Der Völkermord an den Armeniern in den Romanen von Werfel, Hilsenrath, Mangelsen und Balakian


Magisterarbeit, 2002

138 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Der historische Roman als Teil der Erinnerungskultur
2.1. Zum Begriff des historischen Romans
2.2. Zur Aufgabe des historischen Romans
2.3. Literatur und Erinnerung

3. Vorgehensweise

4. Geschichte des armenischen Volkes
4.1. Vorgeschichte und Nationenbildung
4.1.1. Frühgeschichte
4.1.2. Christianisierung
4.1.3. Behauptungsversuche und Unterwerfung
4.2. Armenien unter der Herrschaft der Osmanen
4.2.1. Kampf um die Vorherrschaft
4.2.2. Minderheit im eigenen Land
4.2.3. Die Stellung der Armenier im Osmanischen Sultanat
4.2.3.1. Rechtliche Stellung
4.2.3.2. Wirtschaftliche und soziale Stellung
4.2.4. Das Image der Armenier
4.2.5. Die Armenische Frage
4.2.5.1. Reformversuche im Osmanischen Reich
4.2.5.2. Nationales Erwachen und ethnische Spannungen
4.2.5.3. Wendepunkt Berliner Kongress
4.2.6. Die systematischen Armenierverfolgungen ab 1893
4.2.6.1. Die Armenierpolitik Abdul Hamids
4.2.6.2. Exkurs: Kurden und Armenier
4.2.6.3. Die Massaker an der armenischen Bevölkerung
4.2.7. Armenier und Jungtürken

5. Der Völkermord
5.1. Einführung
5.2. Gründe des Völkermordes
5.3. Der Ablauf des Völkermordes
5.4. Der Völkermord und die Folgen

6. Franz Werfel: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“
6.1. Zum Autor
6.2. Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von „Die 40 Tage des Musa Dagh“
6.3. Zum historischen Hintergrund
6.4. Ästhetische Konzeption und literarische Adaption
6.5. Thematische Aspekte
6.5.1. Einführung
6.5.2. Darstellung der politischen Zusammenhänge des Völkermordes
6.5.3. Darstellung der Gräuel
6.5.4. Darstellung der Kultur und Menschen
6.6. Schlussbemerkung

7. Edgar Hilsenrath: „Das Märchen vom letzten Gedanken“
7.1. Zum Autor
7.2. Motivation und Entstehungsgeschichte
7.3. Ästhetische Konzeption und literarische Adaption
7.4. Thematische Aspekte
7.4.1. Einführung
7.4.2. Darstellung der geschichtlichen und politischen Aspekte des Völkermords.
7.4.3. Darstellung der Kultur und Menschen
7.4.4. Darstellung der Gräuel
7.5. Schlussbetrachtung

8. Jochen Mangelsen: „Ophelias lange Reise nach Berlin“
8.1. Zum Autor
8.2. Motivation und Entstehungsgeschichte
8.3. Ästhetische Konzeption und literarische Adaption
8.4. Thematische Aspekte
8.4.1. Einführung
8.4.2. Darstellung der geschichtlichen und politischen Aspekte des Völkermords.
8.4.3. Darstellung der Kultur und Menschen
8.4.4. Darstellung des Völkermordes und der Gräuel
8.5. Schlussbetrachtung

9. Peter Balakian: „Die Hunde vom Ararat“
9.1. Einführung
9.2. Zum Autor und Motivation
9.3. Ästhetische Konzeption und literarische Adaption
9.4. Darstellung des Völkermordes
9.5. Exkurs: Armenische Diaspora zwischen Gedenken, türkischer Leugnung und kollektiven Bewusstsein
9.6. Schlussbetrachtung

10. Fazit

11. Literaturverzeichnis

12. Anhang
12.1. Glossar
12.2. Landkarte von Armenien

1. Einleitung

Thema der vorliegenden Magisterarbeit ist der Völkermord an den Armeniern 1915- 1916 und seine Aufarbeitung in vier nicht- zeitgenössischen Romanen. „La question armenienne n´existe plus.“1

Diese Feststellung traf Talaat Pascha, der osmanische Innenminister, am 31. August 1916 gegenüber dem deutschen Botschaftsvertreter Fürst Hohenlohe- Langenburg. Aus seiner Sicht, knapp 16 Monate nach Beginn der Armenierverfolgungen im Osmanischen Reich, eine durchaus richtige Einschätzung: War doch die armenische Bevölkerung fast vollständig deportiert und ausgerottet worden und die westarmenische Bevölkerungsgruppe im Osmanischen Reich faktisch nicht mehr existent. In den Augen vieler Nichttürken ist die armenische Frage keineswegs endgültig gelöst. Neben den Diaspora- Armeniern haben sich viele westliche Intellektuelle dieses Themas angenommen und daran gearbeitet, das an den Armeniern begangene Unrecht nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In Deutschland versuchte schon während des Ersten Weltkrieges der evangelische Pfarrer Johannes Lepsius, behindert durch die Militärzensur, publizistisch auf das Morden und die Mitverantwortung Deutschlands aufmerksam zu machen. In der Bundesrepublik engagierte sich u.a. auch Ralph Giordano für die Sache der Armenier.

Die Monstrosität der Verfolgung und die bis dahin schier unglaubliche Opferzahl von bis zu 1,5 Millionen2 Menschen drängt aber nicht nur nach publizistischer bzw. historischer, sondern auch nach literarischer Aufarbeitung dieses Völkermordes. Insbesondere weil bis heute von türkischer Seite nicht nur der Genozid, sondern auch die Existenz einer armenischen Kultur auf türkischem Boden hartnäckig bestritten wird. Gerade die Tatsache, dass dieses Verbrechen bis heute nicht wirklich in das Bewußtsein der breiten Weltöffentlichkeit gedrungen ist, und die sich aufdrängende Parallele zum jüdischen Holocaust machen diese Thematik so interessant. Wie ist es möglich, dass eines der grausamsten Menschheitsverbrechen so wenig Beachtung findet? Wie konnte es am Rande von Europa zu solch einem Völkermord kommen und wie ist es möglich, dass sich die türkische Regierung und dortige Öffentlichkeit dieser Tatsache vollständig verschließt? Neben der traditionellen Historiographie gibt es auch für die Literatur die Möglichkeit, sich mit geschichtlichen Ereignissen in Form von historischen Romanen zu befassen. Im Rahmen dieser Arbeit werden daher vier Romane untersucht, die sich mit dem Thema „Völkermord an den Armeniern“ beschäftigen. Der Völkermord an den Armeniern ist bisher nur von relativ wenigen Romanciers bearbeitet worden.3 Den Anfang machte 1933 Franz Werfel mit „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Dieser Roman ist bis heute wohl das bekannteste literarische Werk zu diesem Thema. Erst Ende der achtziger Jahre kam mit Edgar Hilsenraths „Das Märchen vom letzten Gedanken“ (1989) erneut ein Armenienroman auf den deutschen Buchmarkt. Im Zuge der in den letzten Jahren zunehmenden Erinnerungsliteratur erschienen fast zeitgleich Jochen Mangelsens „Ophelias lange Reise nach Berlin“ (2001) und Peter Balakians „Die Hunde vom Ararat“ (2000). Diese eben genannten Romane wurden ausgewählt, weil die vier Autoren jeweils eine eigene Herangehensweise an das historische Ereignis haben.

In der vorliegenden Arbeit wird der Frage nachgegangen, wie die Autoren in ihren Romanen den Völkermord literarisch bewältigen. Des Weiteren soll geprüft werden, welchen Beitrag Literatur zur Aufarbeitung historischer Ereignisse und zur Bewahrung einer Erinnerungskultur leisten kann und ob das am Beispiel des Genozids im Osmanischen Reich gelingt. Oder sollte Winston Churchill mit seiner Prophezeiung „Die Geschichte wird dort vergeblich das Wort ,Armenien’ suchen.“4 Recht behalten? Was war das für ein Volk, dass Jahrhunderte lang dem schwersten Assimilierungsdruck standgehalten hat und dann ausgerottet wurde? Wie ist der Vernichtungswille der Türken zu erklären? Um die Ursachen des Genozids verstehen zu können, muss das geistig- kulturelle Klima im Osmanischen Reiches betrachtet werden. Daher wird in dieser Arbeit die ausführliche Beschreibung der historischen Zusammenhänge und Abläufe den Literaturanalysen vorangestellt. Danach wird die Darstellung armenischer Kultur und des armenischen Völkermordes in den Romanen untersucht.

Volkes, (1930) Heidelberg 1980, S. 312 und Yves Ternon, Der verbrecherische Staat, Hamburg 1996, S. 151 Zunächst jedoch soll in dem nachfolgenden Kapitel der Frage nachgegangen werden, was für das Genre „Historischer Roman“ kennzeichnend ist. Im Rahmen dessen soll analysiert werden, was Romanliteratur innerhalb der Erinnerungskultur zu leisten vermag und ob sie für die Darstellung von Geschichte überhaupt geeignet ist.

2. Der historische Roman als Teil der Erinnerungskultur

2.1. Zum Begriff des historischen Romans

Das zentrale Problem jeder Gattungsbestimmung liegt darin, Merkmale zu finden, die den literarischen Werken unabhängig von ihrer sonstigen Heterogenität in gleicher Weise zugesprochen werden können. Im „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“ wird unter einem historischen Roman „eine umfangreiche erzählende Dichtung, die beglaubigte geschichtliche Persönlichkeiten oder Tatsachen zum Gegenstand hat“5, verstanden. Ralph Kohpeiß benennt als zentrale Definitionselemente die Fiktionalität und ästhetische Verfasstheit, die den historischen Roman von der Geschichtswissenschaft abgrenzt, sowie die historische Referenz, die ihn von allen anderen Romantypen unterscheidet:

„Der historische Roman ist ein Sprachkunstwerk, dessen Spezifikum darin liegt, dass es historisch authentische Personen und/oder Tatsachen in einen literarisch- fiktionalen Rahmen integriert.“6

Alle vier zu untersuchenden Romane stellen die Geschichte des Völkermordes an den Armeniern dar. Dieser kleinste gemeinsame Nenner macht es möglich, die vier Werke dem „Objektbereich Historischer Roman innerhalb der Großgattung Roman“7 zuzuordnen. Unterhalb dieser allgemeinen Bestimmungsebene kommt Kohpeiß zu weiteren Differenzierungen, die historische Romane in historische Kriegs- , Künstler- , Familien- und Bildungsromane unterteilen. Des Weiteren beschreibt er die Möglichkeit, den Begriff „Historischer Roman“ unter Rekurs auf das Verhältnis des Autors bzw. der potentiellen Leser zu der im jeweiligen Werk dargestellten Zeit zu präzisieren und dabei zwischen Zeitroman und historischen Roman zu unterscheiden.8 Dabei werden solche Romane als historisch klassifiziert, die eine temporale Distanz zwischen Romanpublikation und Ereignis von zwei Generationen, d.h. mindestens sechzig Jahren, aufweisen.9 Der Tatbestand, dass nicht Selbsterlebtes und Erinnertes dargestellt, sondern eine über Quellen und historische Literatur rekonstruierte Welt fiktional erfasst und vermittelt wird, gilt in diesem Zusammenhang als Genrespezifikum. Kriterium für einen historischen Roman wäre demnach die Annahme, „dass zum Zeitpunkt der Publikation weder für den Autor noch für einen Leser aufgrund des Lebensalters potentiell die Chance eines direkten, auf eigene Erfahrungen rekurrierenden Zugangs zur dargestellten Zeit bestünde.“10 Viele Romane, die gemeinhin als historisch betrachtet werden, würden damit als Zeitromane gelten. So zum Beispiel auch Franz Werfels „Vierzig Tage des Musa Dagh“11, der ja nur 17 Jahre nach den Geschehnissen erschienen ist, aber ganz eindeutig ein historisches Geschehen zum Thema hat. Das Bemühen, auf theoretischer Ebene zu einer überzeugenden Abgrenzung zwischen historischen Romanen und Zeitromanen zu gelangen, scheint daher zum Scheitern verurteilt. Für die vorliegende Arbeit ist es auch weniger bedeutsam, ob es sich nun um einen historischen Roman im engeren Sinn oder um ein zeitgeschichtliches Werk handelt. Für den Zweck der inhaltlichen Romananalyse, welche die Romane nach ihrer historischen Faktizität und der Art der Darstellung des Völkermords untersucht, genügt es im Rahmen dieser Arbeit, die oben geschilderte allgemeine Bestimmungsebene, die die Werke durch ihren historischen Bezug und literarisch- fiktionale Anteile als historische Romane klassifiziert, als Grundlage zu nehmen.

2.2. Zur Aufgabe des historischen Romans

Was kann der historische Roman im Gegensatz zur herkömmlichen Geschichtswissenschaft leisten? Die Vertreter der historischen Fachwissenschaft standen der Flut historischer Romane, die während der Weimarer Republik und besonders in den dreißiger Jahren einsetzte, skeptisch gegenüber. Sie hielten diese meist biographischen Romane vor allem in ihrem Umgang mit der Geschichte für unseriös und verfälschend.

Rekurrierend auf die Arbeitsmethoden und das Objektivitätsideal des Historismus kritisierten die Geschichtswissenschaftler neben den Detailfehlern vor allem die Verfahrensweise, die sich spekulativ von den Quellen entfernte und damit Fakt und Fiktion vermischte.12 Die dieser Haltung zugrundeliegende Annahme, dass die Geschichtswissenschaft nichts anderes tue, als objektiv abzubilden, was wirklich geschehen ist, galt schon lange als fragwürdig. Bereits Friedrich Nietzsche kritisierte 1874 mit seiner Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ das Objektivitätsideal der Geschichtswissenschaft.

„Man versteht dann mit diesem Wort einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereignis in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, dass es auf sein Subjekt gar keine Wirkung tut. Man verlangt also auch vom Historiker die künstlerische Beschaulichkeit und das völlige Versunkensein in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, dass das Bild, welches die Dinge in einem solchermaßen gestimmten Menschen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe.“13

Nietzsche erklärte, dass Geschichte nicht anders denn als Resultat einer Konstruktionsarbeit zu denken sei. Geschichte ist nach Nietzsche die Art, wie der Geist des Menschen die ihm undurchdringlichen Begebenheiten aufnimmt.14 Nietzsches Kritik fortführend, sprach der Kulturphilosoph Theodor Lessing in seinem Werk „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ (1916) der Historiographie sogar den Wissenschaftsstatus ab.15 Die Historismuskritik erlangte zentrale Bedeutung für die Frage der Legitimation und Nutzen des historischen Romans. Unter Anderen griff auch Alfred Döblin diese Kritik auf und spitzte sie sogar noch zu:

„Blicken wir also auf die Geschichtsschreibung, so stellen wir fest: ehrlich ist nur die Chronologie. Bei der Aufreihung der Daten fängt das Manöver schon an. Und klar herausgesagt: mit Geschichte will man etwas. Und da nähern wir uns in aller Bescheidenheit dem historischen Roman.“16

Da beide auf das selbe historische Material zurückgreifen, es aber anders bearbeiten, liegt der Unterschied zwischen Autor und Historiker für Döblin in deren Selbstwahrnehmung:

„Der Autor macht sich und uns nichts vor, der Historiker hängt sich einen weißen Bart um und mimt: Weltgeschichte ist Weltgericht.“17

Döblin verdeutlichte, dass der Geschichtsschreibung per se ein manipulativer Charakter innewohnt und dass, aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive betrachtet, künstlerische und wissenschaftliche Darstellung weitaus näher beieinander liegen, als die Historiker dies wahrhaben wollen. Anhand der Analyse der Grundlagen der historischen Erkenntnis zeigt sich, dass die Objektivität der historischen Wissenschaft allenfalls eine intendierte sein kann. Für Hayden White ist Interpretationsleistung des Historikers sogar die Voraussetzung aller Geschichtsschreibung:

„Eine historische Erzählung ist [...] notwendigerweise eine Mischung von ausreichend und unzureichend erklärten Ereignissen, eine Anhäufung von erwiesenen und erschlossenen Fakten, zugleich eine Darstellung, die Interpretation ist [...]“18

Narrative Elemente sind für White kein Widerspruch, sondern gleichfalls eine Bedingung von Geschichtsschreibung und eine Differenz zwischen Historiographie und Literatur ließe sich allenfalls an der Darstellungstechnik und am Geltungsanspruch ablesen. Entscheidend sei dabei, dass der historische Roman als literarisches Kunstwerk anders als die Historiographie nicht auf das Faktische, sondern auf das Mögliche zielt.19 Rein als sprachliche Kunstwerke gesehen, seien Geschichtswerke und Romane nicht voneinander unterscheidbar.20

„Die von den Historisten konstruierte Antinomie von objektiv- rekonstruierter und subjektivistisch- manipulierter Geschichte erweist sich als unbrauchbar zur Abgrenzung von Geschichtswissenschaft und historischer Dichtung.“21

Der Anspruch, dass Geschichte vor allem richtig und Literatur vor allem schön zu sein habe, beides sich aber nicht in ein und dem selben Werk vereinen ließe, wird also weder der Historiographie, noch der Literatur gerecht. Das Ziel des Romanciers muss das gleiche wie das des Historikers sein. Beide möchten ein sprachliches Abbild (image) der „Wirklichkeit“ geben.22 In historischen Romanen geht es jedoch nicht im Wesentlichen darum, verifizierbare Aussagen über die empirische Realität zu liefern, sondern sie zielen mit den literarischen Gestaltungsmitteln auf die Ebene der Reflexion.23 Als eine Möglichkeit bietet es sich an, die gängigen Formen der Geschichtsbetrachtung, wie z.B.

Geschichte aus Perspektive der Sieger oder als Ergebnis der Handlungen bedeutender Männer, in Frage zu stellen und die geschichtliche Handlung durch die RomanProtagonisten zu individualisieren, um so einen anderen Blick auf das historische Ereignis freizugeben. Eine weitere Möglichkeit wäre, über die Darstellung des historischen Zeitrahmens hinausgehend, einen Bezug zu anderen historischen Ereignissen oder zur Gegenwart herzustellen.

2.3. Literatur und Erinnerung

Im Kontext des armenischen Völkermordes drängt sich die Frage auf, wie sich die Literatur eines aus dem Bewusstsein der Weltöffentlichkeit verdrängten historischen Ereignisses angenommen hat und daran erinnert. Nach Jan Assmann stützt sich das sogenannte „kulturelle Gedächtnis“ auf einen je nach Kultur unterschiedlichen Bestand an Texten, Bildern und Riten. Verschieden seien auch die allgemeinen Grundeinstellungen zu Geschichte und Vergangenheit und damit zur Funktion des Erinnerns überhaupt. Ein Grund für die Erinnerungsnotwendigkeit ist für Assmann die Angst vor der Wiederholung von geschichtlichen Abläufen.24 Dies kann man gerade im Fall eines Völkermordes konstatieren. „Those who cannot remember their past are condemned to relive it.“25 Eine Gesellschaft wird in ihrer kulturellen Überlieferung für sich und andere sichtbar.26 Das ist für eine Erinnerungskultur von zentraler Bedeutung, denn:

„Wenn ein Volk großteils ausgerottet ist, verliert es zugleich seine Geschichte.“27 Dieser Feststellung schickt Alexander von Bormann gleich die Antwort nach: „Wie wichtig werden dann die Erzählungen!“28

Romane haben daher bei der Erinnerung an historische Ereignisse eine wichtige Aufgabe neben der Geschichtswissenschaft, da sie kollektive kulturelle Erfahrungen transportieren und auch auf eine individuelle Ebene fokussieren können. Auch wird der Leser durch diese literarischen Gestaltungsmittel in die Lage versetzt, den historischen, kulturellen und menschlichen Kontext des Ereignisses besser reflektieren zu können, als das bei rein geschichtswissenschaftlichen Werken möglich wäre.

Für die Armenier bedeuten historische Romane also, dass durch diese Form der Literatur die Erinnerung an ihre Kultur lebendig bleibt und dass das Gedenken an die Leiden der Menschen nicht gänzlich verblasst. Mit der Überlieferung der Erfahrungen leistet die Literatur zudem eine Erinnerungsaufgabe, die eine Mahnfunktion zur Verhinderung von historischen Wiederholungen innehat.

3. Vorgehensweise

Bei den literarischen Werken von Franz Werfel, Edgar Hilsenrath und Jochen Mangelsen handelt es sich um drei Romane, die sich durch ihre historische Thematik und fiktional- literarische Anteile dem Genre „Historischer Roman“ zuordnen lassen. Mit in die Untersuchung einbezogen wird zudem der autobiographische Roman von Peter Balakian, der nicht ganz die Kriterien des historischen Romans erfüllt, da er weniger fiktionale Anteile enthält und zum großen Teil die jüngere Vergangenheit beschreibt. Im Zusammenhang mit der Erinnerung an den Völkermord ist Balakians Roman jedoch interessant, da er sich neben dem Genozid auch mit den Folgen des Kulturverlustes und der zeitgenössischen armenischen Diaspora beschäftigt. Außerdem weist er durch die Schilderung der politischen Auseinandersetzung um die Anerkennung des Völkermordes einen aktuellen Bezug zur Gegenwart auf.

Um die Hintergründe des Völkermordes an den Armeniern verstehen zu können, ist ein Blick auf die Geschichte des armenischen Volkes unabdingbar. Daher ist diese Arbeit in zwei thematische Blöcke geteilt: einen historischen und einen literaturwissenschaftlichen.

In Kapitel 4 wird die Geschichte des armenischen Volkes und in Kapitel 5 werden die Gründe, der Ablauf und die Folgen des Völkermordes beschrieben. Schließlich werdenin den Kapiteln 6 bis 9 die einzelnen Romane vorgestellt und analysiert. Dabei wurde bei allen vier Werken eine ähnliche Vorgehensweise gewählt. Zunächst wird über den jeweiligen Autor und dessen Motivation, sich mit dem Thema zu beschäftigen, sowie über die Entstehungsgeschichte des Romans berichtet. Abweichend von den anderen Romananalysen wird bei Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ein Exkurs zum historischen Hintergrund eingeschoben, da sich dieser Roman explizit auf ein konkretes historisches Nebenereignis bezieht.

Danach werden die ästhetische Konzeption der Romane und die literarische Adaption des historischen Stoffes beschrieben. Abschließend erfolgt dann eine Untersuchung der in den historischen Romanen von Werfel, Hilsenrath und Mangelsen dargestellten thematischen Aspekte des Volkermordes. Nacheinander werden in drei Unterkapiteln hierzu die Darstellung der geschichtlichen und politischen Zusammenhänge des Genozids, die Darstellung der Kultur und Menschen, sowie die Beschreibungen des Völkermordes und der ihn begleitenden Gräuel analysiert.

Bei Peter Balakians Roman „Die Hunde vom Ararat“ sind die thematischen Aspekte des Völkermordes in einem einzigen Punkt „Darstellung des Völkermordes“ zusammengefasst. Dies liegt darin begründet, dass dieser autobiographische Roman einen thematischen Schwerpunkt auf die Aufarbeitung des Völkermordes durch die Hinterbliebenen und deren Nachkommen legt. Dieser Aspekt wird in einem Exkurs „Armenische Diaspora zwischen Gedenken, türkischer Leugnung und kollektiven Bewusstsein“ genauer betrachtet.

Abschließend werden im Fazit die vier Romane miteinander verglichen und die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen beantwortet. Zur Veranschaulichung seien diese Untersuchungskriterien hier noch einmal aufgeführt:

Mit welchen literarischen Mitteln bewältigen die Autoren die Thematik „Völkermord an den Armeniern“? Wird die historische Faktizität der literarischen Fiktionalität untergeordnet? Wie werden die geschichtlichen und politischen Zusammenhänge abgebildet? Wie werden die Massaker und die armenische Kultur beschrieben? Welches Anliegen verfolgen die Autoren mit der Thematisierung des Völkermordes? Zunächst jedoch wird die Geschichte des armenischen Volkes und der Ablauf des Völkermordes dargestellt. Zum einen geschieht dies, um das armenische Volk und seine Kultur vorzustellen, zum anderen, um die Gründe des Völkermordes nachvollziehen zu können.

4. Geschichte des armenischen Volkes

4.1. Vorgeschichte und Nationenbildung

4.1.1. Frühgeschichte

Armenien bezeichnet das Hochplateau zwischen Kaukasus, Taurus und Antitaurus. Das bis 1916 vorwiegend von Armeniern bewohnte Land umfaßt eine Fläche von etwa 250.000 km2. Drei- bis Viertausend Meter hohe Berge umschließen die Hochebene, die sich 1.500 bis 1.800 Meter über den Meeresspiegel erhebt. Harte Winter und heiße trockene Sommer bestimmen von je her das Leben der Menschen. Das Armenische Hochland gehört zu den ältesten Siedlungsräumen der Menschheit. Die Bibel bezeichnet diesen Ort gar als Wiege der Menschheit.29

Als erste Hochkultur des Ararat- Gebietes, das Transkaukasien, den Urmia- und Vansee, gilt das Urartu- Reich. Das Urartu- Reich existierte seit dem 13. Jahrhundert v. Chr. und wurde im 7. Jahrhundert v. Chr. von den Medern vernichtet. Etwa um diese Zeit überschritt das aus dem Donaudelta stammende Volk der Armenen den Bosporus und zog unter der Führung von Hajk, dem Stammvater der Armenier, nach Osten zum Fuße des Ararat. Sie verdrängten und assimilierten die Urartäer und eigneten sich deren hochentwickelte Kultur an. Der Name Armenien findet sich erstmals beim persischen Großkönig Darios‘ I. (521- 486 v. Chr.)30

Nach der Zerschlagung des Großpersischen Reiches durch Alexander den Großen kamen die Armenier in Kontakt mit der griechischen Kultur. So bahnte sich jene Synthese zwischen Orient und Okzident an, die eines der besondern Charakteristika Armeniens ist. Zu einem unabhängigen Reich wurde Armenien erst im zweiten Jahrhundert vor Christus. Unter Tigran II. (95- 55 v. Chr.) erreichte Armenien den Zenit seiner Macht. Durch Feldzüge und besonders durch geschickte Diplomatie wurden Mesopotamien, Syrien, Palästina, Kilikien und Kappadokien erobert. Zum ersten und letzten Male beherrscht Armenien den Mittleren Osten. Mit der Expansion des Römischen Reiches endete die kurze Großmachtphase.

4.1.2. Christianisierung

Zu Beginn des 4. Jahrhunderts n. Chr. gelangt die Geschichte Armeniens an einen Wendepunkt. Armenien gehörte bis dahin zum Kulturkreis Zarathustras. Der Sage nach bekämpfte König Tredat III. zunächst den christlichen Glauben, der nach armenischer Überlieferung von zwei Jüngern Christi ins Land gebracht worden war und sich dort unter dem Einfluß des Fürsten Gregor Illuminator verbreitete. Der König ließ den Prediger foltern und kerkerte ihn dreizehn Jahre ein. Von Krankheit heimgesucht, ließ der König Gregor rufen, der ihn heilte. Zum Dank erhob Tredat III. schon im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion. Armenien war somit vor Rom das erste christliche Reich. Zum Patriarchen oder Katholikos aller Armenier bestellt, betrieb Gregor mit grausamer Intoleranz die Christianisierung des Landes. Dass die Staatskirche auch bald zur Volkskirche wurde, verdankte sie der frühen Übersetzung der Bibel (433) und der Schaffung eines Nationalalphabets als Voraussetzung für eine intensive Mission. Die christliche Mission und das eigene Alphabet trugen wesentlich zur Bildung des armenischen Nationalgefühls bei.31 Schon 387 war es zur Teilung Armeniens in einen byzantinischen sowie einen drei Viertel größeren persischen Einflussbereich gekommen. 449 wollte der Schah die Armenier zwingen, sich zum heidnischen Mazdeismus zu bekehren. Zum ersten Mal zeigt sich die Bedeutung des christlichen Glaubens für das armenische Volk, denn in einer Volksschlacht gelang es den Armeniern 451, der Übermacht der Perser zu trotzen; der Schah musste schließlich einwilligen, den Armeniern ihre religiösen und nationalen Institutionen zu lassen. Im Oktober desselben Jahres fand in Chalzedon am Bosporus das vierte Konzil statt, auf dem die Byzantinische und Römische Kirche die Doktrin des Papstes Leos annahmen. Die Armenier verwarfen das Dogma von Chalzedon.32 Die Entscheidung war nicht nur religiöser, sondern auch zentraler politischer Bedeutung: So konnten die Armenier ihre eigene kulturelle Identität entwickeln, die sie vor der Assimilierung durch die jeweils herrschenden Großmächte bewahrte, andererseits galten die armenisch- apostolischen Christen nun als Schismatiker.

4.1.3. Behauptungsversuche und Unterwerfung

Aufgrund der religiösen Rivalität wurden die Armenier 640 von Byzanz allein gelassen, als in Vorderasien eine neue Großmacht, das arabische Kalifat, plündernd und mordend auftauchte. Ab dem Ende des 7. Jahrhunderts folgte die Konsolidierung der arabischen Fremdherrschaft, was mit einer dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse der Unterworfenen einherging. Geschwächt durch innere Machtkämpfe, musste der Kalif später jedoch den Armeniern mehr Autonomie zugestehen. Schließlich konnte sich 885 in Ani ein unabhängiges Königreich etablieren, was eine sechzigjährige Friedensperiode mit kulturellem und wirtschaftlichem Aufschwung nach sich zog. Die Unabhängigkeit endete 1045, als die Byzantiner Ani eroberten und Armenien besetzten. Byzanz kurzsichtige Armenienpolitik rächte sich umgehend, denn das besiegte Armenien war den ab 1048 heranstürmenden Seldschukenhorden schutzlos ausgeliefert. Nach dem Fall Armeniens war für die Seldschuken der Weg nach Kleinasien frei und Byzanz geriet in große Bedrängnis.33 In der Folge wurde Armenien von immer neuen mongolischen Invasionsheeren heimgesucht. Den Höhepunkt setzte der grausame turko- mongolische Despot Timur Lenk, der in den Jahren 1386 bis 1400 ganz Armenien verwüstete und die Bevölkerung massakrierte und versklavte, so dass das Land Jahrhunderte lang völlig darniederlag.34

Die ständigen Invasionen trieben viele Armenier aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten in den Westen und ans Mittelmeer. In Kilikien, wo es bereits seit der Antike armenische Kolonien gegeben hatte, war es armenischen Adligen in den Jahren 1080 bis 1095 gelungen, eine Baronie Neu- Armenien zu gründen. Der Niedergang des armenischen Kernlandes verstärkte die Zuwanderung nach Kilikien. Von den Bergfesten des Taurus und Anti- Taurus aus gelang es den kilikischen Armeniern das Herrschaftsgebiet bis zum Mittelmeer hin auszudehnen. Durch die Protektion der Kreuzfahrer wurde Kilikien im Jahr 1198 sogar zum Königreich Armenien. Mit der Einnahme der Hauptstadt Sis im Jahre 1375 durch die Mamelucken endete diese Phase armenischer Unabhängigkeit. Zwar konnten sich einige Siedlungen im kilikischen Hochland faktisch eine Halbautonomie bis ins 20. Jahrhundert bewahren, doch nach Jahrhunderten fortwährender Invasionen und Verwüstungen sowie daraus resultierender Auswanderung Tausender in alle Welt, war das armenische Volk nunmehr zu schwach, um seine Unabhängigkeit wiederzugewinnen. Sein Unglück war es, an einer der großen Einfallstraßen für asiatische Heere nach Südeuropa, Arabien und Afrika zu siedeln.35

4.2. Armenien unter der Herrschaft der Osmanen

4.2.1. Kampf um die Vorherrschaft

Ein neuer Akteur betrat Anfang des 16. Jahrhunderts die armenische Bühne: Das nach seinem Gründer Osman benannte Sultanat hatte 1453 mit der Eroberung Konstantinopels Byzanz den Todesstoß versetzt und sich bis zum Ende des Jahrhunderts als neue Großmacht etabliert. Beim Vormarsch zum Kaspischen Meer legten die Osmanen das Armenische Hochland in Schutt und Asche, gerieten dort aber in Konflikt mit den Persern. Trotz des Friedensschlusses von Amassia (1555), bei dem nur Westarmenien an das Osmanische Sultanat fiel, drang die osmanische Armee 1578 in den Transkaukasus ein, den Persien 1590 abtreten musste. Hunderttausende Armenier wurden in die inneren Provinzen des Iran deportiert, ganze Regionen systematisch verwüstet, um eine Wiederansiedlung zu verhindern und den türkischen Eroberern keine Existenzgrundlage zu bieten. In Persien entwickelten sich dadurch bedeutsame armenische Handelszentren, die mit der ganzen Welt Handel trieben. 1616 bis 1639 flammten die Vormachtkämpfe zwischen dem Iran und dem Osmanischen Reich erneut auf. Nach fast einhundert Jahren Krieg kam es zu einer zweiten, dauerhaften Teilung Armeniens. Diesmal blieben Persien nur noch einige Provinzen im östlichen Transkaukasus.36

Seit Mitte des 16. Jahrhunderts suchten armenische Kirchenführer, Adlige und Kaufleute nach auswärtiger Unterstützung bei der Befreiung ihrer Heimat. Zunächst orientierte man sich an den einstigen europäischen Verbündeten aus der Kreuzfahrerzeit, die aber keine konkreten Schritte unternahmen, sondern die Armenier an Russland verwiesen. Russland hatte bei einer Südexpansion hauptsächlich wirtschaftliche Interessen, insbesondere den Seidenhandel, im Sinne, doch konnten die Armenier auch nützliche Verbündete im Kampf gegen die Perser und Osmanen sein. 1722 drangen russische Truppen zum ersten Mal in den Kaukasus ein und rüsteten sich für die Einnahme der gesamten Westküste des Kaspischen Meeres. Vor dem Hintergrund des zu erwartenden Sieges versprach Zar Peter I. armenischen und georgischen Unterhändlern seine Unterstützung bei der Errichtung eines armenisch- georgischen Königreiches unter russischem Protektorat. Aufgrund innerer politischer Schwierigkeiten stellte Russland jedoch seine Expansionspolitik ein. Es folgte der Versuch der Osmanen, den persischen Teil des Transkaukasus unter ihre Kontrolle zu bringen. Jerewan und ganze Landstriche wurden zerstört und die Bevölkerung nach Westarmenien in die Sklaverei getrieben. Dennoch gelang es den Türken in zehn Jahren nicht, die völlige Kontrolle über den Transkaukasus zu erringen, da armenische Volksmilizen einen Partisanenkampf führten. Transkaukasien blieb unter persischer Hoheit.37

Erst Katharina II. reaktivierte die russische Kaukasus- und Armenienpolitik. Das Osmanische Sultanat mußte 1774 die Rolle Rußlands als Schutzmacht der orthodoxen Christen anerkennen. Mit der Kapitulation der persischen Festung Jerewan im Oktober 1827 endete der dreißigjährige persisch- russische Krieg um die Vorherrschaft im Transkaukasus. Nun wandte sich das Russische Reich der zweiten muslimischen Vormacht der Region, dem Osmanischen Sultanat, zu. In der Hoffnung auf die Befreiung ihrer Heimat unterstützten die transkaukasischen Armenier bei allen drei Kriegen - 1828/29, 1853 sowie 1877/78 - die russische Seite.38 Mit der Eroberung des Transkaukasus 1828 durch die Russen fiel ein Drittel des armenischen Territoriums an das Russische Reich - der Großteil Armeniens blieb unter osmanischer Herrschaft.39

Da auch das Zarenreich jeder territorialen Autonomie ablehnend gegenüber stand, blieben die Kaukasusarmenier unter fremder - allerdings christlicher - Herrschaft, was für sie immerhin kulturelle und religiöse Eigenständigkeit bedeutete. Auch waren sie nun keiner direkten Verfolgung mehr ausgesetzt. Erst nach der Ermordung des liberalen Zaren Alexander II. im Jahre 1881 wurde die kulturelle Autonomie der Armenier zugunsten einer Russifizierungspolitik eingeschränkt, was 1905 revolutionäre Erhebungen auslöste.40 Die Lage besserte sich für die russischen Armenier erst 1912 durch erneute Spannungen zwischen dem Osmanischen Reich und Russland, „das die armenischen Revolutionäre nun als nützliches Werkzeug gegen den alten Feind brauchte.“41

4.2.2. Minderheit im eigenen Land

Die russischen Eroberungen im Kaukasus, Transkaukasus und Armenischen Hochland riefen dort tiefgreifende demographische Veränderungen hervor. Die Friedensverträge von 1829 gaben der armenischen Bevölkerung des Nordirans sowie der bis 1830 russisch besetzten Gebiete des Osmanischen Reiches die Möglichkeit, in russisches Hoheitsgebiet überzusiedeln. Davon machten von 1828 bis 1830 50.000 Armenier aus dem Iran und 90.000 Armenier aus den Ebenen von Erzurum und Alaschkert Gebrauch. Umgekehrt verschlechterte sich die Lage der Türkisch- Armenier durch die aus dem Zarenreich zuströmenden muslimischen Kaukasusvölker. Nachdem Russland 1864 die antikolonialen Aufstände der nordkaukasischen Völker endgültig unterdrückt hatte, wanderten etwa eine halbe Million Menschen in das Osmanische Sultanat aus, das sie vollmundig als „Muharcire“ (Glaubensflüchtlinge) eingeladen hatte. „Eine furchtbare Invasion“, nannte der deutsche Orientreisende Freiherr von Schweiger- Lerchenfeld den Flüchtlingszug, „nur notdürftig bekleidet und ohne alle Proviantvorräte, anfangs von Bettel, später von Diebstahl und Raub lebend, okkupierten sie gleich riesigen Heuschreckenschwärmen provisorisch alles Land umher.“42 Die „Tscherkessen“ genannten Flüchtlinge verdoppelten in manchen der von Armeniern bewohnten Bezirke die Bevölkerung und machten so die Armenier zu einer Minderheit im eigenen Land. Um den türkischen Anspruch auf die armenischen Provinzen zu untermauern, wurde 1864 im Zuge einer Verwaltungsreform die aus dem Griechischen entlehnte Bezeichnung „anadolu“ („Land der aufgehenden Sonne“) auch auf Westarmenien ausgedehnt. Seither taucht der Landesname „ermenistan“ nicht mehr im amtlichen Türkisch auf.43 Nach dem russisch- osmanischen Krieg von 1877/78 kamen weitere Zuwanderer aus dem Nordkaukasus und Bulgarien. Arm und sich selbst überlassen, bildeten sie selbst für die ortsansässigen Moslems eine Bedrohung, in erster Linie jedoch für die ungeschützte armenische Landbevölkerung. Ein französischer Forscher berichte 1887: „Seit ihrer Ankunft im türkischen Armenien [...] traten sie in Kämpfe gegen ihre neuen Nachbarn und lebten, wie die Kurden, nur von ihren Räubereien und den Erzeugnissen ihrer Herden.“44

Während sich im Transkaukasus das armenische Bevölkerungselement im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich festigte, schritt umgekehrt in Westarmenien die Heterogenisierung der Bevölkerung immer weiter voran. Die Vertreibungen, Deportationen und Ansiedlungen fremder Völker hatten dazu geführt, dass die Armenier sehr zerstreut siedelten. In den Vilayets um die Städte Kars, Van und Erzurum, stellten sie die größte Minderheit in einer Region, in dem kein Volk die Mehrheit hatte. In den Ebenen westlich des Vansees waren praktisch alle Bauern Armenier. Der armenische Siedlungsraum, der sich oft mit dem kurdischen überschnitt, zog sich im Westen hin bis Amassia und Sivas (armen. Sebaste), wo die Armenier fast die Mehrheit bildeten, sowie nach Kilikien im Süden, wo sie um die Städte Adana, Alexandrette (heute Iskenderun) und Aintab einen bedeutenden Bevölkerungsanteil stellten. In den Bergen des Taurus und Antitaurus hielten sich sehr wehrhafte armenische Urgemeinden, die ihren halbautonomen Status bis ins 20. Jahrhundert retten konnten. Einige armenische Gemeinden bildeten sich sogar in Bulgarien. In vielen westtürkischen Städten, wie Smyrna (heute Izmir) und Angora (Ankara) und natürlich Konstantinopel, bildeten sie einflußreiche Minderheiten. Aufgrund der permanenten Emigration entwickelte sich eine weit verstreut lebende armenische Diaspora, deren Zentren von der Krim über Lemberg, Amsterdam, Venedig, Rom, Marseille bis Madras und Kalkutta lagen - entlang der Routen der Kaufleute und Händler. Später wanderten viele Armenier sogar nach Amerika aus. In Frankreich konzentrierten sie sich um Marseille und in den USA in Kalifornien.45

4.2.3. Die Stellung der Armenier im Osmanischen Sultanat

4.2.3.1. Rechtliche Stellung

Das Osmanische Reich war in der Zusammensetzung seiner Bevölkerung multiethnisch und multireligiös. Die Heterogenität bildete ein konstitutives Element dieses Staates. Die Osmanen waren jedoch die Herren, die den unterjochten Völkern keine nationale, sondern nur religiöse Selbständigkeit einräumten. Die verfassungsrechtliche Grundlage des Reiches bildete das islamische Recht (Seriat), welches die Untertanen in zwei Hauptgruppen, einerseits der Muslime, das „Haus des Islam“ (dar ul- islam) und andererseits der Nichtmuslime, das „Haus des Krieges“ (dar ul- harb), einteilte. Zu diesen zählten als „Völker des Buches“ auch die Angehörigen älterer monotheistischer Offenbarungsreligionen wie Juden und Christen. Sie galten als Schutzbefohlene (Dhimma), die geduldet wurden, solange sie sich der islamischen Herrschaft unterwarfen. „Man wollte auf Kosten der christlichen Bevölkerung leben“, brachte es 1912 der Historiker Varandian auf den Punkt, „[…]von Zeit zu Zeit die Zügel anziehen, um jedes übermäßige wirtschaftliche oder politische Erstarken zu verhindern. Das waren die durchaus nicht philanthropischen Überlegungen, die der scheinbar liberalen und toleranten Haltung der türkischen Herrschermacht zugrunde lagen.“46 Die Gliederung der Gesellschaft nach der „Seriat“ führte zu einer sozialen Organisationsform, die als Millet- System bezeichnet wird. Die „Dhimma“ bildeten drei „Millets“ (Glaubensnationen): Die jüdische Millet, die römische Millet, der alle Orthodoxen angehörten, sowie die ermeni millet, was nur die armenisch- apostolischen Armenier einschloss.47 Der armenisch- apostolische Patriarch repräsentierte gegenüber dem Staat seine Glaubensnation.48 Diese herausragende Stellung als Mittler zwischen der Millet und der Regierung führte dazu, dass sich die Sultane immer wieder in kirchliche Belange einmischten und die Amtseinsetzung eines Patriarchen von ihrer Zustimmung abhängig machten. Zudem konnten sie den Patriarchen jederzeit absetzen und ließen unbequeme Kirchenfürsten manchmal sogar hinrichten, was den Konformismus in diesem Amt zusätzlich förderte.49 Darüber hinaus „galten die Armenier über Jahrhunderte als „millet- i- saadika“, die loyale Glaubensnation, der die Osmanen mehr vertrauten als den orthodoxen Griechen.“50

Alle „Dhimma“ mussten eine Kopfsteuer (Cizye), die Männer bis 60 Jahre ab 1854 auch die Militärbefreiungssteuer (Bedel) entrichten. Man achtete darauf, den christlichen Minderheiten ihre nationalen Eigenheiten zu belassen - Sprache, Tradition, Religion. Die religiöse Autonomie erstreckte sich auch auf die eigenständige Regelung zivilrechtlicher Angelegenheiten wie Heirat, Scheidung, Erbschaft und Vormundschaft sowie Erziehung.51

Trotz aller Eigenständigkeit blieben die „Rajahs“ (vom arabischen Wort für: Vieh) genannten Christen Menschen zweiter Klasse. Christen waren Pferde als Reittiere verboten, sie mussten Maultiere benutzen. Ihre Zugehörigkeit zu einer untergeordneten Bevölkerungsgruppe hatten sie durch bestimmte Kleidung anzuzeigen. Ihre Gebäude mussten niedriger sein als die der „Rechtgläubigen“, und selbst für die Reparatur einer Kirche brauchten sie eine Genehmigung. Christen durften keine Muslimin heiraten, während christliche Frauen als Konkubinen moslemischer Männer sehr begehrt waren. Eine der berüchtigsten osmanischen Einrichtungen war die Knabenlese (devcirme): In regelmäßigen Abständen mussten bis Mitte des 18. Jahrhunderts die christlichen Millets eine festgesetzte Anzahl männlicher Kinder abliefern. Diese ihrer Herkunft entfremdet und zu Muslimen herangezogen Renegaten stellten die Elitetruppe des Sultans, die Janitscharen, oder wurden zu Beamten ausgebildet.

Besonders deutlich wurde die Diskriminierung der Dhimma in Bereichen des Steuer- , Straf- oder Zivilrechts. So stand die Nichtanerkennung der Zeugenschaft eines Nicht- Muslimen gegen einen Muslimen für eine bedrückende Rechtsunsicherheit. Die Freistellung vom Militärdienst entsprach dem religiösen Gebot, wonach den Islam nur Rechtgläubige verteidigen dürfen. Daraus leitete sich das Verbot für Nichtmuslime ab, Waffen zu tragen, was es den armenischen Bauern nahezu unmöglich machte, sich gegen Übergriffe kurdischer Stämme zu wehren. Die vielen stigmatisierenden Bestimmungen kennzeichneten einen Alltag der Minderwertigkeit des „Giaur“, was Ungläubiger heißt, im täglichen Sprachgebrauch aber der Schmähung Christenhund entspricht.52

4.2.3.2. Wirtschaftliche und soziale Stellung

In dem sehr militärisch definierten Staatswesen des Osmanischen Reiches war das Kriegshandwerk die ureigene Domäne der Muslime.53 Ebenso verhielt es sich mit der höheren Verwaltung. Da den Christen der Zugang zu diesen Institutionen versagt blieb, siedelten sich die Armenier und Griechen besonders in der Wirtschaftsnische an. In den Städten waren die Armenier praktisch die einzigen Handwerker und auch im Handel und Geldwesen waren sie, neben den Griechen und Juden, stark vertreten. In den Provinzen bildeten die Armenier die Mittelschicht und waren auch in der unteren Beamtenschaft überproportional vertreten. Ein wesentlicher Grund für ihren wirtschaftlichen Erfolg war das überragende Bildungssystem, das die Armenier, um ihre nationale Eigenständigkeit bewahren zu können, trotz des ständigen Assimilierungsdrucks aufgebaut hatten. So bestanden unter schwerstem Druck und ohne staatliche Hilfe 1903 in der Türkei 1000 armenische Schulen mit 100000 Schülern, während es nur 105 türkische Schulen mit 17000 Schülern gab.54 An europäischen, amerikanischen und russischen Universitäten studierten bei Ausbruch des Weltkrieges etwa 15000 Armenier, aber nur wenige hundert Türken. Entsprechend waren in den armenischen Provinzen auch fast alle Ärzte, Apotheker und Advokaten Armenier. Aber auch Architektur und Theater waren eine armenische Domäne.

Als Beispiel für die wirtschaftliche Stellung der Armenier im Osmanischen Reich sei die zu einem Drittel von Armeniern besiedelte Provinz Sivas genannt, wo 1912 von 166 Großimporteuren 141 Armenier, 13 Türken und 12 Griechen waren. Von 37 Bankiers waren 32 Armenier und nur 5 Türken, von 9800 Läden und Handwerksbetrieben gehörten 6800, von 153 Fabriken 130 Armeniern. Aber auch 14000 der insgesamt 17700 Arbeiter dieser Fabriken waren Armenier, darunter sämtliche technische Führungskräfte.55 Nach Berechnungen des deutschen Pfarrers und Armenienkenners Johannes Lepsius56 sollen vor dem Ersten Weltkrieg 90 Prozent des osmanischen Binnenhandels, 60 Prozent aller Importe und 40 Prozent aller Exporte von Armeniern abgewickelt worden sein.57

Dennoch waren die Armenier kein Volk der Händler und Intellektuellen; Ackerbau und Viehzucht waren die Haupterwerbszweige. 80 bis 90 Prozent des armenischen Volkes lebten von der Landwirtschaft.

4.2.4. Das Image der Armenier

Als ein Grund für die immerwährenden Verfolgungen, denen die Armenier im Osmanischen Reich ausgesetzt waren, wird oft ihr den Juden ähnliches Image vom geldgierigen, verschlagenen Händler angeführt. Im Folgenden soll dieses Image kurz betrachtet werden.

Samuel Zurlinden schrieb 1918:

„Nur eine Minderheit der Armenier lebte und handelte in den Städten der Levante, und nur sie waren es, mit denen die Westeuropäer in Berührung kamen.“58

Doch genau diese Minderheit prägte das Bild des Armenier in der Welt. Die wirtschaftliche Dominanz der armenischen Kaufleute brachte ihnen viel Anerkennung, aber ebenso viel Neid und Mißgunst. „Die Armenier“, so äußerte der deutsche Publizist Paul Rohrbach 1903 seine Bewunderung, „sind im Orient die Strebsamsten und Gelehrtesten, und haben Geld und Handel völlig in ihren Händen und eine solche Energie und Ausdauer, daß es im Widerspruch steht zu dem, was man im allgemeinen hier von den Orientalen denkt.“59

„Sie sind die angenehmsten Menschen, die es gibt“, lobte der französische Botanik- Professor Pitton de Tournefort die armenischen Kaufleute Anfang des 18. Jahrhunderts, als er Armenien bereiste, „ehrlich, höflich, verläßlich und vernünftig.“ Andere Attribute die man den Armeniern zuschrieb, reichten von arbeitsam, fortschrittlich, genügsam, zäh bis lästig, fanatisch in ihrem Volkstum und schwer zu assimilieren. Während der englische Premier Gladstone verkündete, „Armenien dienen heißt der Zivilisation dienen“, meinte sein deutscher Widerpart Otto von Bismarck über die Armenier zu wissen, „daß sie überhaupt gar nichts tun, ohne pekuniären Gewinn“. Als „eine verachtenswerte Rasse“, bezeichnete sie der englische Schwarzmeerflotten- Admiral Milne, der nach 1918 für ihren Schutz verantwortlich war. Sein Landsmann, der Orientpolitiker Mark Sykes, ein eingefleischter Antisemit, behauptete: „Selbst die Juden haben einige gute Seiten, Armenier haben keine.“60 Und der deutsche Pastor und Politiker Friedrich Naumann, geistiger Vater der Liberalen, verstieg sich gar in der Aussage:

„Die Türken haben Recht gethan, als sie die Armenier totschlugen, anders kann sich der Türke nicht vor den Armeniern schützen Der Armenier ist der schlechteste Mensch der Welt.“61

Samuel Zurlinden meinte 1918 hierzu: „Die üble Nachrede, unter der die Armenier leiden, verdanken sie zum guten Teil dem Konkurrenzneid europäischer Kollegen.“ Er zitierte den Züricher Dekan Furrer:

„Dem geknechteten Volk blieb an Verachtung, Mißhandlung und Ausbeutung nichts erspart. [...] [E]s lernt sich wehren mit den Waffen der Schwachen... Harte Richter reden nur von der List und Verschlagenheit der armenischen Kaufleute, aber nicht von der schlichten, ehrlichen Lebensführung der armenischen Bauern.“62

Das unter den europäischen Christen vorherrschende Bild vom verschlagenen Armenier, weißt auf Analogien zum Image der Juden hin und lässt Rückschlüsse auf die tatsächliche Hilfsbereitschaft der Europäer in Bezug auf die Unterdrückung der Armenier durch die Türken zu. Hilfe hatten die Armenier nur zu erwarten, wenn diese in die strategischen Interessen der Großmächte passte.

4.2.5. Die Armenische Frage

4.2.5.1. Reformversuche im Osmanischen Reich

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der Niedergang des Osmanischen Reiches immer deutlicher. Im Inneren hatte es mit Aufständen seiner Untertanen zu kämpfen und von außen bedrohten es die Großmächte. Das Wiedererwachen des nationalen Identitätsbewußtseins der einzelnen Völker war die natürliche Konsequenz der imperialistischen Politik der Großmächte.

„Das Osmanische Reich unter sich aufteilen, ohne das europäische Gleichgewicht zu stören und sich damit selbst zu gefährden, das war eines der Hauptziele ihrer Außenpolitik.“63

Die Handlungsmöglichkeiten der „Hohen Pforte“64 waren angesichts der Übermacht der europäischen Großmächte sehr eingeschränkt und ließen nur zwei Möglichkeiten zu: Gebiete abtreten oder Reformen zugestehen. Gebietsabtretungen hätten den Niedergang weiter beschleunigt. Reformen waren noch gefährlicher, da nationalistischen Ideen eine beträchtliche Sprengkraft innewohnte. Die fehlende Gleichberechtigung der Nichtmuslime und die Fortdauer von Unterdrückung und Erniedrigung diente den Großmächten immer wieder als Vorwand, um sich in die inneren Angelegenheiten des „kranken Mannes am Bosporus“ einzumischen. Innerhalb der osmanischen Elite setzte sich deshalb die Einsicht durch, dass der Zerfall des Reiches unvermeidbar sei, wenn man am Millet- System festhielte. Die Tanzimat- Reformen von 1839 sicherten allen Untertanen ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit die Gleichstellung und die Sicherheit des Besitzes und der Ehre zu. Allerdings lief der „Tanzimat“ nur auf eine theoretische Absichtserklärung hinaus, die Reformen wurden nur sehr begrenzt vollzogen. Um die Großmächte zu beschwichtigen, verkündete Sultan Abdul Mecit 1856 kurz vor der Pariser Konferenz einen weiteren Erlass, in dem es hieß, dass das Prinzip der Gleichheit zur Grundlage des Rechtssystems gemacht werden sollte. Vor dem Hintergrund des verlorenen Krimkrieges verfasst, vermochten die Reformen nur die europäischen Sieger zu beeindrucken, die sich zu den kollektiven Garantiemächten der osmanischen Christen erklärt hatten. Mit den Reformen, die man in den folgenden Jahren zur Durchsetzung des Prinzips der Gleichstellung durchführte, wurde das Millet- System lediglich säkularisiert und somit rechtlich zementiert.65 Zwar wurde jeder Glaubensnation das Recht auf Bildung eines eigenen Parlamentes eingeräumt und im Dezember 1876 sogar eine osmanische Verfassung verabschiedet, die erstmals den allgemeingültigen Begriff des „Osmanen“ für alle Bürger festschrieb, doch die Wurzel der Ungleichheit, das Millet- System, wurde nicht beseitigt. Auch die osmanische Verfassung erkannte den Islam weiterhin als Staatsreligion an. Doch den meisten Türken ging dieser Versuch, europäische Rechtsnormen einzuführen, viel zu weit. Die Weigerung den anderen ethnischen Gruppen volle Gleichberechtigung zuzugestehen, hatte auch psychologische Gründe: Bis zum Niedergang ihres Imperiums waren die Türken das Volk der Sieger und Herrscher. „Die Siegermentalität grub sich tief in den türkischen Nationalcharakter ein.“, schrieb Wolfgang Gust zur damaligen türkischen Befindlichkeit:

„Sie und die islamische Überlegenheitsdoktrin sind der Hauptgrund dafür, warum jeder Osmane zweierlei Recht für gottgegeben ansieht, ein oberes Recht für sich und ein minderes für die Christen.“66

Innenpolitisch scheiterten die Reformen schließlich am Widerstand einflussreicher konservativ- islamischer Kreise, die sich nicht mit dem Verlust ihrer privilegierten Stellung abfinden konnten. Der deutsche Botschaftsrat Gerhard von Mutius kommentierte das 1912 wie folgt:

„Der islamische Staatsgedanke schließt die Gleichberechtigung nichtmuselmanischer Völker aus.“67

Der russisch- türkische Krieg lieferte dem neuen Sultan Abdul Hamid II. den Vorwand, schon am 18. Februar 1878 das Parlament aufzulösen und die osmanische Verfassung für über dreißig Jahre außer Kraft zu setzen.68

4.2.5.2. Nationales Erwachen und ethnische Spannungen

Durch die Reformversprechen wehrte die Hohe Pforte die Einmischung der europäischen Mächte ab, entfachte aber Unruhe im eigenen Land. Die Bemühungen um rechtliche Gleichstellung der Minderheiten führten letztlich nur dazu, dass das bestehende gesellschaftliche Gefüge ins Wanken geriet und sich eine osmanische Oppositionsbewegung, die „Jungosmanen“, bildete. Deren Sprecher drohten damals schon an, dass die Muslime ihre Vormachtstellung nicht freiwillig räumen und „ohne Rücksicht auf Verluste viel Blut vergießen würden.“69 Durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch kam es zu Übergriffen und Aufständen der Muslime gegen die Christen. Die Massaker an den Armeniern, die in den neunziger Jahren systematische Formen annahmen, werden vor diesem kulturellen Hintergrund erklärlicher. Nahrung fand dieser Hass durch das nationale Erwachen der Armenier, ausgelöst durch die Hoffnung, mit Hilfe der europäischen Mächte vom türkischen Joch befreit zu werden. Die Säkularisierung des Millet- Systems von 1856 erlaubte den Armeniern eine Nationalversammlung und eine Nationalverfassung, die die Regelung der inneren Angelegenheiten zuließ. Diese Verfassung wurde gegen den Widerstand der armenischen Eliten in Konstantinopel, den Bankiers, Kaufleuten und Regierungsbeamten, von westlich orientierten Armeniern, die den Ideen der französischen Revolution anhingen, erstritten. Es dauerte neun Jahre, bis die osmanische Regierung, nicht zuletzt unter dem Eindruck armenischer Aufstände in Zeitun (1862), Van (1862) und Musch (1863) im Januar 1864 einer abgeschwächten Fassung der Nationalversammlung zustimmte und dem Patriarchat erlaubte, in den Provinzen ein Netz von Prälaturen aufzubauen.

„Das war der Beginn einer armenischen Nation, die sich nicht mehr als ein dem Sultan ergebenes Millet verstand.“70

Zwar änderte sich nichts an der faktischen Rechtlosigkeit der Westarmenier, doch nun wurden die Nachrichten von den sich seit 1860 häufenden Übergriffen durch Kurden und Tscherkessen nach Konstantinopel weitergeleitet. Da Eingaben an die Regierung keine Wirkung zeigten, wuchs die Überzeugung von der Notwendigkeit, Armenien von der Fremdherrschaft zu befreien.71

Beeinflußt durch Befreiungsgedanken versuchten die armenischen Intellektuellen, durch ein Bündnis mit europäischen Organisationen die Ideen des Freiheitskampfes durchzusetzen. Das geschah aus zwei Richtungen: Die eine ging von armenischen Studenten aus, die in Europa studierten und von nationalen und revolutionären Organisationen der Gastländer beeinflusst wurden. Aus Vorläuferorganisationen heraus bildeten sich die 1887 gegründeten marxistischen „Hintschakisten“, die für ein unabhängiges Armenien eintraten, und die 1890 gegründete Daschnakzutjun- Partei, die sich für Autonomie innerhalb des Osmanischen Reiches einsetzten. Beide Organisationen schreckten nicht davor zurück, staatliche Repressionen mit Terror zu beantworten. Während die Hintschakisten vor allem in Kilikien und Konstantinopel Einfluss gewannen, fand die „Daschnakzutjun“ ihren größten Rückhalt in den armenischen Stammlanden zu beiden Seiten der russisch- osmanischen Grenze. Zeitgleich mit den politischen Parteien entstanden ab 1885 in Westarmenien durch Eid verschworene Kampfgruppen zur Verteidigung der armenischen Landbevölkerung. Als „Fedajis“ (arabisch für Opfer) wurden dieser Bürgerwehren zum Inbegriff des opferbereiten Patrioten und waren besonders bei den kurdischen Stämmen, aber auch bei den türkischen „Saptiehs“ (Gendarmen) und den Tscherkessen gefürchtet.

Die andere Richtung ging von Seiten der ausländischen Missionaren und Agenten aus, die in der Türkei Schulen eröffneten und freiheitliches Gedankengut verbreiteten. Protestantische Missionare aus Europa, später auch aus Amerika, gründeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert religiöse Schulen und Colleges sowie Waisenhäuser. Das geschah nicht nur um die gregorianischen Armenier zu missionieren72, sondern auch um sie im Sinne der jeweiligen Regierungen zu beeinflussen und so das Osmanische Reich zu schwächen. Die besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stärker werdende ausländische Agitation fand in Armenien einen gut vorbereiteten Nährboden. Als Griechenland, Montenegro, Serbien und andere Länder sich vom Joch der türkischen Vorherrschaft befreit hatten, stärkten diese Ereignisse den Christenhass der Türken noch mehr. Der Christenhass transformierte sich - als die Befreiungsbestrebungen der Armenier begannen - zu einem Armenierhass.73

4.2.5.3. Wendepunkt Berliner Kongress

Das Osmanische Reich verfügte über strategische Positionen, deren Besitz für die Welthegemonie von entscheidender Bedeutung war: Bosporus, Dardanellen, Landwege nach Indien. Die Großmächte hatten nun die Wahl, entweder dem Zerfall des Reiches nachzuhelfen und es dann unter sich zu teilen, d.h. eine Interventionspolitik zu führen, oder sich für eine Integritätspolitik zu entscheiden, die schließlich einer dieser Mächte den beherrschenden Einfluß sichern würde. Die Interventionspolitik bemäntelte sich mit der Vorgabe humanitärer, auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker basierender Zielsetzungen, während die Integritätspolitik den jeweiligen Umständen flexibel angepaßt werden konnte.

Für Russland, das aus seinem „Kontinentalgefängnis“ auszubrechen suchte, war die Inbesitznahme der Dardanellen das strategische Ziel, während England befürchtete, dass die Russen ihnen dadurch den Weg nach Indien abschneiden könnten. Dieser Gegensatz zwischen russischer Interventionspolitik und englischer Integritätspolitik sollte für die Armenier, die ihre Hoffnung auf Russland setzen, schicksalshafte Bedeutung erlangen. Auch die anderen Mächte hatten ihre spezifischen Interessen. Für Österreich- Ungarn stellte das Osmanische Reich einen Puffer gegen das befürchtete russische Vorrücken zur Donau dar. Frankreich war wiederum am Erhalt seiner privilegierten Stellung in Konstantinopel interessiert.74

Die Interventionsmöglichkeit für Russland ergab sich im Frühjahr 1877 nach der blutigen Niederschlagung eines anti- osmanischen Aufstands in Bulgarien durch die Truppen des Abdul Hamid II., den Zar Alexander II. zum Anlass für die Kriegserklärung im Namen der Sicherheit der Christen im Osmanischen Reich nahm. Im Unterschied zu den Balkanslawen, die in den russisch- otrthodoxen Glaubensbrüdern uneingeschränkt ihre Befreier sahen, waren die Reaktionen der Armenier gespalten: Der Patriarch zu Konstantinopel rief aufgrund von Mißtrauen gegen die Orthodoxie, die Armenier zur Staatstreue auf. In Armenien selbst war man weniger wählerisch und unterstützte den russischen Vormarsch. Während der beiden russischen Vorstöße und vor allem nach Abzug der Russen übten reguläre Truppen und kurdische Stämme dafür grausame Rache an den Armeniern von Van, Alaschkert, Musch und Bitlis. Als sich der Sieg der Russen abzeichnete, beschloß am 21. Oktober 1877 der armenische Große Rat zum ersten Mal, eine Haltung gegen die türkische Regierung einzunehmen. Die Nationalversammlung hoffte, Einfluß auf die Friedensverhandlungen nehmen zu können. Man forderte den Zaren auf, das Land bis zum Euphrat nicht mehr der Türkei zurückzuerstatten oder zumindest Verwaltungsautonomie für Armenien durchzusetzen. Die russischen Truppen waren bis in die thrakische Ebene vorgedrungen und standen vor den Toren Konstantinopels. Als Königin Victoria hörte, dass die Russen am Marmarameer stünden, rief sie aus: „Dann müssen sie dort weg!“75 Unter dem Druck der herannahenden englischen Flotte und der österreichischen Mobilmachung konnte Russland seine starke Position nicht ausspielen und musste den Friedenvorschlag von Abdul Hamid II. akzeptieren. Im Falle der besetzten armenischen Gebiete begnügte sich Russland mit einer Klausel, die ihnen ein Interventionsrecht gab. Die Hohe Pforte verpflichtete sich lediglich zu sofortigen Reformen in den armenischen Provinzen, sowie zum Schutz der Armenier vor Tscherkessen und Kurden. Bis zum Abschluss dieser Reformen sollten die russischen Truppen in Erzurum stationiert bleiben. Der Vorfriedensvertrag von San Stefano war, „die erste internationale Abmachung, die auf die armenische Frage Bezug nahm.“76

Darüber hinaus betrieb England im Interesse seiner eigenen Ziele im Orient eine weitere Abschwächung des Vertragwerks und veranlasste Russland in Geheimverhandlungen zur Rückgabe einiger Gebiete. In einem weiteren Geheimabkommen hatte England zuvor dem Osmanischen Reich seine militärische Unterstützung für den Fall einer erneuten russischen Intervention zugesichert und als Gegenleistung das Recht zur Besetzung Zyperns erhalten. Immerhin ließen die Briten, mit Rücksicht auf die Opposition in der Heimat, Reformen zum Schutz der christlichen Minderheiten festschreiben. Doch dadurch, dass man die russischen Truppen zur Räumung Armeniens noch vor der Durchführung von Verwaltungsreformen zwang, gab man das einzige Druckmittel aus der Hand. Abdul Hamid konnte nun auf Zeit spielen. „Nirgends in der Welt ist unsere Politik jemals von so unmoralischen, wahnwitzigen Überlegungen bestimmt gewesen“, erklärte später der Herzog von Argyll im englischen Unterhaus.77 Der deutsche Kanzler Bismarck sah eine Chance, die Stellung Deutschland als Großmacht zu konsolidieren und bot sich als „ehrlicher Makler“ an.

„Als am 13. Juni 1878 der Berliner Kongreß eröffnet wurde, betraten zwei Völker erstmals das Parkett der großen Welt: die Deutschen als gleichberechtigte Partner der Großmächte und die Armenier, von deren Existenz die Welt praktisch zum erstenmal erfuhr.“78

Freilich unter völlig unterschiedlichen Voraussetzungen: die Deutschen als selbstlose Vermittler; die Armenier als Bittsteller, die schlechte Karten hatten im Poker der Großmächte. Briten und Deutsche waren nicht wirklich an der Durchsetzung von Reformen interessiert. Bismarck ging es nur darum, „das orientalische Geschwür offen zu halten und dadurch die Einigkeit der anderen Großmächte zu vereiteln und unseren eigenen Frieden zu sichern.“79 Und der englische Außenminister Lord Salisbury glaubte „weder an die Reformen in der Türkei noch an irgendeinen wirksamen Schutz der Christen.“ Sein Ziel war „einzig und allein, Rußland mit allen Mitteln von der Besetzung des türkischen Armeniens abzuhalten.“80 Auf dem Kongress, an dem die Vertreter der sechs Großmächte und der Türkei teilnahmen, wurde die schon zuvor ausgehandelte Neufassung des Friedensvertrags am 8. Juli 1878 verabschiedet. Die Europäer sicherten sich einen Großteil des Osmanischen Reiches in Europa, nachdem die Briten Zypern erhalten hatten. Russland musste alle Erwerbungen, außer denen im transkaukasischen Grenzgebiet, räumen. Die Armenier gingen ganz leer aus. Im Vertrag von San Stefano war die Durchführung der Reformen unter die Kontrolle Russlands gestellt worden. Im Berliner Vertrag aber garantierten die Signatarmächte für die Durchführung der Reformen. Die osmanische Regierung sollte die europäischen Mächte nur noch regelmäßig von den getroffenen Reformmaßnahmen unterrichten, auf einen Faustpfand wurde verzichtet. So komplizierte man die durchzuführenden Reformen; ja man machte sie sogar undurchführbar: Denn „was alle angeht, geht niemanden was an“, kommentierte der Herzog von Argyll.81

Es war also nicht nur wieder alles beim Alten, sondern in Wahrheit noch schlimmer für die Armenier geworden. Dazu schrieb Fridtjof Nansen, der spätere Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen:

„Die Armenier wären weit besser gefahren, wenn sich die europäischen Völker und ihre Regierungen ihrer Sache niemals angenommen hätten. Die Türken konnten ungestört blutige Rache an ihren armenischen Untertanen nehmen, um derentwillen man so unwillkommener Kritik ausgesetzt war und demütigende Versprechungen abzugeben sich gezwungen sah.“82

Das Osmanische Sultanat hatte die Legitimität der Intervention der Großmächte anerkennen müssen und sah sich unter die offizielle Vormundschaft dieser Mächte gestellt. Nach dem Berliner Kongreß mußten sich die Türken ermutigt fühlen, „ihre Herrschaft mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten, denn diese Herrschaft werden sie, wenn sie sie einmal verloren haben, niemals wiedergewinnen können.“83

4.2.6. Die systematischen Armenierverfolgungen ab 1893

4.2.6.1. Die Armenierpolitik Abdul Hamids

Die im Berliner Vertrag versprochenen Reformen wusste Sultan Abdul Hamid II. zu verhindern. Er dosierte sein Vorgehen so, dass er das, was er als einziges fürchtete - und was alleine die Armenier noch hätte retten können - vermeiden konnte: Die bewaffnete Intervention der Großmächte. Sein Manövrierfeld erwies sich als weit größer als gedacht. Er brauchte allerdings siebzehn Jahre, um das zu erkennen. Bis dahin wandte er Tricks, wie beispielsweise Veränderung der Verwaltungsgrenzen, an. Nach den Statistiken, die die armenische Delegation in Berlin vorgelegt hatte, lebten rund drei Millionen Armenier in der Türkei und stellten in den Vilayets Erzurum und Sivas die absolute Mehrheit der Bevölkerung. Die Regierung änderte daraufhin die Grenzen der insgesamt sechs neugeschaffenen Provinzen so, dass in keiner der neuen kleineren Vilayets die Armenier die Mehrheit bildeten.84 Abdul Hamid gelang es, die Reformen systematisch zu verschleppen. Nach einer Protestnote der Großmächte im Juni 1880, in der die unerträglichen Zustände in Armenien angeprangert wurden, verschlimmerte sich die Lage der Armenier noch. Mehr denn je waren sie der Willkür der Paschas und Beamten preisgegeben.

Der Sultan beließ es nicht bei Tricksereien und passivem Widerstand gegen die Reformen. So wurden die weiteren 200.000 kriegerischen Tscherkessen, die nach dem Krieg 1878 immigriert waren, gezielt in den armenischen Provinzen angesiedelt. Den hereinströmenden zehntausenden Tscherkessen begegneten sogar die kampferprobten Kurden „nur mit einem gewissen Schrecken“, wie ein französischer Reisender berichtete.85 Insgesamt sollen zwischen 1878 und 1904 nach den Angaben des Leiters der osmanischen Einwanderungsbehörde 850.000 Mohadjirs genannte moslemische Zuwanderer in die Wohngebiete der Armenier eingewandert sein, neben denen aus Russland auch die aus dem Balkan ausgewiesenen Türken. Die osmanische Regierung hatte den Flüchtlingen Brot und Arbeit versprochen, doch niemand kümmerte sich schließlich um sie.

„Statt eine Politik zu betreiben, die durch Einigung der verschiedenen ethnischen Gruppen das Osmanische Reich hätte stärken können, wollte der Sultan die nichttürkischen Volksgruppen schwächen, indem er sie gegeneinander hetzte.“86

Bevölkerungsdruck durch Flüchtlinge - besonders im Osten - sowie Ideologieimport - besonders durch die akademischen Armenier - sollten dem armenischen Millet sehr schnell eine brisante Mischung aus Unzufriedenheit, Verzweiflung und falschen Versprechungen bescheren. Die Mixtur war explosiv, weil der Sultan um so härter reagierte, je mehr sich die fortschrittlichen Armenier, die sich ja unter dem Schutz der Berliner Signatarmächte wähnten, organisierten. Als es im April 1893 zu Unruhen kam, glaubten ausländische Diplomaten an das Ausbrechen einer allgemeinen Revolution. Einer der wenigen, die nicht an eine Revolution glaubten, war der Chef der deutschen Militärmission Major Goltz. „Der Sultan wird die Krise bestimmt überleben“, schrieb Goltz, „indem er, um sich zu halten, nach altbewährten byzantinischem Rezept seine Untertanen gegeneinander hetzt.“87

Um das Auseinanderfallen des Reiches zu verhindern, bemühte sich die Hohe Pforte darum, das Imperium durch die Ideologie des Panislamismus zusammenzuhalten. Bei dem Versuch, die Muslime zu mobilisieren, um so den Staat zu erhalten, lenkte Abdul Hamid den Unwillen der Mohammedaner auf die Armenier.88 Von diesem Herrschaftsinstrument hatten frühere Sultane nur äußerst selten Gebrauch gemacht. Doch nur mit der kriegerischen Religion des Propheten konnte Abdul Hamid die Muslime gegen eine nichtmuslimische Bedrohung hinter sich scharen. Anfang 1889 erklärte er gegenüber dem ungarischen Turkologen Vámbéry: „Ich werde die Armenier jetzt bald auf Vordermann bringen.“89 Sein Großwesir Isset Pascha sprach gegenüber Vámbéry erstmals offen aus, worin die Lösung der Armenierfrage seiner Meinung nach bestehe: In der Beseitigung der Armenier.

„Das war von nun an und blieb bis heute leitender Gedanke der türkischen Politik.“, schrieb 1918 Samuel Zurlinden.90 Abdul Hamid führte sogar ein System der Belohunugen ein. Diese Belohnungen wirkten als Ermutigung für Überfälle und Massaker an Armeniern. „Die muslimische Bevölkerung begann sogar, solche Übergriffe als religiöse Pflicht anzusehen.“Das wichtigste Werkzeug des Sultans wurden die Kurden, oder genauer, die kriegerischen Nomaden.

4.2.6.2. Exkurs: Kurden und Armenier

Die Kurden waren während des 15. und 16. Jahrhunderts in den westarmenischen Siedlungsraum eingewandert. Die Sultane ließen die sunnitischen Kurdenstämme gezielt ansiedeln, um die armenischen Neueroberungen gegen den schiitischen Iran zu festigen. Während der Schwerpunkt der armenischen Ansiedlungen in der Nähe des Ararat lag, ließen sich die nomadischen Kurden vor allem in den Bergen südlich des Vansees nieder. In den Taurustälern lebten in einem 1000 km langen und 250 km breiten Gebiet mehr als eine Million Kurden in einer feudalistischen Gesellschaftsstruktur. Ihre Anführer - „Beys“ oder „Aghas“ genannt - herrschten über eine Krieger- Aristokratie. Die Kurden waren keine Glaubensfanatiker, im Koran sahen sie vor allem einen Kodex, der es ihnen erlaubte, Waffen zu tragen und nach eigener Art zu leben.

[...]


1 Johannes Lepsius, Deutschland und Armenien 1914- 1918. Sammlung diplomatischer Schriftstücke, (1919) Bremen 1986, S. 36

2 In fast jedem Werk findet man eine Diskussion über die Zahl der Opfer. Die Zahlen schwanken zwischen 200.000 (türkische Version) und 1,5 Millionen (armenische Version). Von neutraler Seite wird von mindestens 1,2 Millionen ausgegangen. Vgl. hierzu Johannes Lepsius, Der Todesgang des Armenischen

3 Zumeist handelte es sich dabei um Werke von armenischen Literaten, die jedoch nicht übersetzt wurden. Vgl. Medarus Brehl, Peter Balakian: Die Hunde vom Ararat. In: Zeitschrift für Genozidforschung, Vol. 2,2 / 2000, S. 135

4 Winston Churchill nach Abschluß des Friedensvertrags von Lausanne 1923. Vgl. Yves Ternon, Tabu Armenien, Frankfurt/M. 1981, S. 237

5 Max Nussberger / Werner Kohlschmidt. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 1958, Bd. 1, S. 658

6 Ralph Kohpeiß, Der historische Roman der Gegenwart in der BRD. Stuttgart 1993, S. 30

7 Kohpeiß (1993), S. 29

8 Kohpeiß (1993), S. 31

9 Vgl. Ina Schabert, Der historische Roman in England und Amerika, Darmstadt 1981, S. 4

10 Kohpeiß (1993), S. 32

11 Hans- Christoph Buch bezeichnet diesen Roman gar als episches Werk und vergleicht es mit den historischen Romanen von A. Döblin und Thomas Mann, die zur gleichen Zeit entstanden. Vgl. H.- C. Buch, Ein Genozid der offiziell nie stattgefunden hat. In: Marcel Reich- Ranicki (Hg.), Romane von gestern - heute gelesen. Bd. 3, S. 28

12 Kohpeiß (1993), S. 33f.

13 Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nachteil und Nutzen der Historie für das Leben, S. 290. In: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzimo Montinari, Bd. 1. München 1988, S. 243- 334 (Erstausgabe 1874)

14 Vgl. ebda., S. 57

15 Vgl. Kohpeiß (1993), S. 35

16 Alfred Döblin, Der historische Roman und wir. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur. Freiburg i.Br. 1963, S. 173

17 Ebda., S. 173- 174

18 Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgart 1986, S. 64

19 Vgl. White (1986), S. 109- 110

20 Vgl. White (1986), S. 145

21 Kohpeiß (1993), S. 37

22 Vgl. White (1986), S. 145

23 Vgl. Kohpeiß (1993), S. 38

24 Vgl. Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 15- 16. In: Ders. und Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/M. 1988

25 G. Santayana, zitiert nach Assmann (1988), S. 16

26 Vgl. Assmann (1988), S. 16

27 Alexander von Bormann, Dokumentarische Phantastik, S. 90. In: Thomas Kraft (Hg.), Edgar Hilsenrath, Das Unerzählbare erzählen. München 1996

28 Ebda.

29 Vgl. Artem Ohandjanian, Armenien. Der verschwiegene Völkermord, Wien 1989, S. 17

30 Vgl. Yves Ternon, Tabu Armenien. Frankfurt/M. 1981, S. 13, sowie Ohandjanian (1989), S. 17- 18

31 Vgl. Ternon (1981), S. 16

32 Nach dieser Doktrin ist die Natur Jesu Christi sowohl göttlicher als auch menschlicher Natur. Die Armenier blieben ihrer monophysitischen Lehre treu und entwickelten von nun an ihre eigene Theologie, ihre Riten und Traditionen. Vgl. Ternon (1981), S. 17

33 Vgl. Tessa Hofmann, Annäherung an Armenien. München 1997, S. 42, sowie Ternon (1981), S. 19

34 Vgl. Ternon (1981), S. 19

35 Vgl. Hofmann (1997), S. 46- 50, sowie Ternon (1981), S. 20- 21

36 Vgl. Hofmann (1997), S. 50- 53

37 Vgl. Hofmann (1997), S. 59- 63

38 Vgl. Hofmann (1997), S. 68

39 Vgl. Ohandjanian (1989), S. 18

40 Vgl. Hofmann (1997), S. 73- 75

41 Hofman (1997), S. 76

42 Wolfgang Gust, Der Völkermord an den Armeniern. München 1993, S. 73

43 Vgl. Hofmann (1997), S. 53f.

44 Hofmann (1997), S. 70

45 Vgl. Gust (1993), S. 63- 64

46 Ternon (1981), S. 22. Nach M. Varandian, Les Origines du Mouvement arménien, Bd. 1, Genf 1912

47 Im 19. Jahrhundert kamen noch das katolik millet und das ermeni protestant millet hinzu.

48 Die höchste religiöse Autorität lag beim Katholikos von Etschmiadzin (am Ende des 18. Jh. zu Russisch- Armenien gehörig). Der Patriarch von Konstantinopel war in der Kirchenhierarchie jedoch noch unter anderen Bischöfen angesiedelt, stellte aber die einzige weltliche Autorität dar, die die Regierung anerkannte. Diese paradoxe Situation zwang die Armenier ihm schrittweise mehr Autorität zu verleihen. (Vgl. Ternon (1981), S.25)

49 Vgl. Mihran Dabag, Jungtürkische Visionen. In: M.Dabag/K.Platt(Hg.), Genozid und Moderne, Opladen 1998, Bd. 1, S.160f., sowie Hofmann (1997), S. 54f.

50 Hofmann (1997), S. 54- 55

51 Vgl. Taner Akcam, Armenien und der Völkermord, Hamburg 1996, S. 19f.

52 Vgl. Dabag (1998), S. 160f., sowie Gust (1993), S. 66

53 Noch 1991, während des Golfkrieges, sagte der türkische Staatschef Turgut Özal: „Wir sind ein Volk von Kriegern.“ (Gust (1993), S. 69)

54 Vgl. Samuel Zurlinden, Die Armenier. In: Ders., Der Weltkrieg, Bd. 2, Zürich 1917- 18, S. 578

55 Vgl. Gust (1993), S. 68

56 Johannes Lepsius gilt als der „Engel der Armenier“, der sich während des Völkermordes 1915- 1918 unermüdlich für die Opfer einsetzte und bei der türkischen und deutschen Regierung immer wieder intervenierte.

57 Vgl. Gust (1993), S. 68

58 Zurlinden (1918), S. 579

59 Gust (1993), S. 68

60 Vorherige Zitate nach Gust (1993), S. 60 - 61

61 Gust (1993), S. 61

62 Zurlinden (1918), S. 579

63 Ternon (1981), S. 29

64 Bezeichnung für den osmanischen Regierungssitz in Konstantinopel

65 Vgl. Akcam (1996), S. 21

66 Gust (1993), S. 69f.

67 Gust (1993), S. 67

68 Vgl. Hofmann (1997), S. 77

69 Akcam (1996), S. 22

70 Gust (1993), S. 78

71 Vgl. Hofmann (1997), S. 78

72 Moslems erwiesen sich gegen christliche Missionierungsversuche resistent.

73 Vgl. Hofmann (1997), S. 81ff., sowie Gust (1993), S. 77.ff

74 Vgl. Ternon (1981), S. 30

75 Ohandjanian (1989), S. 24

76 Ternon (1981), S. 42

77 Ternon (1981), S. 44

78 Gust (1993), S. 86

79 Georg Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. München 1984, S. 18

80 Peter Lanne, Armenien. München 1977, S. 89

81 Gust (1993), S. 88

82 Ebda.

83 Ternon (1981), S. 46

84 Vgl. Gust (1993), S. 89

85 Ebda., S. 90

86 Ternon (1981), S. 47

87 Ohandjanian (1989), S. 28

88 Vgl. Akcam (1996), S. 25

89 Gust (1993), S. 97

90 Zurlinden (1918), S. 596

Ende der Leseprobe aus 138 Seiten

Details

Titel
Der Völkermord an den Armeniern in den Romanen von Werfel, Hilsenrath, Mangelsen und Balakian
Hochschule
Universität Lüneburg  (Fachbereich III - Kulturwissenschaften)
Note
2,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
138
Katalognummer
V22881
ISBN (eBook)
9783638261159
ISBN (Buch)
9783638701518
Dateigröße
1561 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Völkermord, Armeniern, Romanen, Werfel, Hilsenrath, Mangelsen, Balakian
Arbeit zitieren
Stefan Karsten (Autor:in), 2002, Der Völkermord an den Armeniern in den Romanen von Werfel, Hilsenrath, Mangelsen und Balakian, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/22881

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