURA 2000 Kampagne des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft gegeben. Damit soll die Arbeit einen Beitrag zum Transfer zwischen der sozialwissenschaftlichen bzw. interdisziplinären Akzeptanzforschung und der praktischen Arbeit mit NATURA 2000 liefern.

2 Das NATURA 2000 Meldeverfahren

2.1 Einführung in die Vogelschutz- und die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie

2.1.1 Ziele, Prinzipien und Rechtsvorschriften

Die Europäische Union verabschiedete 1992 die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL), die auf der EU-Vogelschutzrichtlinie (V-RL) von 1979 aufbaut und sie um Listen vieler bedrohten Tier- und Pflanzenarten sowie Lebensraumtypen ergänzt. Ergänzend wurde beschlossen, ein zusammenhängendes Netz aus Schutzgebieten nach beiden Richtlinien in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Das Netz bekam den Namen NATURA 2000. Das Ziel definieren Artikel 1 und 2 der FFH-RL: die "Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen" unter Berücksichtigung der "Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur" sowie der "regionalen und örtlichen Besonderheiten" (EU KOM 2000, S. 9). Grundannahme der Richtlinie ist die Notwendigkeit der Förderung biologischer Vielfalt durch Erhaltung oder Wiederherstellung eines "günstigen Erhaltungszustands" bestimmter, in den Anhängen der Richtlinien definierter natürlicher Lebensräume und Arten in den Gebieten von Natura 2000. Wirtschaftliche, soziale, kulturelle und regionale Erfordernisse sollen im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt werden. Prinzip von NATURA 2000 ist das so genannte Verschlechterungsverbot. Das heißt, Bauvorhaben in NATURA 2000 Gebieten sind grundsätzlich immer möglich, solange der Zustand des geschützten Lebensraumes und der dort vorkommenden Arten nicht erheblich beeinträchtigt wird. Alle Projekte in und um NATURA 2000 Gebiete müssen vor ihrer Durchführung auf ihre Verträglichkeit mit den Erhaltungszielen des jeweiligen Gebietes überprüft werden. Wenn sie nicht verträglich sind, sind sie unzulässig – es sei denn, die zuständige Behörde erlässt eine Ausnahmegenehmigung. Voraussetzung ist, dass das öffentliche Interesse aus zwingenden Gründen überwiegt und zumutbare Alternativen nicht existieren. Wirtschaftliche und soziale Gründe sind dafür in den meisten Fällen ausreichend. Bei manchen sehr gefährdeten Tierarten hat die Natur jedoch Vorrang: Werden solche so genannten prioritären Arten gefährdet, dann sind Bauvorhaben nur möglich, wenn die Sicherheit der Menschen auf dem Spiel steht, zum Beispiel beim Küstenschutz.

Die Verträglichkeitsprüfung ist nur für neue Vorhaben oder Nutzungsänderungen vorgeschrieben. Jede bisherige Nutzung, sei es eine wirtschaftliche, touristische oder landwirtschaftliche, hat Bestandsschutz. Abgesehen von einigen Ausnahmen (zum Beispiel intakte, naturbelassene Wälder) werden die Natura 2000-Gebiete auch weiterhin produktiv bewirtschaftet. Einige NATURA-2000 Arten brauchen sogar die Landwirtschaft: Beispielsweise lebt der Schlammpeitzger, ein besonders seltener Fisch, in den Entwässerungsgräben in der Kollmarer Marsch. Die Erhaltung dieses Grabensystems ist so zugleich NATURA 2000-Ziel als auch im Interesse der Landwirtschaft. Bereits genehmigte Planungen genießen ebenfalls Bestandsschutz. Sie können auch dann noch umgesetzt werden, wenn das Gebiet bereits unter NATURA 2000-Schutz steht.

2.1.2 Rechtscharakter

Die Mitgliedsstaaten der EU sind verpflichtet, die Richtlinien in einzelstaatliches Recht umzusetzen und Schutzgebietsvorschläge an die Kommission zu melden. Hinsichtlich des Ergebnisses haben die Richtlinien als EU Gemeinschaftsinstrument verbindlichen Charakter, nur die Wahl der Mittel obliegt in bestimmtem Umfang den Mitgliedsstaaten (EU KOM 2000, S.12f.). Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) übernimmt in Deutschland dabei eine Kontroll- und Vermittlungsfunktion. Die verwaltungsrechtliche Umsetzung ist Aufgabe der einzelnen Bundesländer. Die müssen nach den Vorgaben der FFH-RL Gebiete benennen und zunächst an das BfN melden. Zunächst erstellen dafür die zuständigen Landesnaturschutzämter Gutachten, in denen für jedes vorgeschlagene Gebiet die spezifischen Erhaltungs- und Entwicklungsziele festgelegt werden müssen. Binnen sechs Jahren muss das Gebiet zum Naturschutzgebiet, Nationalpark, Biosphärenreservat oder Landschaftsschutzgebiet erklärt werden. Falls möglich, können die Ziele auch durch freiwillige Vereinbarungen gewährleistet werden (Vertragsnaturschutz). Bei der Auswahl der Gebiete dürfen ausschließlich naturschutzfachliche Kriterien entscheiden. Dies bestätigt das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil zur Autobahn A 20: Politische Zweckmäßigkeit, wirtschaftliche oder infrastrukturelle Interessen spielen hier keine Rolle. Die Mitgliedstaaten haben vielmehr anhand der festgelegten Kriterien und einschlägigen wissenschaftlichen Erkenntnisse die Gebiete aufzuführen, in denen die entsprechenden natürlichen Lebensraumtypen und einheimischen Arten vorkommen. Diese Auffassung wurde in inzwischen auch durch Urteile des Europäischen Gerichtshofes bestätigt (MUNL 2003b). Beteiligungsverfahren zu den NATURA 2000-Gebietsmeldungen laufen somit Gefahr, Betroffenengruppen, die fachlich oder finanziell nicht in der Lage sind, naturschutzfachliche Untersuchungen vorzunehmen, auszuschließen. Zudem sind Zeitraum und Gestaltungsspielraum der NATURA 2000-Richtlinien derart eng bemessen, dass die Schaffung lokaler Strukturen für konzeptionell basisdemokratische Beteiligungs- und Aushandlungsprozesse nicht möglich erscheint. In diesem Sinne kommt NATURA 2000 der Charakter eines Top-Down-Ordnungsrechts zu.

2.2 Die Umsetzung der NATURA 2000 Richtlinien in Schleswig-Holstein

2.2.1 Zeitverzug bei der Meldung geeigneter Gebiete

Die Frist zur Meldung geeigneter Gebiete für das NATURA 2000 Schutzgebietsnetz lief 1994 ab, ohne dass Gebiete gemeldet wurden. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellte im folgenden Jahr fest, dass kaum ein Mitgliedsland in ausreichendem Maße den Verpflichtungen nachgekommen sei. In der Zwischenzeit hat Schleswig-Holstein in zwei Schüben – so genannten Tranchen – 123 FFH-Gebiete gemeldet. Dazu kommen 73 Vogelschutzgebiete. Andere Bundesländer haben in der Regel mehr Landflächen benannt. Die erste Tranche Mitte der 90er umfasste in Schleswig-Holstein fast ausschließlich Naturschutzgebiete, Landschaftsschutzgebiete und Teile des Nationalparks. Der Verdacht liegt nahe, dass hier der Weg des geringsten Widerstands gewählt wurde, ohne die Systematik und die Zielvorgaben von NATURA 2000 ausreichend zu berücksichtigen. In dieser Sache wird auch von Verschleppung gesprochen und auf das EuGH-Urteil in der Sache Marismas von Santoña verwiesen: es verpflichtet die Mitgliedsstaaten, alle schutzwürdigen Gebiete zu benennen, unabhängig von deren Anzahl, Größe oder Nutzung. Wird ein naturschutzfachlich geeignetes Gebiet nicht gemeldet, zieht das ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich (EU KOM 2000, S. 14). Bei der zweiten Tranche 1999 hat die Landesregierung schlicht den Anspruch der EU unterschätzt: Wie bereits nach der ersten Tranche hat die EU im letzten Jahr wieder Bilanz gezogen und festgestellt, dass die gemeldeten Gebiete nicht für die Zielerreichung von NATURA 2000 ausreichen. Deshalb hat die europäische Kommission konkrete Forderungen zur Nachmeldung von Gebieten erhoben, die bislang unzureichend geschützte Lebensräume bzw. Tier- und Pflanzenarten enthalten oder die Voraussetzung für die Kohärenz des NATURA 2000- Netzes sind.2 Gleichzeitig hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungverfahren wegen nicht ausreichender Umsetzung der FFH-Richtlinie gegen Deutschland eingeleitet. Das kann mit einem Zwangsgeld von voraussichtlich 790.000 Euro täglich, festgesetzt durch den EuGH, gegen die Bundesrepublik enden. Die Bundesländer haben sich gegenüber der Kommission verpflichtet, unverzüglich in einem ausreichenden Umfang Gebiete nachzumelden. Die Kommission hat im Gegenzug zugesagt, das Verfahren so lange auszusetzen, wie sie den Eindruck der Einhaltung dieser Zusage hat.

2.2.2 Stand der Dinge: Meldeverfahren 3. Tranche und Nachmeldung Vogelschutz

Der Zeitrahmen für die nun dritte Nachmeldung von Gebieten nach der FFH-RL ist eng bemessen: Bis zum Juni 2004 müssen alle Flächen der Europäischen Kommission gemeldet sein und über den Fortgang des Meldeverfahrens muss laufend berichtet werden. Der Gestaltungsspielraum ist für die zuständigen Behörden gering.

Nachdem die fachliche Vorauswahl für die erforderlichen Nachmeldungen innerhalb der Naturschutzfachverwaltung des Landes abgeschlossen wurde, billigte das Kabinett in Schleswig-Holstein im Juni 2004 eine Liste mit rund 240 Gebieten, die in unter NATURA 2000-Schutz gestellt werden sollen. Sie sind teilweise neu, teilweise deckungsgleich mit bereits gemeldeten Vogelschutzgebieten, oder umfassen Änderungen bereits gemeldeter Gebiete. Insgesamt decken sie etwa 3,2 % der Landesfläche ab. Der Anteil des Netzes Natura 2000, also einschließlich der Vogelschutzgebiete, wird sich so von derzeit 5,4% der Landesfläche auf 7,9% erhöhen. Die Liste der Vorschläge wurde – ohne rechtliche Folgen – an die Europäische Kommission weitergeleitet. Das dient dazu nachzuweisen, dass Deutschland mit der Nachmeldung im vorgeschriebenen Zeitrahmen bleibt und den Prozess nicht verschleppt. Ende des Jahres soll das Kabinett die Meldung der Gebiete zunächst an das zuständige Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) beschließen. Dort werden sie aus nationaler Sicht bewertet werden, um die Meldung anschließend fristgerecht bis Juni 2004 an die Europäische Kommission weiterleiten zu können. Bis Ende Oktober können sich alle Betroffenen und Interessierten in einem etwa 15-wöchigen Informations- und Beteiligungsverfahren an der Diskussion um die vorgeschlagenen Gebiete beteiligen. Diese soll klären, welche der vorgeschlagenen Gebiete schließlich gemeldet werden, welche nicht gemeldet werden und welche noch dazu kommen müssen. Aussicht auf Erfolg haben aber nur naturschutzfachlich begründete Änderungsvorschläge. Die eingegangenen Stellungnahmen werden im Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Landwirtschaft (MUNL) ausgewertet.

Im Frühjahr 2004 werden den jetzt vorgeschlagenen Gebieten der FFH-RL weitere Vogelschutzgebiete folgen. Hier wird es sich vor allem um großflächige Gebiete handeln. Die Nachmeldeforderungen für Vogelschutzgebiete kamen erst spät von der Kommission. Deshalb ließen sie sich nicht mehr in das Verfahren für die 3. Tranche FFH ankoppeln. Ein erneutes Beteiligungsverfahren ist daher für den Winter 2003/04 geplant. Die Meldungen der einzelnen Mitgliedstaaten werden dann ab Juni 2004 von der Europäischen Kommission geprüft. Sie legt die NATURA 2000-Gebiete auf der europäischen Ebene abschließend fest. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Gebiete innerhalb von sechs Jahren dauerhaft rechtlich zu sichern.

3 Akzeptanzprobleme bei der Meldung in Schleswig-Holstein

3.1 Argumentation und Artikulation der Betroffenen

3.1.1 Identifikation der Betroffenengruppen

Betroffen sein können grundsätzlich alle, die Nutzungen in geplanten oder bestehenden NATURA 2000-Gebieten ausüben oder Eigentümer darin liegender Flächen sind. Die Benennung eines Gebietes allein löst keinen Rechtsanspruch auf Ablehnung der Meldung oder gar auf Entschädigung aus. Die größten Betroffenengruppen sind Landwirte, Grundeigentümer, Touristen und Industrie- und Gewerbetreibende. Ferner kann NATURA 2000 für Jäger, Fischer, Anwohner, Kommunalpolitiker und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, Landesregierungen und Behörden von Bedeutung sein. In der teils heftig geführten Debatte treten vor allem Landwirte und deren Verbandsfunktionäre, Gemeinde- und Tourismusvertreter sowie Industrie- und Gewerbetreibende als Anwälte ihrer jeweiligen Lobby auf. Sie sehen in NATURA 2000 vor allem eine Einschränkung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten. Während das öffentliche Interesse eher gering ist, kann die Auseinandersetzung mit den Betroffenenvertretern als hoch emotional bezeichnet werden. Kommunalpolitiker und Wirtschaftsvertreter verhalten sich in dem Prozess eher rational kalkulierend, verfolgen aber oft Eigeninteressen und wie es ein Beteiligter einer Diskussionsveranstaltung ausdrückte, die "Lufthoheit über die Stammtische".

Die Argumente, Befürchtungen und Ängste der einzelnen Betroffenengruppen sind landesweit inhaltlich ähnlich bis gleich, die Auseinandersetzung über NATURA 2000 wird in den betroffenen Regionen aber mit unterschiedlicher Intensität und mit verschiedenen Schwerpunkten geführt. Daher ist es opportun und sinnvoll, zur Darstellung der Argumente der Betroffenen repräsentative Fälle aus den Krisenherden im Sinne des NATURA 2000 Meldeprozesses darzustellen. Die ausgewählten Fälle umfassen sowohl die im Rahmen der Kampagne des MUNL festgestellten "Krisenherde" als auch die speziellen Akzeptanzprobleme der größten Betroffenengruppen. Damit soll jedoch nicht suggeriert werden, dass NATURA 2000 überall ausschließlich auf Ablehnung führe. Eine quantitative Datensammlung kann zur Untersuchung der Akzeptanzprobleme von NATURA 2000 sicherlich wertvolle Informationen beisteuern und sei an dieser Stelle empfohlen.

3.1.2 Beispiele für die Artikulation der Akzeptanzprobleme

Rund 1800 Hektar landwirtschaftlich genutzter Flächen in der Kollmarer Marsch sollen NATURA -2000 Gebiet werden. Geschützt wird ein Fisch – der Schlammpeitzger – der in den Entwässerungsgräben zwischen den Feldern lebt. Einschränkungen sind also nur für die insgesamt etwa 30 Hektar Gräben zu erwarten. Ein aktuelles Gutachten bestätigt, dass der Schlammpeitzger an vielen Stellen in den Gräben vorkommt. Die Landwirte vor Ort bestreiten aber, dass es den Schlammpeitzger dort gibt. Die Unterschutzstellung aller umgebenden Felder verstehen sie nicht. Sie befürchten dadurch Einschränkungen der landwirtschaftlichen Praxis. Beteuerungen seitens des Ministeriums, dies werde nicht der Fall sein, wird kein Glauben geschenkt.3

Große Teile der Amrumer Strandlandschaft sollen geschützt werden. Die dpa suggeriert in ihrer Berichterstattung über den Konflikt auf der Ostseeinsel eine enorme Ausdehnung des Gebietes, indem sie die Größe aller vorgeschlagenen Land- und Wasserflächen addiert und in Fußballfelder umrechnet. "Wir werden uns nicht wieder etwas überstülpen lassen wie den Nationalpark", schimpft ein Amrumer Bürgermeister stellvertretend für Amrum. Gegen die Ausweisung als NATURA 2000 Gebiet werde man "mit aller Macht" angehen. Vor allem werden Einschränkungen für den Tourismus befürchtet: Man könne ja nicht alle Trends in Tourismus und Freizeitsport vorhersehen und brauche daher Entwicklungsmöglichkeiten. Die seien aber durch das Verschlechterungsverbot und die Verträglichkeitsprüfung eingeschränkt. Mit dem Nationalpark habe man zudem genug Naturschutz, es müsse auch Flächen geben, die der Mensch ohne Einschränkungen nutzen dürfe; Andernfalls wäre das Dreieck der Nachhaltigkeit zu Gunsten der Natur und zu Lasten von Wirtschaft und Sozialem verschoben.4

16.319 Hektar der West- und Nordküste Fehmarns sollen das bestehende FFH Gebiet erweitern. Die Flächen sind bereits als Vogelschutzgebiet ausgewiesen. Geschützt werden sollen Steinriffe, Muschelbänke und weitläufige Sandbänke unter Wasser, die Lebensräume für die Futterpflanzen von Schweinswalen und Zugvögeln darstellen. Obwohl für unmotorisierte Wassersportler keine Einschränkungen zu erwarten sind, weil sie die geschützten Lebensräume gar nicht negativ beeinflussen können, laufen die Betreiber von Segel- und Surfschulen Sturm gegen die NATURA 2000 Meldung: Das "Aus für den Tourismus" wird befürchtet, die Angst, Surfer und Segler würden von Fehmarn vertrieben, geht um: "Dann wird Fehmarn zur Senioreninsel", nur die jungen Touristen brächten aber den wirtschaftlichen Aufschwung auf die Insel. Die intakte Natur als einer der Hauptgründe für Touristen, ihren Urlaub auf Fehmarn zu verbringen, spielt keine Rolle.5

Das Naturschutzgebiet Lauenburger Elbvorland soll um NATURA 2000-geschützte Flächen ergänzt werden, die unmittelbar an ein Industrie- und Gewerbegebiet der Stadt Lauenburg angrenzen. Geschützt werden sollen Schlammbänke und Auenwiesen, auf denen die vom Aussterben bedrohte Brenndolde vorkommt. Das Problem: die Stadt und Vertreter der Gewerbetreibenden beanspruchen lautstark diese Flächen für eine Erweiterung des Gewerbegebiets. Das dies wirtschaftlich notwendig bzw. sinnvoll sein könnte, darf bezweifelt werden: 1. Die bestehenden Gewerbegebiete Lauenburgs sind nicht ausgelastet. 2. Das Gewerbegebiet liegt direkt hinter einem Deichabschnitt, der beim Elbhochwasser 2002 nur mit größten Anstrengungen gesichert werden konnte. Die Landesplanung sieht vor, dass keine weitere Gewerbeentwicklung oder Siedlung im Hochwasserbereich genehmigt werden darf. Die Argumentation der Betroffenen bringt ein Holzfabrikant auf den Punkt: "Die Arbeitslosenquote in Lauenburg liegt derzeit bei über 17%. Für die Stadt Lauenburg ist NATURA 2000 der Todesstoß." Zudem wird versucht, über das Beteiligungsverfahren Einfluss auf die Gebietsmeldung zu erhalten: Es wird behauptet, das "Gebiet ist naturschutzfachlich nicht geeignet." Die Flächen hinter dem Deich seien durch die Schutzmaßnahmen vor dem drohenden Hochwassereinbruch im August 2002 schwer geschädigt worden, so dass es zweifelhaft ist, ob diese Flächen als schützenswert eingestuft werden könnten. Tatsächlich ist der Zustand der neuen Gebiete im naturschutzfachlichen Sinne ungünstig. Ein Gutachten hat jedoch ergeben, dass die Chancen gut stehen, mit NATURA 2000 die standort-typischen Stromtalwiesen wiederherstellen und sichern zu können. Gegen die Ausweisung der NATURA 2000-Gebiete drohen Stadt und Gewerbetreibenden mit Klagen. Zu einer Live-Diskussion des NDR mit Vertretern von Bauernverband, IHK und Minister Klaus Müller organisierte der Bürgermeister der Stadt Lauenburg lautstarken Protest mit Plakaten und Sprechchören. Den Teilnehmern wurde Freibier ausgeschenkt.6

Ein Beispiel für den Einfluss parteitaktisch agierender Kommunalpolitiker ist die alarmierende Äußerung des Lübecker Bürgermeisters in Presse und TV: 50% der Fläche Lübecks seien bzw. würden mit NATURA 2000 zum Naturschutzgebiet. Die Behauptung ist eklatant falsch! Die Flächen der verschiedenen Schutzgebietsarten überschneiden sich erheblich. Summiert man die Einzelflächen, ergeben sich etwa 48%, rechnet man aber die Gesamtfläche der unter Schutz stehenden Flächen, so handelt es sich um etwa 20% der Flächen Lübecks – inklusive der zur Stadt gehörenden Wasserflächen in der Lübecker Bucht. Die Zahl 50% ist Anlass und Indiz für Befürchtungen und Ängste in der Diskussion um NATURA 2000, in der Sachargumente von Gerüchten und systematisch gestreuten Falschaussagen kaum noch zu trennen sind.

[...]


1 O-Töne Betroffener aus der NDRaktuell Sendung über NATURA 2000 vom 17.09.2003.

2 Unter einem kohärenten Schutzgebietsnetz wird eine räumliche Verteilung der Schutzgebiete auf die gesamten Vorkommen der zu erhaltenden Lebensräume und Arten verstanden. Damit soll 1. vorgebeugt werden, dass nur an einem Ort großflächig gemeldet wird und 2. ein zusammenhängendes Verbundsystem von Rückzugsgebieten mit Wanderkorridoren für die wildlebenden Arten geschaffen werden.

3 Quellen: Telefonate zwischen Vertretern des Bauernverbands und der Pressestelle des MUNL, Internetforum: www.natura2000-sh.de.

4 Quellen: Medienberichterstattung vom 28. Juli 2003 (Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag, Kieler Nachrichten, dpa) und Informationsveranstaltung mit der Fachbereichsleiterin des MUNL und etwa 100 nordfriesischen Bürgermeistern in Husum am selben Tag. In Konfrontationen zwischen Gemeindevertretern, Landwirten und Vertretern des Ministeriums im September 2003 kam es Berichten von Mitarbeitern des MUNL zufolge zu lauten verbalen Auseinandersetzungen und persönlichen Drohungen.

5 Quelle: Bericht in der NDRaktuell Sendung über NATURA 2000 vom 17.09.2003.

6 Quellen: Internetforum: www.natura2000-sh.de und Bericht in der NDRaktuell Sendung über NATURA 2000 vom 17.09.2003.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Akzeptanzprobleme bei der Meldung von NATURA 2000 Gebieten in Schleswig-Holstein
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Proseminar: Einführung in die Umweltsoziologie
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
23
Katalognummer
V22096
ISBN (eBook)
9783638255264
ISBN (Buch)
9783638759526
Dateigröße
549 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit hat zum Ziel, die Ursachen für Akzeptanzprobleme bei der Meldung von NATURA 2000 Gebieten in Schleswig-Holstein zu untersuchen, bisher vorgenommene Maßnahmen zur Ak-zeptanzverbesserung zu bewerten und weiter reichende Vorschläge zur Akzeptanzverbesserung zu machen. Theoretische Basis der Erklärung ist das Strukturmodell zur Erklärung von Akzeptanz-problemen in Großschutzgebieten von Stoll-Kleemann.
Schlagworte
Akzeptanzprobleme, Meldung, NATURA, Gebieten, Schleswig-Holstein, Proseminar, Einführung, Umweltsoziologie
Arbeit zitieren
Daniel Pentzlin (Autor:in), 2003, Akzeptanzprobleme bei der Meldung von NATURA 2000 Gebieten in Schleswig-Holstein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22096

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