Entwürfe jüdischer und ägyptischer Kulturen in Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder"


Magisterarbeit, 2003

114 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Fragestellung und methodische Gliederung
1.2 Positionen bisheriger Interpretationen

2. Der Kulturbegriff
2.1 Begriffsdefinition Kultur
2.2 Der theoretische Ansatz von Klaus Peter Hansen
2.3 Die Geschichte des Kulturbegriffs
2.4 Die Natur-Kultur-Antithese
2.5 Die Kultur-Zivilisation-Antithese
2.6 Aspekte des Kulturbegriffs Thomas Manns

3. Analyse der Entwürfe jüdischer und ägyptischer Kulturen
3.1 Der Stamm Israel – Ein Konzept jüdischer Kultur
3.1.1 Der Aspekt der Religion
a) Religion als Lebensform
b) Das Gottesbild
c) Die Theologie des Romans im Sinne einer Anthropologie
3.1.2 Der Aspekt der Geschichte
a) Das kulturelle Gedächtnis
b) Zitathaftes Leben – Das Konzept des „In-Spuren-gehen“
c) Das Verhältnis von Mythos und Geschichte
3.1.3 Der Aspekt der Kunst
a) Das Verhältnis von Kunst und Kultur
b) Materielle Kultur im Leben der Sippe
c) Die Funktion des Geschichtenerzählens
3.1.4 Der Aspekt der Politik und Wirtschaft
a) Politische Grundlagen des Stammeslebens
b) Wirtschaftliche Grundlagen des Stammeslebens
3.1.5 Resümee
3.2 „Vom äffischen Ägypterland“ – Ein Konzept ägyptischer Kultur.
3.2.1 Der Aspekt der Religion
a) Das religiöse Leben Ägyptens
b) Amun-Re und Atum-Re
c) Pharaos revolutionäre Sonnentheologie
3.2.2 Der Aspekt der Geschichte
3.2.3 Der Aspekt der Kunst
a) Die materielle Kultur
b) Die Literatur Ägyptens
3.2.4 Der Aspekt der Politik und Wirtschaft
a) Die soziale Struktur und Organisation Ägyptens
b) Die Wirtschaftsmacht Ägyptens
c) Josephs Wirtschaftspolitik
3.2.5 Resümee

4. Vergleich der kulturellen Entwürfe
4.1 Die Kulturen im Vergleich
4.1.1 Die Glaubensunterschiede
4.1.2 Die unterschiedlichen Bezüge zur Vergangenheit
4.1.3 Zum Verhältnis von Form und Inhalt
4.1.4 Die differenzierte Gesellschaft am Beispiel der kritischen Theorie
4.2 Die kulturellen Entwürfe im Spiegel der Kultur-Zivilisation-Antithese
4.3 Joseph als Vermittler zwischen den Kulturen
4.3.1 Der doppelte Segen
4.3.2 Die Geburt des Ich aus dem mythologischen Kollektiv
4.3.3 Resümee
4.4 Menschheitssymbol und Universalkultur

5. Schlusswort

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Fragestellung und methodische Gliederung

Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“[1] entführt den Leser in ein Szenario längst vergangener Zeiten. Durch den Brunnen der Vergangenheit geht es hinab in die Welt des Stammes Israel, wobei Mann zunächst die Lebensgeschichte Jaakobs erzählt und dem Leser dadurch Einblicke in die Lebensweise der Hirtenwelt bietet. Im weiteren Verlauf geht es mit Joseph nach Ägypten und eine komplett neue Welt rückt in den Mittelpunkt des Geschehens.

Thomas Manns Beschreibung dieser beiden Lebenswelten ist sehr detailliert und komplex und geht über einen Einblick weit hinaus. Vielmehr entwickelt Mann zwei umfangreiche kulturelle Konzepte und stellt sie in einen übergeordneten Zusammenhang.

Die vorliegende Arbeit zielt darauf, die dargestellten Kulturen in ihrer kollektiven Identität zu charakterisieren, um dann zu prüfen, welche Bedeutung die Kulturentwürfe für den Gesamtzusammenhang des Romans haben. Die Schwierigkeit der Darstellung und Analyse von kulturellen Konzepten liegt in der eindeutigen Definition des Begriffs Kultur, da er sehr schwer fassbar ist und viele einzelne Ansichten in sich vereint. Zudem basiert seine besondere Stellung in der deutschen Geistesgeschichte auf einer verzweigten und vielschichtigen Entwicklungsgeschichte.

Aus diesem Grund wird der Analyse der beiden kulturellen Entwürfe eine theoretisch-fundierte Begriffsdefinition Kultur vorangestellt, die sowohl auf die einzelnen Bedeutungsfelder des Begriffs, seine Struktur und auf seine Entwicklung im deutschen Sprachgebrauch eingeht.

Aus welchen Einzelelementen bestehen Kulturen? Ist eine solche Einteilung überhaupt objektiv durchführbar? Jacob Burckhardt hat diesbezüglich während der Arbeit an seiner kulturgeschichtlichen Darstellung der „Kultur der Renaissance in Italien“[2] auf ein solches Problem verwiesen.

„Es ist die wesentlichste Schwierigkeit der Kulturgeschichte, daß sie ein großes geistiges Kontinuum in einzelne scheinbar oft willkürliche Kategorien zerlegen muß, um es nur irgendwie zur Darstellung zu bringen.“[3]

Burckhardt löste das Problem, indem er auf viele Bereiche des menschlichen Umfelds einging, die ein Zusammenleben des Menschen betreffen. So bezog er sich beispielsweise auf die Bereiche Politik, Vergangenheit, Wissenschaft, Geselligkeit, Feste, Identität und Religion.[4] Bis auf den Bereich der Kunst, den Burckhardt absichtlich weggelassen hat, weil er eine Darstellung der Kunstgeschichte der Renaissance plante[5], deckt die Aufteilung einen Großteil des menschlichen Zusammenlebens ab.

Da „Die Kultur der Renaissance in Italien“ in Thomas Manns Briefen häufig erwähnt wird[6], lehnt die Struktur der vorliegenden Arbeit an die Aufteilung Burckhardts an. Dabei werden die kulturellen Elemente Religion, Geschichte, Kunst, Politik und Wirtschaft berücksichtigt und dienen als Grundlage für eine Analyse von Thomas Manns Entwürfen jüdischer und ägyptischer Kulturen.

In dem Josephsroman gehen zwar zahlreiche Bedeutungsebenen, Motive und Zeitstrukturen durcheinander, erfahren jedoch auch immer eine Synthese zu einem höheren Ganzen. In einem Vergleich der kulturellen Konzepte wird auf dieses Syntheseprinzip eingegangen, das immer auch auf einen Totalitätsanspruch des Romans hindeutet. Diesbezüglich ist die Figur Joseph von entscheidender Bedeutung und wird unter dem Aspekt des Mittlertums näher charakterisiert und beleuchtet.

1.2 Positionen bisheriger Interpretationen

Die zahlreichen Arbeiten über Thomas Manns Josephsroman befassen sich in den meisten Fällen mit einzelnen Motiven oder Gesichtspunkten des Romans wie Humanisierung[7], Humor[8] oder Mythos[9]. Eine Analyse unter kulturwissenschaftlichen Aspekten gibt es jedoch nicht, obwohl häufig auf die komplexe Ausformulierung der beiden Lebensbereiche des Romans und ihre inhaltlichen Unterschiede verwiesen wird.

So bezieht sich zum Beispiel Jonas Lesser[10] in seiner Arbeit zum Werk Thomas Manns auf die beiden Welten des Joseph-Romans, die biblische und die ägyptische, und charakterisiert sie mit Blick auf die Rolle der Konfrontation. Dabei kommt er wie auch die vorliegende Arbeit zu dem Ergebnis, dass die beiden Konzepte sich nicht nur geographisch, sondern auch bezüglich ihrer zeitlichen Entwicklungsstufen unterscheiden und somit auch symbolischen Charakter haben. Lesser orientiert sich jedoch in erster Linie an der Figur des Joseph und stellt sie in den Mittelpunkt seiner Analyse. Die beiden Kulturkonzepte rücken dabei in den Hintergrund.

Sigrid Mannesmann[11] hingegen bezieht ihre Analyse des Joseph-Romans hauptsächlich auf die beiden konträren Kulturen. Obwohl sie ihre Dissertation zwar mit einem komplett anderen Argumentationsschwerpunkt verbindet, berührt sie die vorliegende Arbeit thematisch am engsten, da sie die unterschiedlichen Kollektive in den Mittelpunkt der Analyse stellt.

Mannesmanns’ Argumentation fußt auf der These, dass die agierenden Personen des Romans und ihr Weltverständnis auf den historischen Rahmen der jeweiligen Entwicklungsstufe beschränkt bleiben und nur den Möglichkeiten entsprechend agieren, die der Rahmen ihnen bietet. Das heißt, dass die Personen in ihre innere historische Sphäre eingebunden sind und diese nicht überschreiten. Mannesmann begründet ihre These in einer doppelten Zeitebene des Romans. Dabei steht die historische Zeitebene des Romangeschehens der Ebene des Erzählers gegenüber. Unterschiedliche Denkarten werden von dem Erzähler vermittelt und kritisch betrachtet. Der Aspekt der Geschichte steht dabei im Mittelpunkt und schließt aus, dass die Konstruktionen des Romans auf allgemeine menschliche Wesenszüge hinauslaufen.

Die vorliegende Arbeit basiert damit auf einem ähnlichen Argumentationsstrang wie dem von Mannesmann, kommt allerdings zu einem entgegengesetzten Ergebnis, da gerade durch eine Gegenüberstellung der beiden Lebenswelten eine höhere symbolische Ebene des Allgemein-Menschlichen sichtbar gemacht wird.

Auch bei Peter Mennicken[12] ist eine allgemein-menschliche Symbolik des Romans hervorgehoben. Mennicken arbeitet ein universelles Menschenbild Manns heraus und untersucht den Joseph-Romans nach den Aspekten eines Universalethos. Seine Hauptthese ist dabei, das Mann in seiner Faschismuskritik zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auf literarischer Ebene die Forderung einer globalen Weltordnung stellte, die sich im Namen der Humanität und Menschenrechte auf eine Universalkultur des Menschen bezog.

2. Der Kulturbegriff

2.1 Begriffsdefinition Kultur

Der Begriff Kultur ist auf Grund seiner Vielschichtigkeit und seines Facettenreichtums nicht eindeutig und vollständig definierbar. Vielmehr liegt es in seiner Natur, sich jeglicher Definition zu entziehen und Spielraum zu lassen für viele verschiedene Bedeutungen - je nach Intention der Person, die das Vorhaben einer Begriffsbestimmung in Angriff nimmt. Diese innere Natur des Kulturbegriffs bewirkt, dass er nur selten ohne Wertung auskommt und somit auch immer Möglichkeiten des Widerspruchs und der Umwertung bietet .

Auf wissenschaftlicher Ebene ist dieses Phänomen mittlerweile soweit ausgeartet, dass die einzelnen Kulturbegriffe zum Teil stark variieren und zudem nahezu unüberschaubar geworden sind. Das liegt vor allem daran, dass der Begriff Kultur Gegenstand aller Geisteswissenschaften ist und somit auch von vielen verschiedenen Disziplinen in Anspruch genommen wird und sich in ständiger Auseinandersetzung zwischen diesen befindet. Deutlich wird dies einerseits besonders an der Fülle der einzelnen Subdisziplinen, die jede für sich einen anderen Aspekt der Kultur beleuchten, wie zum Beispiel Kulturphilosophie, Kulturgeschichte, Kultursoziologie oder Kulturanthropologie. Andererseits sind auch die Kulturwissenschaften selbst interdisziplinär angelegt und stehen in engem Austausch mit anderen Wissenschaften wie beispielsweise der Literaturwissenschaft.

Ein Klassiker unter den Übersichtsdarstellungen des Kulturbegriffs ist Kroebers und Kluckhohns Werk „Culture“[13], das die Bedeutungsvielfalt des Kulturbegriffs besonders deutlich macht. Kroeber und Kluckhohn stellen eine Sammlung von 164 Definitionen von Kultur aus den verschiedenen oben angeschnittenen Disziplinen zusammen und ergänzen diese zudem mit anderen nicht definitorischen Aussagen über Kultur, so dass ein Überblick über nahezu 300 verschiedene Bedeutungen von Kultur gegeben wird. Um trotz dieser angeführten Problematik bezüglich einer Begriffsbestimmung von Kultur nicht den Überblick zu verlieren, erscheint es sinnvoll, an dieser Stelle auf eine altbewährte Methode der Annäherung an eine Thematik zurückzugreifen: Das Lexikon. Folgende Aussagen diverser Lexika und Wörterbücher zum Kulturbegriff scheinen erwähnenswert:

Der Begriff Kultur leitet sich etymologisch von dem lateinischen Substantiv cultura, in der Bedeutung von Landbau, Pflege des Körpers und/oder der Seele, ab und gehört somit zum lateinischen Verb colo, colui, cultus, was pflegen, (be)bauen, (be)wohnen, ehren bedeutet. Damit bezieht sich der Begriff zum einen auf den Bereich der Landwirtschaft (agricultura) und wird mit Pflege und Nutzbarmachung des Bodens, Anbau von Pflanzen etc. in Verbindung gebracht. Der andere Bereich meint in metaphorischer Übertragung auf den Menschen die Pflege und Ausbildung der leiblichen, seelischen und geistigen Fähigkeiten beziehungsweise Tugenden (cultura animi). So wie der Boden nur dann ertragreich ist, wenn man ihn bearbeitet und pflegt, kann auch der Mensch sich nur dann entfalten, wenn seine natürlichen Anlagen besonders gepflegt werden. Aus dieser metaphorischen Übertragung haben sich drei Grundbedeutungen von Kultur entwickelt, wobei auf die genaue Entwicklung und die Begriffsgeschichte an anderer Stelle näher eingegangen wird.

In der ersten Bedeutung kann mit Kultur all das in Zusammenhang gebracht werden, was der Mensch zum Ziel seiner Höherentwicklung hervorgebracht hat, das heißt die Gesamtheit dessen, was er der Natur hinzugefügt hat. Dies sind zum einen materielle und technische Grundlagen des Daseins wie zum Beispiel Kleidung, Obdach, Werkzeuge, Geräte etc., aber auch Leistungen, die auf den ersten Blick keinen praktisch-materiellen Zweck haben, sondern geistiger, künstlerischer und gestaltender Natur sind wie etwa Literatur, Bilder oder Statuen.

Die zweite Vorstellung von Kultur umfasst die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung oder Gemeinschaft. Alle kulturellen Erscheinungen sind hierbei sowohl raum- als auch zeitgebunden und haben sich immer stärker ausdifferenziert und an die wechselnden Naturgegebenheiten angepasst. Kultur ist demnach global gesehen als Vielfalt angelegt, da verschiedene Völker, je nach Umständen und Perspektiven, ihren Naturraum in unterschiedlicher Art und Weise zu einem für sie typischen Kulturraum gestalten. Als typische Lebensformen einer Gemeinschaft können beispielsweise Sitten, Brauchtum oder Werte genannt werden. Kulturen in diesem Wortsinn sind zum Beispiel die abendländische Kultur, die Kultur der Antike oder die Kultur der Maja.

Die dritte Bedeutung des Kulturbegriffs steht in engem Zusammenhang mit der „Pflege der Seele“ und umfasst die Vorstellung von Kultur als der Geisteshaltung eines Individuums oder einer Gemeinschaft. Kultur ist hierbei gleichbedeutend mit einer „verfeinerten Lebensart“ oder „Kultiviertheit“, die durch Bildung und Erziehung erreicht wird.[14]

Allein an diesen drei herausgestellten Bedeutungen des Kulturbegriffs wird deutlich, dass er ein sehr weites Bedeutungsfeld abdeckt. Um dieses griffiger zu machen, bedarf es Formen der Kategorisierung und Zerlegung der komplexen Strukturen. Häufig wird deshalb die Fülle des Stoffes nach einzelnen Kultursystemen gegliedert wie Politik, Staat, Recht, Wirtschaft, Religion oder Kunst. Oftmals werden aber auch die einzelnen Elemente von Kultur in überschaubare Teile geordnet und kategorisiert, um dann im Einzelnen immer weiter zerlegt und bestimmt zu werden. Diese Methode hat Klaus Peter Hansen gewählt, indem er den Kulturbegriff in drei Grundelemente zerlegt hat. Die Kulturtheorie Hansens soll deshalb in einem zweiten Schritt der Annäherung an den Kulturbegriff vorgestellt werden.

2.2 Der theoretische Ansatz von Klaus Peter Hansen

Hansens Einführung in das komplexe Thema der „Kultur und Kulturwissenschaft“[15] baut auf einer fächerübergreifenden Vorlesung auf, die der Frage nach dem Gegenstand der Kultur nachging. In der zweiten Ausgabe hat sich Hansen zum Ziel gesetzt, nicht nur eine Übersichtsdarstellung des Phänomens Kultur zu geben, so wie es in der ersten Ausgabe der Fall war, sondern auch eine Kulturtheorie zu präsentieren, „die sich auf der Höhe der Zeit befindet“[16] und somit auch Aspekte der Globalisierung und Interkulturalität mit einbezieht.

Besonders interessant und hilfreich sind jedoch auch weiterhin die präzisen Ausführungen zum Kulturbegriff und den einzelnen Elementen von Kultur. Sie fungieren als Wegweiser durch das Labyrinth der Kultur, was daran liegt, dass Hansen mit dem Mittel der Abstraktion die komplexen Strukturen des Begriffs aufbricht und systematisch zerlegt, so dass diese greifbar werden. Im Großen und Ganzen lässt sich Kultur in drei Teilaspekte gliedern, nämlich Standardisierung, Kommunikation und Kollektiv. Diese Grundbausteine bilden ein „kulturelles Dreigestirn“, in dem jede Komponente gleichwertig ist und zusammengesetzt das Phänomen Kultur gänzlich erfasst.

„Alle geistigen und materiellen Leistungen einer Kultur, die früher gerne zu ihrer Definition benutzt wurden, alle künstlerischen und technischen Errungenschaften lassen sich darauf zurückführen.“[17]

Hansen referiert hierbei zum größten Teil auf Definitionen des Standardwerks des Erfinders der modernen Ethnologie, Edward B. Tylor, der Kultur folgendermaßen definiert:

„Kultur ist im weitesten ethnographischen Sinne jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.“[18]

Hansen hat Tylors aufgezeigte Elemente von Kultur wie Wissen und Glauben auf drei heruntergebrochen und abstrahiert, so dass das Ganze der Kultur in dem oben genannten Dreigestirn zusammengefasst werden kann und folgende Definition von Kultur ergibt:

„Kultur umfasst Standardisierungen, die in Kollektiven gelten.“[19]

Standardisierungen können dabei als eine Art von Gleichverhalten der einzelnen Mitglieder eines Kollektivs gesehen werden, das jedoch in Bezug auf das Überleben funktionslos ist.[20] Dies bedeutet, dass der Aspekt der warmen Kleidung in kalten Gebieten nicht als Standardisierung gesehen werden kann, da diese zum Leben notwendig ist. Standardisierung würde nur dann vorliegen, wenn die kollektive Gemeinschaft ein modisches Bewusstsein entwickeln würde. Kultur beginnt erst, „wenn die Notdurft befriedigt ist“[21].

In einer Typologie stellt Hansen vier inhaltliche Kategorien von Standardisierungen vor, die an dieser Stelle kurz dargestellt werden sollen.

Standardisierungen der Kommunikation:

Die Verständigung der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft untereinander ist eine Grundvoraussetzung von Kultur, da es ohne Kommunikation weder Kollektive, noch die für sie typischen Standardisierungen geben könnte. Dieser Aspekt erklärt sich eigentlich von selbst, da Individuen in ständigem Informationsaustausch mit anderen leben und so ihre Bezüge zueinander herstellen. Zudem ist es wichtig für den Fortbestand der Kultur, dass die Informationen des Kollektivs auch außerhalb der gesetzten räumlichen und zeitlichen Dimension abrufbar sind und für nachfolgende Generationen nicht verloren gehen. In diesem Zusammenhang ist auch der von Jan Assmann geprägte Begriff des „kulturellen Gedächtnisses“ zu verstehen, der im Sinne von Tradition und Tradierung eine Speicherung des kollektiven Wissens für kommende Generationen bedeutet.[22] Eine solche Speicherung in Form von Büchern, Museen oder Ähnlichem ist auch nur möglich, wenn die Kommunikation einem Standard unterliegt, der von allen Mitgliedern des Kollektivs akzeptiert wird, wenn folglich alle die selbe Sprache sprechen.

Standardisierungen des Denkens:

Standardisierungen des Denkens bedeuten im übertragenen Sinne das soziale Wissen eines Kollektivs, demnach „den in einem Kollektiv vorhandenen Gesamtbestand an Ideen und Ideenkombinationen.“[23]

Ähnlich wie die Sprache Lebenswirklichkeit konstituiert, wird diese auch durch Denken in Form von Deutung erzeugt. Indem der Mensch denkt, erzeugt er durch Deutungen sein eigenes Wirklichkeitsgefühl. Demnach kann jeder Mensch für sich seine eigene Welt erschaffen, mit all ihren persönlichen und individuellen Regeln und Werten. Stimmen diese allerdings nicht mit den standardisierten Regeln und Werten des Kollektivs überein, so kommt es zu einem Konflikt. Da die Mehrheit der Wirklichkeitsdeutungen allerdings kulturell vorgeprägt sind, also einen Teil des kulturellen Gedächtnisses darstellen, wird das kollektive Leben der Individuen durch Standardisierungen des Denkens geregelt.

Standardisierungen des Empfindens:

Auch Gefühle und Empfindungen sind standardisiert, indem sie kulturell, historisch und sozial bedingt sind. Jedoch sind Diskussionen um wissenschaftliche Erklärungsansätze für dieses Phänomen noch nicht weit fortgeschritten, so dass sich keine eindeutigen theoretischen Belege anführen lassen.[24]

d) Standardisierungen des Verhaltens und Handelns:

Mit dem Begriff des Verhaltens tritt man in den Bereich der Kultur, da er als der „Höhepunkt kultureller Standardisierung“ eingeordnet werden kann. Das liegt vor allem daran, dass Aktionen des Verhaltens „hochritualisiert und eng an Situationen gebunden“ sind und meist unüberlegt erfolgen, ohne große Willensanstrengung.[25] So sind bestimmte Verhaltensmuster wie zum Beispiel der Handschlag zur Begrüßung eines Bekannten sozial gelernt und damit auch kulturabhängig. Mit Handlungen verhält es sich anders, da sie nur dann in den Bereich der Kultur gehören, wenn sie „auf geistige Inhalte (Werte, Weltanschauungen etc.) zurückgehen.“[26] Handlungen werden zu großen Teilen durch Standardisierung des Denkens und Empfindens ausgelöst, können allerdings auch wertneutral sein.[27] So können Menschen zum Beispiel sowohl handeln, um ein bestimmtes persönliches Ziel zu erreichen, andererseits aber auch durch eine situationsabhängige Routine motiviert sein wie häufig im Berufsalltag.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kultur auf Standardisierungen basiert, die in Kollektiven gelten und somit durch das kulturelle Dreigestirn Standardisierung, Kommunikation und Kollektiv vollständig erfasst werden kann. Diese drei Elemente von Kultur sind dabei völlig gleichwertig und bedingen sich gegenseitig, da alle geistigen und materiellen Leistungen sich darauf zurückführen lassen. Standardisierungen lassen sich inhaltlich kategorisieren nach solchen der Kommunikation, des Denkens, des Empfindens und des Verhaltens und Handelns und überdauern die zeitliche Dimension der Individuen mit Hilfe von Traditionen. Der Gesamtbestand an kollektivem Wissen, das so genannte „kulturelle Gedächtnis“ steht immer wieder für jede Generation zur Weitervermittlung bereit.

2.3 Die Geschichte des Kulturbegriffs

Betrachtet man die Entwicklung und Geschichte des Kulturbegriffs[28], wird deutlich, dass sie stark an die Geistesgeschichte der jeweiligen Zeit angeglichen ist und sich darin widerspiegelt. Wie bereits ausgeführt, geht das Wort Kultur zurück auf das lateinische Substantiv cultura und wurde sowohl auf den landwirtschaftlichen als auch auf den geistigen Bereich bezogen. Auffällig ist hierbei, dass im Mittelalter die doppelte Bedeutung nahezu gänzlich auf die landwirtschaftliche fachliche Bedeutung beschränkt wurde und erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts, mit dem Aufkommen der Verbalformen kultivieren und kultiviert, wieder in erweiterter Bedeutung vorgefunden wurde.[29] Ab dieser Zeit erlangte der Begriff Kultur im übertragenen Sinn immer mehr an Bedeutung und avancierte bereits nach kurzer Zeit zu einem Schlagwort. Besonders in der Zeit ab 1760 war der Kulturbegriff aus den geisteswissenschaftlichen Diskursen nicht mehr wegzudenken und wurde zum Sinn einer Gesittung des Menschen, die verbunden war mit der Idee der Persönlichkeitskultur beziehungsweise subjektiven Kultur. In diesem Zusammenhang spielte der Bereich der Erziehung, Bildung und Veredlung eine bedeutende Rolle, da die Gesittung des Menschen „ad culturam“[30] geführt werden sollte. Zusätzlich zu diesem subjektiven Kulturbegriff entstand auch ein objektiver, der mit einer gehobenen Seinsform in Verbindung gebracht wurde, wobei jedoch auch hier die sittliche Tat des Einzelmenschen ausschlaggebend war, so dass Erziehung und Bildung weiterhin als oberste Werte galten.[31]

Es ist auffällig, dass der Kulturbegriff der Goethezeit zwar als Schlagwort galt, jedoch relativ ungenau definiert war und viele verschiedene Facetten beleuchtete. Während das landwirtschaftliche Fachwort Kultur eine konkrete Bedeutung hatte, wurde die unbedenkliche Verwendung des übertragenen Kulturbegriffs auf Grund seines schwankenden Sinngehalts häufig kritisiert. Goethe zum Beispiel sprach von Kultur als „leerer Worthülse” und definierte wirkliche Kultur als Vollendung im Sittlichen, Ausdruck des Schönheitsgefühls und Reichtum an Kenntnissen.[32]

Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkte sich die Spaltung der Bedeutungsfelder in subjektive und objektive Kultur. Obwohl zwar der wertbeladene, subjektive Kulturbegriff der Goethezeit im Sinne einer Persönlichkeitskultur fortgeführt wurde, entstand zudem ein völlig wertfreier wissenschaftlicher Kulturbegriff. Dieser ging auf den dargestellten objektiven Kulturbegriff zurück, hatte jedoch den aktiven Sinn einer Kultivierung verloren und entsprach nun den Tendenzen der damaligen Geschichtswissenschaft, Völkerkunde und Philosophie.

Ausschlaggebendes Werk nach Herders geschichtsphilosophischen Ausarbeitungen war Jacob Burckhardts „Kultur der Renaissance in Italien“[33] von 1860, dass letztendlich den geschichtswissenschaftlichen Kulturbegriff einläutete. Zum ersten Mal wurde Kultur zeit- und raumbezogen angewandt und drückte einen einheitlichen, vergangenen oder gegenwärtigen Geschichtskörper aus. Burckhardt bezieht sich in seiner Abhandlung auf den spezifischen Geist eines Volkes, der sich in seinen jeweiligen kulturellen Einrichtungen, in Lebensformen, Wissenschaft, Sitte, Religion und Gebräuchen ausdrückt und sieht Kultur als einen seelischen Gesamtzustand einer Zeit und Nation. Burckhardt ebnete mit seinen Ausführungen den Weg für Untersuchungen der Verschiedenartigkeit zeitlich oder räumlich getrennter Kulturen, wie sie bis heute fortgeführt werden.[34]

Wichtig für die Entwicklung des Kulturbegriffs sind zudem Aspekte der Abgrenzung von anderen Begriffen, wie sie an Hand von Natur und Zivilisation im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Diese Abgrenzungen sind charakteristisch für die Problemgeschichte der Bedeutungsfindung des Kulturbegriffs und zeigen sehr deutlich, wie stark der Begriff von den Tendenzen der Zeit abhing.

2.4 Die Kultur–Natur–Antithese

Der Antithese von Kultur und Natur liegt ein simpler Aspekt zugrunde, indem sich die Welt auf diese beiden Komponenten beschränken lässt. Alles was nicht materiell ist, demnach nicht von Natur aus gegeben ist, ist vom Menschen erschaffen worden und lässt sich dem kulturellen Bereich zuordnen.[35] Neben dieser Natur-Kultur-Antithese, der eine mögliche Sichtweise der Welt zu Grunde liegt, ist noch eine zweite zu berücksichtigen, die in engem Zusammenhang steht mit geschichtsphilosophischen Modellen der Entwicklung der Menschheit. Die Modelle können als ein inneres Bedürfnis der Zeit der Aufklärung gesehen werden, da französische Philosophen wie beispielsweise Francois Voltaire oder Jean-Jacques Rousseau zur Kulturbetrachtung übergegangen waren und Kultur der Natur entgegensetzten.[36] Der Kerngedanke ist hierbei, dass der Mensch sich im Laufe seiner historischen Entwicklung von seinem Naturzustand entfremdet hat und in einen Kulturzustand übergetreten ist.

Es gibt bezüglich der Gegenüberstellung von Natur und Kultur im Grunde zwei Positionen: zum einen diejenigen, die den Kulturzustand als Fortschritt sehen, ihn somit als höher und wertvoller bewerten als den Naturzustand und zum anderen diejenigen, die der Entfremdung des Menschen von der Natur negativ gegenüberstehen und somit die Kultur unter die Natur stufen. Erstes wird als Kulturoptimismus und zweites als Kulturpessimismus beziehungsweise Kulturkritik bezeichnet. Der Kulturoptimismus setzt den Naturzustand des Menschen mit Barbarei und triebgesteuertem, rohem Verhalten gleich, aus dem der Mensch zu einem Kulturzustand fortschreitet und so in die gesellschaftliche Ordnung, staatliche Einheit und ein verfeinertes, vernunftgesteuertes Leben eintritt.[37] Mit Kulturpessimismus ist im Gegensatz dazu eine geistige Richtung gemeint, die den verlorenen Naturzustand des Menschen als unendlich wertvoller und höher erachtet, da der Mensch in diesem Stadium noch eins mit sich und der Natur war und zudem ein Gleichgewicht von Geist und Seele herrschte. Mit dem Eintritt in den Kulturzustand, der mit Zerrissenheit, Entfremdung und Einsamkeit gleichgesetzt wird, hat der Mensch seine ursprüngliche und natürliche Einheit unwiederbringlich verloren. Besonders Rousseau vertrat die Position eines „Zurück zur Natur“ und kritisierte so bestehende Verhältnisse und Wertvorstellungen der Aufklärung.[38]

Trotz vielseitiger Positionen pro oder contra Kulturzustand des Menschen wurden die Erkenntnisse der Menschheitsentwicklung zu einem wichtigen Bestandteil geisteswissenschaftlicher Diskurse des 18. Jahrhunderts.

2.5 Die Kultur-Zivilisation-Antithese

Das Begriffspaar Kultur und Zivilisation ist wie kein anderes bezeichnend für die europäische beziehungsweise deutsch-französische Auseinandersetzung um die politische und intellektuelle Führungsposition in Europa sowie die Ausbildung der jeweiligen nationalen Identität.[39] Der Begriff Zivilisation entwickelte sich in Deutschland fast gleichzeitig mit dem Begriff Kultur. Etwa um 1775 wurde er aus dem Französischen und Englischen übernommen und bedeutete Sittenverfeinerung und Entwicklung der Manieren. Damit war er zuallererst mit dem Kulturbegriff verbunden, da beide eine von der Aufklärung erkannte höhere Seinsweise des Menschen bezeichneten und somit Synonyme waren für eine Veredlung und Verfeinerung des Menschen oder der Menschheit.[40]

Auffällig ist, dass Kultur im deutschen Sprachgebrauch immer als ein höherer und wertvollerer Begriff erachtet wurde, was allmählich zu einer Aufspaltung und Sonderung der Begriffe in äußerlich und innerlich führte. Dabei galt Zivilisation als die äußerliche Abwandlung des kulturellen Seins, was soviel bedeutete wie ein äußerer Schliff oder die Manieren des Menschen. Kultur hingegen bedeutete in der Zweiteilung die Innerlichkeit des kulturellen Seins und wurde gleichgesetzt mit der Veredlung der Geisteskräfte eines Menschen, seiner künstlerischen Fertigkeiten und seines ästhetischen Lebensstils.[41]

Aus einer Aufspaltung der Begriffe wurde letztendlich eine scharfe Antithese, indem einerseits seitens der Wissenschaften, insbesondere der Philosophie, ein scharfer Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation postuliert wurde und andererseits die Technik immer größere Auswirkung auf das kulturelle Leben hatte.

„Nach dem ersten triumphalen Rausch über den technischen Fortschritt sah man plötzlich, dass das Bild der Landschaft durch Fabriken und Gruben völlig entstellt wurde, dass der Großstadtmensch in ein ständig wachsendes Häusermeer eingeengt war und dass die Naturentfremdung von Jahr zu Jahr wuchs. Damit ging Hand in Hand der aus der Technik entspringende materialistische und utilitaristische Geist und das seelenlose, mechanisierende und nivellierende Getriebe, wie es sich aus dem täglichen Zusammensein mit der Maschine entwickelte. Was lag näher, als diese negativen Auswirkungen auf das Wort Zivilisation zu verlagern, das schon früher zum Äußeren, Materiellen und Naturwidrigen geneigt hatte. [...] Deshalb beschränkte sich in der Periode nach 1880 der Kulturbegriff nun endgültig auf rein positive Werte wie Kunst, Literatur, Wissenschaft, Religion, Bildung und Unterricht, also auf die geistig-seelischen Bereiche des Lebens.“[42]

Mit Zivilisation wurden dagegen äußere und rein zweckhafte Bereiche verbunden. Zivilisation galt als das Seelenlose, rein Intellektuelle, Technisch-Mechanische, Massenhafte und Wirtschaftliche.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden die Begriffe Kultur und Zivilisation plötzlich auch in die politischen Diskussionen einbezogen und avancierten zum Inbegriff der Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und den Westmächten. Daher trat auch besonders in der Presse der Weltkrieg immer häufiger unter dem Begriff eines Kulturkriegs auf. Die Westmächte stellten dabei die Zivilisation in den Vordergrund und kämpften für die Sache des modernen, demokratischen Zivilisationsideals, womit sie Humanität und Freiheit verbanden. In Wirklichkeit bekämpften sie aber die Kultur, „die ihnen als Ausdruck deutscher Überheblichkeit, als mittelalterlich und militaristisch erschien.“[43]

Auf Seiten der Deutschen entwickelte sich dabei natürlich eine entgegengesetzte Strömung. Sie werteten den Kulturbegriff noch weiter auf und machten ihn zum Inbegriff des Deutschen, Wahren und Innerlichen. Zivilisation wurde dagegen mit dem Fremdländischen, Vernünftelnden, Politisch-Kämpferischen und Antideutschen verbunden. Der „Kulturkampf“ wurde auf mehreren Ebenen ausgetragen, so auch auf literarischer Ebene, wobei besonders Thomas Mann zu Beginn des Krieges leidenschaftlich für Deutschland Stellung nahm.[44]

2.6 Aspekte des Kulturbegriffs Thomas Manns

In dem 1927 veröffentlichten Essay „Kultur und Sozialismus“ definiert Thomas Mann den Begriff Kultur:

„Das Wort „Kultur“ ist seiner Herkunft nach mit jenem anderen, das sich von ihm nur durch einen Buchstaben der Endung unterscheidet, dem Worte „Kultus“. Beide bedeuten „Pflege“, dieses im Sinne der Verehrung und rituellen Betreuung der religiösen Heilsgüter, jenes in dem einer vom Religiösen gelösten und rein humanen ästhetisch-moralischen Verfeinerung, Veredlung, Steigerung des innerlich Individuellen, welcher man eine mittelbar weltfördernde Wirkung zuschreibt, ohne dass es unmittelbar auf eine solche abgesehen wäre. Eben hierdurch, nämlich durch die Unwillkürlichkeit und persönliche Unvorgesehenheit seiner über- und außerindividuellen Wirkungen, tritt ein Element des Wunderartigen und Mystischen in den Kulturbegriff ein, das seinen religionsnahen Charakter aufs neue deutlich macht. Denn im Verhältnis zum eigentlich Kultischen ist „Kultur“ zwar ein profaner Begriff; zusammengehalten aber mit dem der „Zivilisation“ , der gesellschaftlichen Gesittung also, erweist er seinen religiösen, das heißt: seinen wesentlich ungesellschaftlichen, egoistisch-individualistischen Charakter.“[45]

In diesem kurzen Abschnitt werden sehr viele Aspekte des Kulturverständnisses Thomas Manns deutlich: In erster Linie sieht Mann in Kultur ein humanes, ästhetisch-moralisches Phänomen und begreift es ganz im Sinne der Goethezeit, also als Veredlung und Verfeinerung der inneren und geistigen Kräfte des Menschen.[46] Kultur und Religion sind dabei begrifflich miteinander verbunden, da sie einerseits innere und geistige Phänomene sind und andererseits einen individualistischen Charakter und das Phänomen der Gemeinschaftlichkeit miteinander in Verbindung bringen.

Der religiöse und der kulturgläubige Mensch denken in erster Linie an das eigene Seelenheil und daran, dem „dem Ganzen“ oder der Gemeinschaft zu nützen. Beide wirken in einer gemeinschaftlichen Form. Das religiöse Ich wirkt in der Gemeinschaft und das kulturelle Ich in der Gesellschaft. Wichtig sind hierbei, neben der Individualität, vor allem die Aspekte der Innerlichkeit und Geistigkeit, die für Mann eine bedeutende Rolle spielen, da sie voll und ganz das Kulturerbe der Deutschen, nämlich die Welt des Geistes, der Kunst und der Kultur verkörpern. Diese Welt steht im Gegensatz zu jener äußeren, objektiven und rationalen: der Welt der politisch-wirtschaftlichen Interessen.

Damit ist ein weiterer Aspekt von Manns Kulturverständnis angesprochen, der in dem oben genannten Zitat ebenfalls erwähnt wird, nämlich das Verhältnis von Kultur und Politik beziehungsweise Kultur und Zivilisation. Für den anfangs unpolitischen Thomas Mann[47] waren Innerlichkeit und Geistigkeit, als Attribute des unpolitisch-aristokratischen Begriffs der Kultur, der Inbegriff der deutschen Identität. Allein im deutschen Bürgertum sah Mann deutsche Bildung und Kultur verkörpert - und diese galt es in der Zeit des Ersten Weltkriegs gegen die Politisierung des Volkes zu verteidigen. Der Krieg wurde immer mehr auch zu einem ideologischen Krieg beziehungsweise einem Kulturkrieg, bei dem der Kulturbegriff im Mittelpunkt der Kriegsideologie stand, so wie der politisch-demokratische Begriff der Zivilisation im Mittelpunkt der „feindlichen“ Ideologie stand.

Die Antithese der Begriffe Kultur und Zivilisation erlangte für Mann dann zunehmend politische Bedeutung und der Krieg wurde zu einem Kampf um die nationale Existenz Deutschlands, die es zu verteidigen galt.[48]

Im Zweiten Weltkrieg verstärkte sich die politische Sichtweise Manns, da er nicht nur die deutsche Kultur sondern die Menschheitskultur in Gefahr sah und nicht mehr tatenlos zusehen wollte. Die Duldsamkeit hatte im Namen der Humanität ein Ende und Mann verfasste zahlreiche Essays im Sinne einer Faschismuskritik, wobei er sich auf die Einheit und Ganzheit der Kultur berief.[49]

Zusammenfassend kann man sagen, dass Kultur für Mann in erster Linie Innerlichkeit, Geistigkeit und Ganzheit bedeutet.

3. Analyse der Entwürfe jüdischer und ägyptischer Kulturen

3.1 Der Stamm Israel – Ein Konzept jüdischer Kultur

In den ersten beiden Teilen von Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“,

„Die Geschichten Jaakobs“ (1933) und „Der Junge Joseph“ (1934), beschreibt Thomas Mann das Leben des Stammes Israel. In erster Linie geht es hier um die Lebensgeschichte Jaakobs und die Kindheit seines Sohnes Joseph, jedoch werden auch Episoden aus der Zeit Abrahams und Isaaks eingestreut, so dass der Leser einen umfassenden Überblick über die Anfänge, Lebensverhältnisse und Kultur des altjüdischen Volkes bekommt.

Als Quellen für die epische Ausbreitung des biblischen Stoffes dienten Thomas Mann vor allem kulturgeschichtliche Werke zum Alten Orient wie zum Beispiel Eduard Meyers „Die Israeliten und ihre Nachbarstämme“[50], Bruno Meissners „Babylonien und Assyrien“[51] und Immanuel Benzingers „Hebräische Archäologie“[52]. Die Interpretation der orientalischen Mythologie wurde vor allem angeregt durch Alfred Jeremias’ „Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients“[53].

Trotz der zahlreichen Studien zur Kulturgeschichte des Alten Orients und der häufig essayistischen und teilweise wissenschaftlichen Schreibweise Manns, soll der Roman jedoch nicht als „historisch fundierter Roman und kulturgeschichtliches Panorama“ verstanden werden, sondern als ein Werk der Phantasie, das „genossen und nicht studiert werden möchte“[54].

In Bezug auf die Vorgehensweise Manns fällt zudem auf, dass alle Geschehnisse nicht wie in der Bibel oder in den einzelnen Kulturgeschichten, als Fakten erzählt werden, sondern durch die individuellen psychologischen Motive der einzelnen Charaktere Begründung finden. Damit treten die handelnden Personen in den Vordergrund des von Mann entworfenen Konzepts altjüdischer Kultur und erhalten eine Tiefendimension, die im Gegensatz steht zu der Holzschnittartigkeit der biblischen Figuren. Der Mensch rückt in den Vordergrund des Geschehens und nicht das Geschehen selbst.

Im Folgenden soll Thomas Manns Entwurf jüdischer Kultur für die ersten beiden Teile der Tetralogie aufgezeigt und anhand der einzelnen kulturellen Elemente Religion, Geschichte, Kunst, Politik und Wirtschaft analysiert werden.

3.1.1 Der Aspekt der Religion:

a) Religion als Lebensform:

Das Leben der Stammesmitglieder wird dominiert von dem Glauben an den einen und einzigen Gott. Gott ist der Bezugspunkt des gesamten Handlungsgeschehens, er ist die zentrale Position im Leben der Sippe. Hinsichtlich einer Analyse und Darstellung der im Roman entworfenen altjüdischen Kultur wird damit der Aspekt der Religion zum Schlüsselpunkt und wichtigsten Darstellungskriterium.

Die Religion des Stammes Israel bildet gleichzeitig auch ihre kulturelle Identität und Existenz und lässt die Familienmitglieder zu Mitgliedern eines Kollektivs werden. Indem sich Abraham, der Urvater des Stammes als erster zum monotheistischen Glauben bekannt hatte, distanzierte er sich geistig und auch lokal von seiner babylonischen Kultur und wurde dadurch zum Stifter einer ganz neuen kulturellen Gemeinschaft. Die Besonderheit dieser neuen Vereinigung ist die Idee des monotheistischen Glaubens, der die Stammesmitglieder von diesem Zeitpunkt an über Generationen verbindet und gleichzeitig auch von den umliegenden babylonischen Kulturgemeinschaften trennt. Trotz der „Glaubensbeziehungen“, die beispielsweise Jaakob zu den benachbarten Städten unterhält, indem er Reisende beherbergt und ihnen vorurteilslos begegnet, sind die Stammesmitglieder gezwungen, sich auf Grund ihres Glaubens von dem Umland abzugrenzen und zu behaupten.

In dem Kapitel „Der Mann Jebsche“ (52 ff.) wird der Unterschied zwischen dem Leben der Sippe und dem des Umlands mit seinen naturheidnischen Landesreligionen besonders deutlich. Hier wird erzählt, dass Jaakob einen Reisenden in seinem Haus bewirtet und beherbergt. Während der reisende Mann Jebsche mit einem kleinen Götzenbild seiner Schutzherrin Aschtarti für die gewährte Unterkunft danken möchte, hat Jaakob für die barbusige Tonfigur wenig übrig und verwickelt ihn in ein religiöses Gespräch über seinen Glauben an den einzigen Gott, was wiederum bei Jebsche auf geringes Verständnis stößt. Es wird deutlich, dass Jaakob und Jebsche, der in diesem Fall das abergläubische Umland repräsentiert, in Glaubensfragen zwar meilenweit auseinandergehen, sich jedoch vorurteilslos und friedlich begegnen, weil sie abgegrenzt voneinander leben.

Der monotheistische Glaube der abseits lebenden Sippe wird somit zum Grundstein einer neuen kulturellen Identität und zur Basis einer neuen Lebensform, da die ursprünglichen babylonischen Sitten abgelegt wurden und man sich nun von ihnen abgrenzte. Entscheidend ist hierbei, dass die Religion des Stammes nicht nur als Element ihrer Kultur betrachtet werden kann, sondern als Existenzgrundlage, ohne die eine neue Gemeinschaft nicht möglich wäre.

In seiner Schrift „Die Zukunft einer Illusion“ hat sich Sigmund Freud mit dem Religionsverständnis des Menschen auseinandergesetzt und dabei allgemein formuliert, Religion sei ein „System von Lehren und Verheißungen, das ihm [dem Menschen] einerseits die Rätsel dieser Welt mit beneidenswerter Vollständigkeit aufklärt, andererseits ihm zusichert, dass eine sorgsame Vorsehung über sein Leben wachen und etwaige Versagungen in einer jenseitigen Existenz gutmachen wird.“[55]

[...]


[1] Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag. 1964. Im Folgenden werden Zitate aus dem Roman mit Seitenzahlen im Text versehen.

[2] Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. (1860). 1985.

[3] Ebd.: S.: 3.

[4] Vgl. Ebd.. Bei Burckhardt heißen die einzelnen Elemente „Der Staat als Kunstwerk“, „Die Wiedererweckung des Altertums“, „Die Entdeckung der Welt und des Menschen“, „Die Geselligkeit und die Feste“, „Entwicklung des Individuums“ und „Sitte und Religion“.

[5] Ebd.: S.:3

[6] Vgl. Thomas Mann an Heinrich Mann am 17.12.1900 oder am 08.01.1901; Thomas Mann an Hilde Distel am 14.03.1902. In: Mann, Erika: Thomas Mann Briefe I. 1889-1936. 1979. S.: 19, 23, 31.

[7] Vgl. Jäger, Christoph: Humanisierung des Mythos – Vergegenwärtigung der Tradition. 1992.

[8] Hamburger, Käte: Der Humor bei Thomas Mann. Zum Joseph-Roman. 1965.

[9] Vgl. Berger, Willy R.: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“.1971.

[10] Lesser, Jonas: Thomas Mann in der Epoche seiner Vollendung. 1952.

[11] Mannesmann, Sigrid: Thomas Manns Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ als Geschichtsdichtung. 1971.

[12] Mennicken, Peter: Für ein ABC des Menschenbenehmens. 2002.

[13] Kroeber, Alfred L. / Kluckhohn, Clyde.: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. 1952.

[14] vgl.: Metzler: Ästhetische Grundbegriffe.2001: Kultur; Meyers Enzyklopädisches Lexikon.1975: Kultur; Bernsdorf, Wilhelm: Wörterbuch der Soziologie.1969: Kultur; Brockhaus Enzyklopädie.1970: Kultur; Mittelstraß, Jürgen (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie.1984: Kultur; Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache.1999: Kultur.

[15] Hansen, Klaus Peter: Kultur und Kulturwissenschaft. 2000.

[16] Ebd.: S.6.

[17] Ebd.: S.42.

[18] Tylor, Edward B.:Primitive Culture.1871, S. 1.

[19] Hansen, Klaus Peter: Kultur und Kulturwissenschaft. 2000, S. 39.

[20] Ebd.: S. 43.

[21] Ebd.: S.60.

[22] Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. 2002. Auf die Kulturtheorie Assmanns soll im Folgenden näher eingegangen werden. An dieser Stelle soll daher eine kurze Bestimmung des kulturellen Gedächtnisses genügen.

[23] Ebd.: S. 90.

[24] Ebd.: S. 118.

[25] Ebd.: S. 123.

[26] Ebd.

[27] Ebd.: S. 127.

[28] Vgl. Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. Bd. 3: Kultur und Zivilisation. 1967, S. : 288-292.

[29] Pflaum, Michael: Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen. In: Ebd.. S.: 289.

[30] Ebd.: S.: 290.

[31] Ebd..

[32] Ebd..

[33] Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. (1860). 1985.

[34] Europäische Schlüsselwörter. Wortvergleichende und wortgeschichtliche Studien. Bd. 3: Kultur und Zivilisation. 1967, S. 291.

[35] Hansen. 2000, S. 19.

[36] Pflaum, Michael: Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen. S.: 290.

[37] Ebd.: S.: 289.

[38] Vgl. Helferich, Christoph: Geschichte der Philosophie.2001.S. 220ff.

[39] Vgl. Pflaum, Michael: Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen. S.327.

[40] Ebd. S.: 293.

[41] Vgl. Ebd. S.: 294 f. ( Immanuel Kant war der erste, der einen deutlichen Gegensatz in diese Begriffe legte, wobei er sie jedoch zusätzlich durch den Begriff der Moralität ergänzte. Zivilisierung hatte dabei den geringsten Wert, da sie nur die äußere Seite des menschlichen Lebens ausdrückte, Kultur ist durch Kunst und Wissenschaft geprägt und eng mit dem hohen Begriff der Moralität verbunden.).

[42] Ebd.: S. 313.

[43] Ebd. : S. 327.

[44] Vgl.: Beßlich, Barbara: Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890-1940. 2000.

[45] Mann, Thomas: Kultur und Sozialismus. 1927. In: Kurzke / Stachorski: Thomas Mann Essays.

Bd. 3: Ein Appell an die Vernunft 1926 – 1933. S. 53-63.

[46] Zum Kulturbegriff der Goethezeit vgl. S. 14 der vorliegenden Arbeit.

[47] Die Entwicklung Thomas Manns vom konservativen Unpolitischen bis hin zu seiner Hinwendung zur Demokratie ist in vielen Einzeluntersuchungen dokumentiert worden. Vgl. hierzu z. B. Sontheimer, Kurt: Thomas Mann und die Deutschen. 1961.

[48] Eine Zusammenfassung der Zivilisationskritik in Deutschland und Thomas Manns Stellung im Kulturkrieg gibt: Beßlich, Barbara: Wege in den Kulturkrieg. Zivilisationskritik in Deutschland 1890 – 1914. 2000. Hier wird unter anderem auch Manns Essay „Gedanken im Kriege“ auf die Antithese der Begriffe Kultur und Zivilisation hin untersucht.

[49] Mann, Thomas: Das Problem der Freiheit. 1939. In: Kurzke, Hermann/Stachorski, Stephan: Thomas Mann. Essays. Bd. 5: Deutschland und die Deutschen. 1938-1945. S.: 54 ff..

[50] Meyer, Eduard: Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen. 1906.

[51] Meissner, Bruno: Babylonien und Assyrien. 1920.

[52] Benzinger, Immanuel: Hebräische Archäologie. 1927.

[53] Jeremias, Alfred: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients. Handbuch zur biblisch-orientalischen Altertumskunde. 1916.

[54] Wysling, Hans (Hg.): Thomas Mann. Selbstkommentare: Joseph und seine Brüder. 1999. S.:181.

[55] Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur (1930). Frankfurt am Main: Fischer

Taschenbuchverlag. 1972. S. 72.

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Entwürfe jüdischer und ägyptischer Kulturen in Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder"
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Fakultät für Philologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
114
Katalognummer
V22619
ISBN (eBook)
9783638259064
Dateigröße
677 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Thomas Manns Roman &quot,Joseph und seine Brüder&quot, entführt den Leser in die Brunnentiefe der Zeiten. Es geht hinab in die Ursprünge der menschlichen Kultur. Meine Arbeit verfolgt die Spuren von Manns entworfenen kulturellen Konzepten und beleuchtet Kultur aus mehreren Blickwinkeln. Es werden sowohl literatur- und kulturwissenschaftliche Aspekte behandelt als auch philosophische und anthropologische.
Schlagworte
Entwürfe, Kulturen, Thomas, Manns, Roman, Joseph, Brüder
Arbeit zitieren
Johanna Okroskowitz (Autor:in), 2003, Entwürfe jüdischer und ägyptischer Kulturen in Thomas Manns Roman "Joseph und seine Brüder", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22619

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