Die Vielzahl unterschiedlicher Deutungsversuche, die im Laufe der Zeit unternommen worden sind, um die Werke Kafkas im besten Sinne zu begreifen, deuten bereits darauf hin, dass es den Interpretationsansatz schlechthin nicht zu geben scheint. Es liegt ja eben in der Natur literarischer Texte, dass in ihnen unterschiedliche Sinnsysteme vereint sind, die sich überlagern und ineinander verflochten sind, so dass sie gleichermaßen auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Eine ganzheitliche Interpretation kann also nur als ein aus vielen unterschiedlichen Lesarten bestehendes Geflecht verstanden werden. Dies gilt im Besonderen auch für Das Urteil, dessen Untersuchung hinsichtlich unterschiedlicher Lesarten Gegenstand dieser Arbeit sein soll.
Aus diesem Grund werde ich im Folgenden auf die vier gängigsten Interpretationsansätze des Urteils eingehen. Diese sind der biographische, der soziologische, der psychologische bzw. psychoanalytische und der dekonstruktive Ansatz.
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Inhalt
1. Einleitung
2. Das Urteil
3. Vier Interpretationsansätze
3.1 Biographischer Interpretationsansatz
3.1.1 Die Protagonisten
3.1.2 Das Heiratsthema im Urteil
3.1.3 Die Beziehung zwischen Vater und Sohn
3.2 Psychologischer Interpretationsansatz
3.2.1 Der ödipale Konflikt
3.2.2 Das „Korrespondenzverhältnis“ zwischen Georg und dem Freund
3.3 Soziologischer Interpretationsansatz
3.3.1 Die Sprache der Macht
3.4 Dekonstruktiver Interpretationsansatz
Literatur
1. Einleitung
Die Vielzahl unterschiedlicher Deutungsversuche, die im Laufe der Zeit unternommen worden sind, um die Werke Kafkas im besten Sinne zu begreifen, deuten bereits darauf hin, dass es den Interpretationsansatz schlechthin nicht zu geben scheint. Es liegt ja eben in der Natur literarischer Texte, dass in ihnen unterschiedliche Sinnsysteme vereint sind, die sich überlagern und ineinander verflochten sind, so dass sie gleichermaßen auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Eine ganzheitliche Interpretation kann also nur als ein aus vielen unterschiedlichen Lesarten bestehendes Geflecht verstanden werden. Dies gilt im Besonderen auch für Das Urteil, dessen Untersuchung hinsichtlich unterschiedlicher Lesarten Gegenstand dieser Arbeit sein soll.
Aus diesem Grund werde ich im Folgenden auf die vier gängigsten Interpretationsansätze des Urteils eingehen. Diese sind der biographische, der soziologische, der psychologische bzw. psychoanalytische und der dekonstruktive Ansatz.
2. Das Urteil
Die Erzählung Das Urteil ist in der Nacht vom 22. September 1912 entstanden. Über diesen Tag schreibt Kafka ein halbes Jahr später an seine Verlobte, Felice Bauer, er wollte „nach einem zum Schreien unglücklichen Sonntag“ anfänglich „einen Krieg beschreiben“[1]. Im Zusammenhang mit dieser Grundstimmung ist es nicht verwunderlich, dass sich im Verlauf der Geschichte tatsächlich ein Krieg zwischen Vater und Sohn entwickelt, der auf dem Schlachtfeld der verbalen und nonverbalen Kommunikation ausgetragen wird.
Dass Kafkas Texte häufig von Begriffen wie Schuld, Urteil, Strafe und Verhör geprägt sind, ist sicherlich auch seiner Tätigkeit als Jurist und der damit einhergehenden intensiven Auseinandersetzung mit diesen Begriffen zu-zuschreiben. Besonders Titel wie Der Prozeß, Vor dem Gesetz, In der Strafkolonie und eben auch Das Urteil lassen die enge Verbindung Kafkas mit einer juristisch geprägten Sprache erkennen. Häufig begegnet der Leser Figuren, die in irgendeiner Form verurteilt werden, wobei es sich bei der urteilenden Instanz sowohl um konkrete Personen handeln kann, wie dies im Urteil, in Elf Söhne oder auch beim Amerika- Roman der Fall ist, als auch um eine unbestimmbare und somit unberechenbare Menge von Urteilsinstanzen, deren Richtgewalt sich sogar auf Leben und Tod bezieht, wie es sich im Prozeß abspielt.
Dass Kafka seinen eigenen Vater als urteilende Instanz betrachtet hat, wird dadurch deutlich, dass in Verbindung mit ihm häufig von Urteil, Verurteilung und Schuld die Rede ist. Im Brief an den Vater heißt es bereits zu Beginn:
Faßt Du Dein Urteil über mich zusammen, so ergibt sich, dass Du mir zwar etwas geradezu Unanständiges oder Böses nicht vorwirfst [...], aber Kälte, Fremdheit, Undankbarkeit. Und zwar wirfst Du es mir so vor, als wäre es meine Schuld, als hätte ich etwa mit einer Steuerdrehung das Ganze anders einrichten können, während Du nicht die geringste Schuld daran hast, es wäre denn die, daß Du zu gut zu mir gewesen bist.[2]
So wird doch Kafka seit jeher begleitet von Fragen der Schuld oder Unschuld und von dem, im Falle der Schuld, verhängten Urteil des Vaters, und schuldig gemacht hat sich Kafka gegenüber seinem Vater - schenken wir seinen Schilderungen glauben - eigentlich bei allem, was er tat.
Wie aber wird im Falle des Urteils Schuld zugewiesen? Gerhard Neumann sieht die Antwort auf diese Frage in dem Moment, in dem das Gespräch zwischen Vater und Sohn zu einem „Ritual der Wahrheitsfindung deklariert und umfunktioniert“[3] wird. Dies geschieht, als der alte Bendemann fordert, „die volle Wahrheit“[4] zu erfahren und Georg im Folgenden eindringlich bittet, ihn nicht zu „täuschen“. An dieser Stelle wird das Gespräch zu einem Verhör, in dem Georg der Verhörte ist, der sich zu verteidigen hat, der dem Vater die wirkliche Existenz des Freundes durch objektiv überprüfbare Tatsachen beweisen muss. Dass der objektive Beweis des Sohnes nicht den gewünschten Effekt hat, begründet Gerhard Neumann wie folgt: „Gerechtigkeit existiert nicht als eine metaphysische Gegebenheit außerhalb des Geschehens, an der dieses gemessen werden könnte; sie entsteht vielmehr als Verdikt innerhalb der Auseinandersetzung der Partner.“
Während sich der Sohn noch der Hoffnung hingibt, eine Diskussion mit dem Vater auf der sachlichen und vorurteilsfreien Ebene führen zu können, hat sich der Vater bereits als Urteilsinstanz eingesetzt und hat nun Macht über die Interpunktion der Rede. Dieses Versäumnis Georgs lässt sich im Verlauf der Geschichte nicht mehr aufholen.
Die Problematik der Machtsprache werde ich unter 3.3.1 noch eingehender diskutieren.
3. Vier Interpretationsansätze
3.1 Biographischer Interpretationsansatz
3.1.1 Die Protagonisten
Dass sich in Kafkas Geschichte Das Urteil tatsächlich Verbindungen zu seinem biographischen Hintergrund ziehen lassen, zeigt bereits die Wahl der
Namen seiner Protagonisten, wie es Kafka selbst in seinen Aufzeichnungen vom Februar 1913 beschreibt: „Georg hat so viel Buchstaben wie Franz. [...] Bende aber hat ebensoviele Buchstaben wie Kafka und der Vokal e wiederholt sich an den gleichen Stellen wie der Vokal a in Kafka.“[5] Ein ähnliches Kryptogramm des Namens Kafka findet sich auch in der Erzählung Die Verwandlung, in der die Hauptperson Gregor Samsa heißt.
Auch der Name der Verlobten Georg Bendemanns, Frieda Brandenfeld, lässt Bezüge zur damaligen Verlobten Kafkas, Felice Bauer, erkennen. Diese haben nicht nur die Anfangsbuchstaben F. B. gemein. Zunächst nannte Kafka Bendemanns Verlobte Frieda Brandenburg. Die Tatsache, dass Kafka seine Verlobte in Berlin kennen gelernt hatte, lässt einmal mehr den Schluss zu, dass auch hier Bezüge zu Kafkas Leben auftauchen. Durch die Ersetzung des Suffixes „-burg“ durch „-feld“ wurde der Name zwar verändert und eine Verbindung zur Mark Brandenburg verschleiert, die inhaltliche Ähnlichkeit der beiden Namensteile blieb jedoch erhalten. Auch hat der Vorname „Frieda ebensoviel Buchstaben wie Felice.“[6] Diese offensichtlich sehr sorgfältig durchdachte Wahl der Namen und die hiermit einhergehende Verquickung von tatsächlichen Figuren aus Kafkas Leben und den erfundenen Protagonisten der Geschichte lassen die Annahme zu, dass es ein Anliegen Kafkas war, seine problematischen Beziehungen zu diesen Personen zu verarbeiten. Diese Annahme unterstützen auch eigene Aussagen Kafkas: „Der Roman bin ich, meine Geschichten sind ich.“[7]
Bereits die Widmung „Für F.“, womit Kafkas damalige Verlobte Felice Bauer gemeint ist, macht deutlich, dass die Entstehung des Textes unmittelbar mit deren Begegnung und dem daraus resultierenden Briefwechsel verbunden ist. Auffallend ist aber, „wie Kafka bemüht bleibt, die Beziehungen zwischen literarischem Text und Briefrede zu etablieren und zu verleugnen, den Namen zugleich als Kryptogramm und öffentliches Bekenntnis zur Geltung zu bringen sucht.“[8]
So sind auch in der Figur des Vaters im Urteil Bezüge zur Person des Vaters Kafkas zu finden. Im Urteil beschreibt Georg seinen Vater als „Riese“, was eindeutige Rückschlüsse auf den im Herbst des Jahres 1919 entstandenen Brief an den Vater aufweist, in dem Kafka schreibt: „Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit“[9], „Du warst so riesenhaft in jeder Hinsicht.“[10] Der Vater jedoch hat keinen eigenen Namen im Urteil,
womit diese Figur einerseits einen beliebigen, ersetzbaren Charakter bekommt. Andererseits wird die Vaterfigur stilisiert als Vertreter des autoritären Familienoberhauptes, der Kafkas Vater tatsächlich war. Auch hier wird das Spannungsverhältnis zwischen familiärer Intimität und literarischer Öffentlichkeit, auf dessen Basis Kafka seine Geschichte wahrzunehmen scheint, deutlich.[11]
Aber auch andere Stellen im Urteil lassen auf eine Beziehung zwischen Georg Bendemanns Vater und Kafkas Vater, Herman Kafka, schließen. Wenn Georg sich erinnert, dass der Vater den Freund in der Fremde „nicht besonders gern“[12] hatte, so zeigen sich hier Verbindungen zu der Kritik, die Hermann Kafka häufig an den Freunden seines Sohnes äußerte und die Franz Kafka im Brief an den Vater mit den Worten kommentiert: „[...] für Leute, die mir lieb waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der Hand.“[13] Auch der Vorwurf des Vaters an Georg, er gehe „im Jubel durch die Welt“[14], während der Vater, „verfolgt vom ungetreuen Personal“[15], arbeiten muss, ist Kafka nicht unbekannt. So war doch Herman Kafka der Meinung, sein Sohn lebe in „Saus und Braus“[16], während er, der Vater, sein ganzes Leben schwer hatte arbeiten müssen. In diesem Zusammenhang sei auch die „Narbe aus den Kriegsjahren“[17] am Oberschenkel des Vaters genannt, an die Georg erinnert wird, als jener sein Hemd hochzieht. Diese deuten wiederum auf die Entbehrungen Hermann Kafkas hin, die er während seiner Kindheit erleben musste.[18]
Auch die im Urteil zentrale Figur des Freundes taucht im Leben Kafkas auf: „Ich habe bei der Beschreibung des Freundes viel an Steuer gedacht.“[19] Diese Aussage bezieht sich auf einen Jugendfreund Kafkas, von dem bekannt ist, dass er sich im Ausland niedergelassen hat.
[...]
[1] Franz Kafka: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hrsg. Erich Heller und Jürgen Born. Frankfurt a. M.: Fischer 1967, S. 394.
[2] Franz Kafka: Brief an den Vater. Hrsg. Michael Müller. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH und Co. 1995, S. 8.
[3] Gerhard Neumann: Franz Kafka. Das Urteil. Text, Materialien, Kommentar. München: Carl Hanser Verlag 1981, S. 98.
[4] Franz Kafka: Das Urteil und andere Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag GmbH 1998 (63. Aufl.), S. 13.
[5] Franz Kafka: Tagebücher (Textband). Hrsg. Hans Gerd Koch et al. Frankfurt am Main: S. Fischer 1990. S. 491.
[6] Müller: Erläuterungen und Dokumente, S. 12.
[7] Kafka: Briefe an Felice..., S. 226.
[8] Neumann: Franz Kafka, S. 39.
[9] Kafka: Brief an den Vater, S. 12.
[10] Kafka: Brief an den Vater, S. 22.
[11] Vgl. Neumann: Franz Kafka, S. 39 f.
[12] Kafka: Das Urteil, S. 15
[13] Kafka: Brief an den Vater, S. 15.
[14] Kafka: Das Urteil, S. 18.
[15] Kafka: Das Urteil, S. 18.
[16] Kafka: Brief an den Vater, S. 7.
[17] Kafka: Das Urteil, S. 17.
[18] Vgl. Kafka: Brief an den Vater, S. 25.
[19] Kafka: Tagebücher, S. 491.