Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Einordnung in den historischen Kontext mit Fokussierung auf die Kunstszene in Deutschland und Russland
3. Kandinskys erste Berührungen mit der Kunst / Aufbruch nach München
4. Wassily Kandinsky und Arnold Schönberg – Analyse einer Freundschaft
5. Zusammenfassung und Kommentar
6. Literaturverzeichnis
1. Einführung
Wassily Kandinsky gilt als einer der bekanntesten Vertreter abstrakter Kunst; er entwickelte eine einzigartige Farb- und Formenlehre. Seine Werke inspirierten und bereicherten die europäische und internationale Kunstszene.
1866 wurde Kandinsky als Sohn eines Teehändlers in Moskau geboren, wenige Jahre später siedelte seine Familie nach Odessa über.[1] Als Neunzehnjähriger kehrte er zurück in seine Heimatstadt und studierte Rechtswissenschaften, Nationalökonomie und Ethnologie an der Lomonossow-Universität. Neben seinem Studium beschäftigte er sich intensiv mit Kunst, experimentierte mit Ölfarben. 1896 lehnt er eine Dozentur im estnischen Dorpat ab und beschließt stattdessen nach München zu gehen, um dort seine künstlerischen Ambitionen zu vertiefen – ein Entschluss, der seine wissenschaftliche Karriere beendet.[2]
Die nächsten 20 Jahre seines Lebens verbringt er in der bayrischen Metropole, trifft dort einflussreiche Künstler und Impulsgeber[3] und entwickelt sich schließlich vom Anhänger des Expressionismus zum Maler des Abstrakten.[4]
Dank zahlreicher persönlicher Schriften Kandinskys ist es möglich, seinen Werdegang detailliert nachzuvollziehen. In meiner Hausarbeit möchte ich diese Quellen genauer analysieren und mich, aufgrund der langen Zeitspanne die Kandinskys Aufenthalt in München umfasst, auf eine, meiner Meinung nach besonders prägende Begegnung beschränken – Gemeint ist hiermit seine Freundschaft und sein fachlicher wie persönlicher Austausch mit dem Komponisten Arnold Schönberg.
Um ein möglichst facettenreiches Bild des Menschen und Künstlers Kandinsky zu skizzieren, werde ich seine Erinnerungen an die Heimatstadt Moskau in die Analyse mit einbeziehen. Bereits im frühen Kindesalter empfand er die russische Metropole mit ihren großstädtischen Charakteristika als Ursprung seines kreativen Fühlens und Wirkens.[5] Diese Dokumente sind auch Initiatoren meiner Faszination für Kandinsky: durch Verwendung sinnästhetischer Elemente gelingt es ihm seine Erinnerungen greifbar, fast plastisch erscheinen zu lassen. Er geht mit seinen Beschreibungen weit über bloße Sprachlichkeit hinaus, lässt somit seine Gedanken buchstäblich lebendig werden.
Die Aussagekraft seiner Niederschriften und die Relevanz der Münchener-Zeit für sein künstlerisches Schaffen sind die Gründe warum ich die von mir gewählte Fragestellung in der Hausarbeit vertiefen möchte. Eine Bearbeitung dieses Themas wird auch der übergeordneten Thematik „Europäische Reflexionen: Russland und Deutschland. Zur Geschichte der russisch-deutschen Beziehungen in Wissenschaft, Politik und Kultur“ gerecht. Die Beziehung des gebürtigen Moskauers Kandinsky mit dem Komponisten lässt sich, dank des archivierten Schriftverkehrs gut analysieren. Sie gibt, wenn auch nur im Milieu der Kunst, Aufschluss über russisch-deutsche Beziehungen, Kooperationen und Freundschaften um die Jahrhundertwende. (Anmerkung: Schönberg war zwar Österreicher, er arbeitete und wirkte in diesem Zeitraum jedoch auch in Deutschland)
2. Einordnung in den historischen Kontext mit Fokussierung auf die Kunstszene in Deutschland und Russland
Rückblickend betrachtet gilt die Kunstepoche um die Jahrhundertwende in Europa als eine Zeit des Aufbruchs und der Neuerungen. Unkonventionelle Ausdrucks-möglichkeiten, eine Vielfalt an Stilen und Kunsttheorien markieren den Weg in die Moderne. Sie beendeten die historistische Phase des künstlerischen Stillstandes: Mit Stuck, antiken Verzierungen und monumentaler Bauweise versteckte man die rohe Realität der aufkommenden Industrialisierung und Technisierung.[6] Durch die Zitation vergangener Stilepochen versagten sich Architektur, Kunst und Inneneinrichtung so jeden eigenständigen künstlerischen Wert.[7]
Als Gegenentwurf formierte sich ausgehend von Zentraleuropa die Bewegung des Jugendstils. Charakterisiert durch blumige, geschwungene Ornamente und fließende Linien dominierte die neue Gestaltungsform bald alle Lebensbereiche.[8] In der Malerei besann man sich auf die Natur und zelebrierte so die Ästhetik organischer Schönheit.[9] Dem überladenen und in Massenproduktion gefertigten Kitsch des Historismus wurde so eine Kunst- und Gestaltungsform entgegengesetzt, die fragile Schönheit auf konstruktive Weise mit moderner Funktionalität verband.[10]
Die Malerei betreffend blieb die Blütezeit des Jugendstils kurz; der aus Frankreich stammende Impressionismus existierte bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts und stand nun, wenige Jahre nach der Jahrhundertwende im Mittelpunkt des künstlerischen Geschehens in Europa. Die Impressionisten offenbaren in ihren Werken eine gänzlich neue Auffassung des Motivs: es gilt ihnen nicht um Akuratesse oder Symbolgehalt, stattdessen liegt der Fokus ganz auf der Momentaufnahme. Licht, Schatten und Farbenspiel werden im Bild eingefangen – so wie sie dem Künstler erscheinen.[11]
Der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auftretende Expressionismus erweitert die Möglichkeiten des Malers seine Empfindungen auszudrücken. Die Farben ihrer Werke sind intensiver, oft düsterer. Die Thematik geht über die bloße Abbildung eines Moments hinaus – die Darstellung des Motivs wird vor allem durch eigene Gefühle beeinflusst.[12] Kandinsky, der die Jahrhundertwende in München erlebt kommt unmittelbar mit den genannten Kunststilen in Berührung, wird inspiriert und entwickelt sie schließlich, gemäß seinem eigenen Kunstverständnis, weiter.[13] (Hervorzuheben ist hier seine Mitarbeit beim „Blauen Reiter“ einer Künstlergruppierung die von 1911 bis 1914 expressionistische Ausstellungen gestaltete und sich in Aufsätzen zu Kunsttheoretischen Fragen äußerten.[14] ) Kandinsky stellte in seinen frühen Werken oft russisch-folkloristische Motive dar (Beispiel „Russische Schöne in Landschaft, um 1904)[15] und offenbart so eine tiefe Verbundenheit zu seiner Heimat und ihrem Symbolismus.
In Bezug auf die künstlerische Gestaltung scheint ihn die russische Kunst jedoch weniger nachhaltig beeindruckt zu haben als der französische Impressionismus. In seiner Autobiographie „Rückblicke“ erinnert er sich an ein Schlüsselerlebnis: „Vorher kannte ich nur die realistische Kunst, eigentlich ausschließlich die Russen, blieb oft lange vor der Hand des Franz Liszt auf dem Porträt von Repin stehen u. dgl. Und plötzlich zum ersten mal sah ich ein Bild. Daß das ein Heuhaufen war, belehrte mich der Katalog. Erkennen konnte ich ihn nicht. Dieses Nichterkennen war mir peinlich. Ich fand auch, daß der Maler kein Recht hat so undeutlich zu malen. Ich empfand dumpf, daß der Gegenstand in diesem Bild fehlt. Und merkte mit Erstaunen und Verwirrung, daß das Bild nicht nur packt sondern sich unverwischbar in das Gedächtnis einprägt (...)“[16]
Ähnlich eindrückliche Erinnerungen hat Kandinsky auch an die in St. Petersburg ausgestellten Werke Rembrandts.[17] Es zeigt sich, dass ihn vor allem westliche Künstler und Kunststile beeindruckt haben – diese Bewunderung ist der Grundstein seines eigenen Schaffens. Geschuldet ist dies unter anderem dem offenen Kulturaustausch im Europa der Vorkriegszeit, der es möglich machte Maler und Kunstwerke auch über nationale Grenzen hinweg bekannt zu machen.
3. Kandinskys erste Berührungen mit der Kunst / Aufbruch nach München
Kandinskys einzigartiges Kunstverständnis wurzelt in seiner lebendigen, sinnästhetisch geprägten Wahrnehmung. Lange bevor er sich der Malerei verschrieb trat dieses künstlerische Empfinden zu Tage. In seiner Autobiographie „Rückblicke“ beschreibt er frühe Erinnerungen an seine Heimatstadt Moskau: „Die Sonne ist schon niedrig und hat ihre vollste Kraft erreicht, nach der sie den ganzen Tag suchte, zu der sie den ganzen Tag strebte. Nicht lange dauert dieses Bild: noch einige Minuten und das Sonnenlicht wird rötlich vor Anstrengung, immer rötlicher, erst kalt und dann immer wärmer. Die Sonne schmelzt ganz Moskau zu einem Fleck zusammen, der wie eine tolle Tuba das ganze Innere, die ganze Seele in Vibration versetzt.“[18] Farblichen Elementen wird hier, intuitiv, ein klangliches Pendant entgegengesetzt. Beide Sinnerfahrungen gehen so eine faszinierende Symbiose ein. Ausdruck finden sie in einigen frühen, kindlichen Farbexperimenten. Als Dreizehnjähriger nimmt Kandinsky Zeichenunterricht und entwickelt eine wachsende Faszination für farbliche Kombinationen und Gestaltung.
Sein späteres Studium, welches er im Jahre 1886 an der Lomonosov-Universität in Moskau beginnt, wurde jedoch nicht durch künstlerische Ambitionen beeinflusst. Bis 1892 studierte er dort Rechtswissenschaften, Nationalökonomie und Ethnologie.[19] Die Malerei findet im Privaten statt. Rückblickend erinnert er sich: „All diese Wissenschaften habe ich geliebt und denke noch heute mit Dankbarkeit an die Stunden der Begeisterung und vielleicht Inspiration, die sie mir schenkten. Nur verblaßten diese Stunden bei der ersten Berührung mit der Kunst, die allein die Macht hatte mich außer Zeit und Raum zu versetzen.“[20] 1896 beschließt Kandinsky seine akademische Karriere zu beenden. Er lehnt das Angebot einer Dozentur im estnischen Dorpat ab und entschließt sich stattdessen für die Emigration nach München. Die bayrische Großstadt lockte Maler zu dieser Zeit mit einer soliden künstlerischen Ausbildung, galt jedoch nicht, wie Paris, als Zentrum der europäischen Kunstszene.[21] Auch Kandinskys gute Deutschkenntnisse (seine Großmutter war baltischer Herkunft) waren, aller Wahrscheinlichkeit nach, ausschlaggebend für die Wahl Münchens.[22]
[...]
[1] Vgl. Riedl, Peter Anselm: Wassily Kandinsky. Hamburg 1983. S. 11 f.
[2] Vgl. Ebd. S. 14 ff.
[3] Vgl. Ebd. S. 19 ff.
[4] Vgl. Ebd. S. 29 ff.
[5] Vgl. Ebd. S. 9.
[6] Vgl. Sembach, Klaus-Jürgen: Jugendstil die Utopie der Versöhnung. Köln 1993 S. 14 f.
[7] Vgl. Rennhofer, Maria: Die Voraussetzungen // Sammelband (Hrsg. von Maria Rennhofer). Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende in Deutschland und Östereich 1895 – 1914. Wien 1987. S. 17 f.
[8] Vgl. Sembach, Klaus-Jürgen: Jugendstil die Utopie der Versöhnung. Köln 1993, S. 12 f.
[9] Siehe Illustrationen in Rennhofer, Maria, Kunstzeitschriften der Jahrhundertwende in Deutschland und Österreich 1895 – 1914
[10] Siehe Fotografien in Sembach, Klaus-Jürgen: Jugendstil die Utopie der Versöhnung. Köln 1993, S. 18 f.
[11] Vgl. Lindemann, Gottfried und Boekhoff, Hermann: Lexikon der Kunststile Band 2 Vom Barock bis zur pop-art. Braunschweig 1970. S.75 ff.
[12] Vgl. Ebd. S.118 f.
[13] Vgl. Riedl, Peter Anselm: Wassily Kandinsky. Hamburg 1983. S. 24ff.
[14] Vgl. Ebd. S. 55 ff.
[15] Vgl. Ebd. S. 26.
[16] Kandinsky, Wassily: Wassily Kandinsky Rückblick. Mit einer Einleitung von Ludwig Grote und mit acht Farbtafeln. Stuttgart. 1955. S. 15.
[17] Vgl. Riedl, Peter Anselm: Wassily Kandinsky. Hamburg 1983. S. 16.
[18] Kandinsky, Wassily: Wassily Kandinsky Rückblick. Mit einer Einleitung von Ludwig Grote und mit acht Farbtafeln. Stuttgart. 1955. S. 11 f.
[19] Vgl. Riedl, Peter Anselm: Wassily Kandinsky. Hamburg 1983. S. 12 ff.
[20] Kandinsky, Wassily: Wassily Kandinsky Rückblick. Mit einer Einleitung von Ludwig Grote und mit acht Farbtafeln. Stuttgart. 1955. S. 14.
[21] Vgl. Zweite, Armin: Kandinsky zwischen Moskau und München // Sammelband (Hrsg. von Armin Zweite). Kandinsky und München Begegnungen und Wandlungen 1896 – 1914. München 1982. S. 8.
[22] Vgl. Kandinsky, Wassily: Wassily Kandinsky Rückblick. Mit einer Einleitung von Ludwig Grote und mit acht Farbtafeln. Stuttgart. 1955. S. 10.