Leseprobe
Inhalt
I. Einleitung
II. Die französische Sprache im 18. Jahrhundert
1. Sprachtheoretische Hintergründe und Entwicklungen
2. Neologienstreit und abus des mots – Normdebatten im 18. Jahrhundert
3. Die französische Sprache im europäischen Kontext
III. Neologismen in der französischen Sprache im 18. Jahrhundert
1. Neologismen – eine Begriffsklärung
2. Neologismen in der Sprache der französischen Aufklärung
2.1 Einflüsse der Aufklärungsbewegung auf die französische Sprache
2.2 Entlehnungen als charakteristische Neologismen während der Aufklärungsbewegung
2.2.1 Anglizismen
2.2.2 Entlehnungen aus weiteren Sprachen
3. Zwischenfazit
4. Neologismen in der Sprache der Französischen Revolution
4.1 Sprache und Sprachpolitik während der Revolution
4.2 Sprachinterne Neubildungen als charakteristische Neologismen der Französischen Revolution
4.2.1 Neologismen für politische Strömungen und deren Anhänger
4.2.2 Neologismen für politische Extreme und Gegenbewegungen
4.2.3 Neologismen im staatlich-parlamentarischen Bereich
4.2.4 Neologismen für Verwaltungs- und Maßeinheiten
4.2.5 Neologismen des Revolutionskalenders
IV. Fazit
Literaturverzeichnis
I. Einleitung
„ NÉOLOGIER. C´est inventer une expression nouvelle, ou lui donner un sens nouveau. Ceux qui accusent nos bons écrivains d`être néologues, oublient ou ne savent pas qu`il fut un temps où l`on fit le meme reproche à Racine, qu`on regarde maintenant le plus harmonieux, le plus elegant et le plus pur de tous nos écrivains. Ajoutez ce petit chapitre à l`histoire des contradictions de l`esprit humain.”
(Mercier 2009: 333)
Als Louis Sébastien Mercier im Juli 1801 sein Wörterbuch Néologie ou Vocabulaire de mots nouveaux, à renouveler, ou pris dans des acceptions nouvelles veröffentlichte, war er bereits 61 Jahre alt und, trotz einstiger literarischer Erfolge wie beispielsweise dem utopischen Roman L`An 2440 aus dem Jahr 1771, gemeinhin als polemischer Eigenbrötler, als „vieil original absolument déconsidéré“ verschrien (Bonnet in: Mercier 2009: I). Die Französische Revolution war vorüber, mit Napoléon Bonaparte als Erstem Konsul stand nun quasi wieder ein einziger Mann an der Spitze des französischen Staates. Mercier hingegen blieb auch weiterhin ein Mann der Revolution und „einer der letzten, der an die politische Kraft der Wörter und ihrer Definitionen glaubt und an der Tradition der politischen Auseinandersetzung in Form der Klärung der Begriffe festhält“, weshalb die Néologie, das letzte große Werk seines Schaffens, als „ sein Versuch, die Republik zu retten“ interpretiert werden kann (Schlieben-Lange in: Schlieben-Lange 1981: 101). Sein Kampfesgeist und die Polemik, die diesen Versuch kennzeichnen, lassen sich bereits in dem eingangs zitierten Eintrag aus dem Wörterbuch erkennen: die sachliche Klärung der Bedeutung des Verbes néologier erfolgt lediglich in einem einzigen kurzen Satz, der folgende Teil des Eintrags wird durch die Verteidigung Merciers eben jener Handlung, welche das Verb néologier beschreibt, gegen jedwede Gegner und Kritiker ausgemacht. Indem er für sich selbst und Gleichgesinnte die Bezeichnung „nos bons écrivains“ wählt und durch den Verweis auf Racine seine Kritiker zur Revidierung ihrer Meinung aufruft, macht er einerseits seinen Standpunkt als Befürworter von neuen Wörtern und Wortbedeutungen klar, andererseits lässt sich aber auch ein Selbstbild Merciers als ewig Missverstandener erkennen. Dies kommt zudem in der abschließenden Aufforderung dieses Eintrags zur Geltung, die gleichermaßen polemisch und, in gewisser Weise, verbittert wirkt. In seiner Néologie wird „die Freiheit zur Einführung sinnvoller neuer Wörter und Wortbedeutungen […] als eine Errungenschaft der Revolution gesehen“ (Ricken et al. 1983: 21). Neue Inhalte, durch den gesellschaftlich-politischen Umbruch hervorgebracht, erforderten neue Bezeichnungen.
Doch war es nicht nur die Französische Revolution und ihre Sprache, welche im Hinblick auf Neologismen in der französischen Sprache von Relevanz sind. Das gesamte 18. Jahrhundert hindurch fanden neue Wörter und Wortbedeutungen im Zuge politischer, kultureller und philosophisch-wissenschaftlicher Entwicklungen Eingang in die französische Sprache. Im Gegensatz zur grammatischen und syntaktischen Ebene ist die Lexik die Sprachebene, welche durch eine große Dynamik gekennzeichnet ist; in ihr spiegelt sich direkt der enge „Zusammenhang zwischen Sprache, Denken und Gesellschaft“ wider (Ricken et al. 1983: 7). Welcher Zusammenhang besteht also zwischen den zeithistorischen Ereignissen und geistigen Strömungen im 18. Jahrhundert in Frankreich und den Neologismen, die in diesem Zeitraum entstanden bzw. in die französische Sprache aufgenommen wurden? Inwiefern spiegeln diese den damaligen Zeitgeist wider? Welche neuen Inhalte kamen in jenem Jahrhundert auf, die durch neue Wörter bezeichnet wurden? Diese Fragen sollen nun in der vorliegenden Arbeit geklärt werden.
Im ersten Teil soll die Basis für die Untersuchung der Neologismen in der französischen Sprache im 18. Jahrhundert, die den Hauptteil dieser Arbeit darstellt, geschaffen werden. Dazu werden die bedeutendsten Aspekte und Einflüsse dargestellt, die für das Französische in diesem Zeitraum kennzeichnend sind. Hier soll zunächst auf seinerzeitige sprachtheoretische Hintergründe und Entwicklungen eingegangen und diese in Bezug zum Thema dieser Arbeit gesetzt werden. Ausgehend davon wird dann die Thematik der seinerzeitigen Normdebatten besprochen. Hierbei wird der Fokus vor allem auf der Neologien- und Wortmissbrauchskontroverse liegen, da diese von besonderer Relevanz für das zentrale Thema dieser Arbeit sind. An die Betrachtung der Verbreitung und allgemeinen Bedeutung der französischen Sprache im 18. Jahrhundert in Europa schließt sich dann der Hauptteil an. Neben der Klärung des Begriffs Neologismen ist dieser in zwei große Thematiken gegliedert. Zunächst wird die externe Bereicherung des französischen Wortschatzes durch Lehnwörter im Zuge der Aufklärung beleuchtet, wobei hier die Anglizismen ob ihrer besonderen Bedeutung hervorgehoben werden sollen. Des Weiteren wird die interne Wortschatzbereicherung während der Französischen Revolution besprochen. In welchen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens wurden in diesem Zeitraum neue Wörter eingeführt und warum? Was waren die produktivsten Wortbildungsprozesse hierfür? All diese Aspekte sollen hier beleuchtet werden. Im abschließenden Fazit sollen die eingangs formulierten Fragen beantwortet sowie der Charakter und die Bedeutung von Neologismen in der französischen Sprache im 18. Jahrhundert noch einmal herausgestellt werden. Am Beispiel der Neologismen, die in diesem Jahrhundert Eingang in die französische Sprache fanden, möchte ich mit dieser Arbeit beweisen, dass neue Wortschöpfungen und Wortbedeutungen letztlich immer eng mit den gesellschaftlichen und zeithistorischen Entwicklungen in dem Zeitraum, in welchen sie in die Sprache aufgenommen werden, verbunden sind. Es soll aufgezeigt werden, dass die Neologismen im Französischen des 18. Jahrhunderts gewissermaßen als `Kinder des Zeitgeistes` betrachtet werden können.
II. Die französische Sprache im 18. Jahrhundert
Bevor im Folgenden auf die französische Sprache im 18. Jahrhundert im Allgemeinen eingegangen werden soll, ist es zunächst einmal wichtig, die Ausgangslage des Französischen zu Beginn dieses Jahrhunderts zu skizzieren, um dann entsprechend feststellen zu können, welche signifikanten Entwicklungen in dieser Epoche stattfanden.
Für das 17. Jahrhundert in Frankreich ist der „Weg zum Absolutismus“ kennzeichnend, welcher endgültig „1661 mit der Alleinherrschaft Louis XIV erreicht wurde“ (Schroeder 1997: 43). Dies ist im Hinblick auf die französische Sprache insofern relevant, als dass die absolutistische Zentralgewalt im Staat durch „intensive Bemühungen um die Schaffung und Anerkennung einer Norm der französischen Sprache ergänzt“ wurde (Ricken et al. 1983: 10). Somit wurde das 17. Jahrhundert zum `Goldenen Zeitalter` der Sprachnormierung, der Sprachsäuberung und des sprachlichen Purismus. In diesem Zusammenhang sind zwei bedeutende Ereignisse jener Zeit zu benennen: Zum einen ist dies die Gründung der Académie française im Jahr 1635, welche sich nun als übergeordnete Institution mit der Normierung der französischen Sprache und der Fixierung jener Normen beschäftigte, wobei die erste Ausgabe des Wörterbuchs der Académie jedoch erst beinahe 60 Jahre nach ihrer Gründung, im Jahr 1694, erschien (vgl. Geckeler/ Dietrich 1997: 217). Zum anderen sind die 1647 erschienenen Remarques sur la langue française von Claude Favre de Vaugelas zu erwähnen, welche den Begriff des bon usage, also des guten Sprachgebrauchs, seinerzeit prägten und definierten. Vaugelas, der „bekannteste Vertreter einer ganz dem höfischen Vorbild verpflichteten Sprachnorm“ (Ricken et al. 1983: 10), erklärt hier das Französische, welches am königlichen Hof und von zeitgenössischen Schriftstellern gebraucht wird, zur obersten Norm der französischen Sprache. Der bon usage ist die Sprechweise dieser obersten gesellschaftlichen Schicht, während der mauvais usage als Kontrast dazu die Sprechweise des einfachen Volkes beschreibt. Der königliche Hof ist das Maß aller Dinge, sowohl in politischer, als auch in sprachlicher Hinsicht. Während im 16. Jahrhundert noch argumentiert wurde, dass der usage stets durch die Kriterien der raison, des menschlichen Verstandes, begründet sein müsse[1], so erklärt Vaugelas, dass der von ihm definierte bon usage nicht durch die raison begründet werden muss, sondern dass er allein durch die Tatsache legitimiert ist, als dass er „den Sprachgebrauch der Herrschenden repräsentiert“ (Ricken et al. 1983: 11; vgl. auch Schroeder 1997: 46 ff.).
Was die Entwicklung der Lexik betrifft, so ist diese im 17. Jahrhundert einer regelrechten „Hungerkur“ (Vossler 1929: 341) ausgesetzt: die puristischen Bestrebungen um eine von Klarheit und Struktur bestimmte Sprache führten dazu, dass der Wortschatz systematisch verkleinert wurde, wobei hauptsächlich die französische Schriftsprache von dieser Wortschatzreinigung betroffen war (vgl. Schroeder 1997: 52; Geckeler/ Dietrich 1997: 216). So wurden nicht nur vermeintlich überflüssige Archaismen verbannt, auch die Aufnahme neuer Wörter, insbesondere in die Allgemeinsprache, sollte möglichst verhindert werden. „In der Verwendung von neuen Wörtern wurde ein als Barbarismus bezeichneter Fehler gesehen“ - man ging davon aus, dass das Französische über alle nötigen Ausdrucksmittel verfüge und man mit der Verwendung eines neuen Wortes eine unzulängliche Kenntnis der eigenen Sprache beweisen würde (Haßler in: Haßler/ Neis 2009: 1462). Dennoch ist zu sagen, dass auch während des 17. Jahrhunderts einige neue Wörter Eingang in die französische Sprache fanden, seien es Buchwörter aus dem Lateinischen, wie beispielsweise télescope oder molécule, seien es Entlehnungen aus der italienischen Sprache, deren Einfluss auf das Französische nach wie vor vorhanden war, wie z.B. der Italianismus opéra, welcher mit der Einführung der italienischen Oper in Frankreich auch Eingang in die französische Sprache fand (vgl. Klare 2007: 134).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im 17. Jahrhundert nicht nur ein politischer, sondern gewissermaßen auch ein `sprachlicher Absolutismus` in Frankreich vorherrschend war. Die entstandene Tradition der Grammatikalisierung und Normierung der französischen Sprache sollte auch im 18. Jahrhundert fortgesetzt und weiterentwickelt werden. Jedoch ist es nun nicht mehr allein „das Interesse für Normen des vorbildlichen Sprachgebrauchs“, sondern die kritische, philosophische Diskussion linguistischer Fragen und Probleme, die Sprachnorm selbst inbegriffen, welche von so enormer Bedeutung ist, dass „man das 18. Jahrhundert in Frankreich ein Jahrhundert der Sprachdiskussion nennen könnte“ (Ricken et al. 1990: 66), die auch die Entwicklung des Wortschatzes beeinflussen wird.
1. Sprachtheoretische Hintergründe und Entwicklungen
Im Folgenden soll nun auf sprachtheoretische Hintergründe und Entwicklungen, die für das 18. Jahrhundert in Frankreich bedeutsam waren, eingegangen werden, wobei hier der Fokus vor allem auf Condillacs Weiterentwicklung des Locke`schen Sensualismus liegen soll. Da es den Rahmen der Arbeit sprengen würde, detailliert auf alle Aspekte der sprachphilosophischen Ansätze einzugehen, soll hauptsächlich herausgestellt werden, inwiefern diese relevant für die Erweiterung des Wortschatzes durch neue Wörter und Wortbedeutungen sind.
Wie bereits erwähnt war die Diskussion linguistischer Fragen im Zuge der Aufklärungsbewegung kennzeichnend für Frankreich im 18. Jahrhundert. Theorien über den Ursprung der menschlichen Sprache und ihren Zusammenhang mit dem menschlichen Denken sind nun von besonderem Interesse. Als Ausgangspunkt hierfür kann die rationalistische Sprachtheorie Descartes` gesehen werden, deren Grundlagen im 17. Jahrhundert gelegt wurden. Der Rationalismus geht im Hinblick auf den Ursprung der menschlichen Sprache von sogenannten idées innées aus – eingeborenen Ideen, die untrennbar mit der Seele jedes einzelnen Menschen verbunden sind. Obwohl diese übernatürlichen Ideen „unabhängig von der körperlichen Existenz des Menschen sind“ (Ricken et al. 1983: 16), können diese letztlich nur durch den Körper kommuniziert werden. Es lässt sich schlussfolgern, dass die Funktion der menschlichen Sprache darin liegt, dass die Menschen ihre idées innées durch sie kommunizieren können. Damit diese Funktion erfüllt werden kann, bedarf es des Zusammenspiels des „Dualismus von Geist und Materie“ (Ricken et al. 1990: 11). Die metaphysischen, in der menschlichen Seele verankerten Ideen werden durch den menschlichen Körper in Form von Sprache materialisiert. Diese wird nicht nur körperlich produziert, sondern auch rezipiert (vgl. Ricken et al. 1983: 16). In der rationalistischen Theorie wird die menschliche Sprache also als etwas rein Körperliches gesehen, als Instrument zur Kommunikation der im Geist verankerten Ideen. Da diese Ideen, wie bereits erwähnt, eingeboren sind, existiert das menschliche Denken auch ohne dessen Realisierung durch die Sprache (vgl. Neis 2001: 75). Umgekehrt ließe sich wiederum schlussfolgern, dass die menschliche Sprache ohne eben jene idées innées nicht existieren kann, da in diesem Fall ihre pragmatische Funktion als Kommunikationsinstrument dieser hinfällig wäre.
In seinem 1690 erschienenen Essay concerning human understanding stellt der Brite John Locke dem cartesianischen Konzept eingeborener Ideen das Konzept der Genese menschlichen Denkens aus der Sinneserfahrung und dem Entwicklungsprozess der Menschen selbst gegenüber (vgl. Ricken et al. 1990: 22). Die Sinneserfahrungen des Menschen sind also der Ursprung aller Erkenntnis und somit ist nichts „im Intellekt, was nicht vorher in den Sinnen war“ (Klare 2007: 144). Folglich sind den Menschen ihre Ideen nicht übernatürlich von Geburt an gegeben, sondern entwickeln sich durch deren Erfahrungen. Der Locke`sche Sensualismus wurde vom französischen Philosophen Étienne Bonnot de Condillac aufgegriffen und entscheidend weiterentwickelt. Mit seinem Essai sur l`origine des connoissances humaines von 1746 gelang es ihm, „den inkonsequenten Sensualismus Lockes durch die Berücksichtigung der Rolle der Zeichen in der Entstehung und Entwicklung des Denkens zu überwinden“ (Ricken et al. 1990: 71). Zwar wurde die Sprache auch von Locke in seine Überlegungen zum Erkenntnisprozess und zum menschlichen Denken miteinbezogen[2], dennoch drückte erstmals Condillac in der oben genannten Schrift die für die Aufklärung so grundlegende „Auffassung der Sprache als ein Zeichensystem, das die logischen und gnoseologischen Beziehungen zwischen den Ideen, die den Charakter einer Nation bilden“ aus (Haßler zit. in: Neis 2001: 76). Die konstitutive Rolle der Zeichen in den Ansätzen von Condillac besteht darin, dass sich durch sie aus den ursprünglichen Sinneserfahrungen des Menschen komplexere Denkvorgänge entwickeln und deren Inhalte erst durch sie fixiert und miteinander kombiniert werden können. Denken und Sprache bedingen sich gegenseitig und entwickeln sich durch stetig neue Sinneserfahrungen fortwährend weiter. Es findet ein Evolutionsprozess statt: immer höhere Formen menschlichen Denkens und der Sprache bilden sich im fortlaufenden Prozess der Erkenntnis durch Sinneserfahrungen heraus. Das Denken selbst wird als sensation transformée bezeichnet: erst anhand von Zeichen werden Sinnesempfindungen in das menschliche Denken umgewandelt (vgl. Ricken et al. 1990: 72). Da jedes Volk, bedingt durch seine individuelle Kultur, die sensations, also die Sinneswahrnehmungen, unterschiedlich aufnimmt und verarbeitet, sind die sich daraus entwickelnden Ideen, also die sensations transformées, von Volk zu Volk verschieden. Die individuellen Hauptideen (idées principales) und Nebenideen (idées accessoires) sind das charakteristische Fundament einer jeden Nation, spiegeln ihre „spezifische(n) Bedürfnisse und Interessen“ wider und werden dementsprechend durch eine ihr eigene Sprache kommuniziert[3] (vgl. Neis 2001: 76).
Doch wie kann die oben im Ansatz dargestellte sensualistische Sprachtheorie im Hinblick auf die Thematik der Neologismen gewertet werden? Wenn wir davon ausgehen, dass das menschliche Denken durch einen dynamischen Prozess entsteht und sich mit ihm ständig weiterentwickelt, so gilt dies auch in Bezug auf die Sprache. Durch sie werden, wie bereits geschildert, die Sinneswahrnehmungen zu Ideen transformiert. Insofern ist es nur folgerichtig, dass jeder neue Sinneseindruck ein neues Zeichen verlangt, durch das er zu einer Idee werden und durch das die entstandene Idee dann kommuniziert werden kann. Da sich das Denken ständig weiterentwickelt, ist demzufolge „eine ständige Analyse der Ideen mit Hilfe der Zeichen, die ihrerseits vervollkommnet werden müssen“ (Haßler in: Haßler/ Neis 2009: 1465), erforderlich. Wenn wir darüber hinaus von Rickens Darstellung der sensualistischen Auffassung ausgehen, dass die „Triebkraft der Sprachverwendung und Sprachentwicklung (…) Bedürfnisse der Menschen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben“ (1990: 74) sind, dann erscheint es logisch, dass neue Bedürfnisse der Menschen bzw. gesellschaftliche Umstände auch automatisch neue Zeichen mit sich bringen müssen.
Die sensualistischen Ansätze bezüglich der menschlichen Sprache gaben der allgemeinen Sprachdiskussion im 18. Jahrhundert eine neue Stoßrichtung und Grundlage. Als fester Bestandteil der Aufklärungsbewegung in Frankreich wurden sie im Verlaufe des Jahrhunderts von namhaften Persönlichkeiten wie beispielsweise Diderot oder Rousseau aufgegriffen, diskutiert und weiterentwickelt. Ganz im Sinne der Aufklärung ist der Sensualismus durch ein „säkularisiertes Bild der Welt und des Menschen geprägt“ (Ricken et al. 1990: 77), in dem das menschliche Denken nicht eingeboren ist, sondern der Mensch sich selbst in einem unaufhörlichen Fortschritt sein Denken und seine Sprache aneignet. Von welcher Bedeutung und Tragweite die Sprachtheorie des Sensualismus für das 18. Jahrhundert in Frankreich war, lässt sich zum einen daran erkennen, dass Condillac nach der Französischen Revolution als „der schuldigste aller modernen Verschwörer“ (Maistre und Bonald zit. in: Ricken et al. 1990: 104) bezeichnet werden sollte, worauf unter Punkt III.4.1. dieser Arbeit noch einmal eingegangen wird. Zum anderen war sie die Grundlage für die zahlreichen Kontroversen um verschiedene Aspekte der Sprache, welche im 18. Jahrhundert existierten und es zu einem Jahrhundert der Sprachdiskussion werden ließen.
2. Neologienstreit und abus des mots– Normdebatten im 18. Jahrhundert
„Ce qui n`est pas clair n`est pas français” – diese Aussage Antoine de Rivarols ist bezeichnend für die Diskussion über die Universalität der französischen Sprache im 18. Jahrhundert. Gemeinsam mit dem deutschen Philosophen Johann Christoph Schwab gewann er mit seiner Abhandlung 1784 die Preisfrage der Berliner Akademie zur Universalität des Französischen[4], die er hauptsächlich durch die clarté und, damit einhergehend, mit der logischen Wortfolge (Subjekt-Verb-Objekt), dem ordre direct, der französischen Sprache begründet (vgl. Neis 2001: 69ff.). Diese rationalistische Auffassung der Syntax war jedoch in Frankreich, nicht zuletzt durch die sprachtheoretischen Ansätze Condillacs, umstritten[5]. Wie bereits erwähnt, war das 18. Jahrhundert in Frankreich ein Jahrhundert der Diskussionen und Kontroversen um die Sprache. Neben der Inversionenkontroverse um den ordre direct existierte beispielsweise auch eine Synonymienkontroverse und die Kontroverse um Neologien, welche nun im Zusammenhang mit der, damals ebenfalls aktuellen, Wortmissbrauchskontroverse betrachtet wird.
Zentraler Gegenstand der Neologienkontroverse im 18. Jahrhundert war die Frage, in welchem Ausmaß neue Wörter und Wortbedeutungen in die französische Sprache aufgenommen und akzeptiert werden sollten. Wir haben bereits gesehen, dass das 17. Jahrhundert in Frankreich von Bemühungen um die systematische Verkleinerung und Fixierung des Wortschatzes gekennzeichnet war. Doch nun, im 18. Jahrhundert, erforderten neue gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Gegebenheiten, sei es die Aufklärungsbewegung, sei es die Französische Revolution, eine intensive Beschäftigung mit dieser Thematik. Es ist die sprachliche Ebene der Lexik, welche „am unmittelbarsten auf den geschichtlichen Prozeß reagiert, den die Kommunikationsgemeinschaft durchläuft“ (Haßler in: Ricken et al. 1983: 65). In dieser Kontroverse standen Vertreter des Purismus, die durch die Aufnahme von Neuwörtern „die Reinheit der französischen Sprache in Gefahr“ (Klare 2007: 145) sahen, denen gegenüber, die die Bereicherung des Wortschatzes durch Neuwörter als natürlich und notwendig ansahen. Den sensualistischen Ansätzen entsprechend setzte sich nun nach und nach die Meinung durch, dass die Sprache nicht auf ihrem (vermeintlich) höchsten Vervollkommnungsgrad fixiert werden sollte, sondern dass sie, insbesondere ihr Wortschatz, „sich ebenso ständig weiterentwickeln müssen wie die menschlichen Erkenntnisse“ (Ricken et al. 1983: 20). Innerhalb dieser Neologienkontroverse galt es, nicht nur das richtige Maß für die Aufnahme von neuen Wörtern und Wortbedeutungen in die französische Sprache zu finden, sondern auch zwischen néologies und néologismes zu unterscheiden. Während der Begriff néologie eine sinnvolle und nötige Neuaufnahme in die französische Sprache bezeichnete, galten néologismes als „überflüssig und unnütz“ (Klare 2007: 145). Diese radikale Unterscheidung zwischen beiden Begriffen wird durch folgende Formulierung im Wörterbuch der Académie française von 1762 in dem Eintrag Néologisme herausgestellt: „La Néologie est un Art, Le Néologisme et un abus“ (zit. in: Seguin 1999: 285; Caput 1975: 33). Es wird deutlich, dass nun auch die Académie française die néologie durchaus akzeptiert, während sie den néologisme nicht nur als unnötig, sondern sogar als sprachlichen Missbrauch auffasst. Bevor wir gleich auf diesen Aspekt zurückkommen werden, soll noch einmal die Bedeutung der Unterscheidung zwischen néologies und néologismes im 18. Jahrhundert in Frankreich betont werden, auch wenn sie sich nicht in der Sprachwissenschaft durchsetzen konnte (vgl. Schroeder 1997: 58). Louis Sébastien Mercier, Verfasser der eingangs erwähnten Néologie aus dem Jahr 1801, stellt in der Einleitung zu seinem Wörterbuch den Unterschied zwischen néologie und néoligisme heraus (vgl. Mercier 2009: 5) und sagt über sich selbst: „je me fais gloire d`être Néologue et non Néologiste: c`est ici que l`on a besoin, plus qu`ailleurs, de nuances assez fortes“ (ibid.: 6). Mit dieser Aussage rühmt Mercier nicht nur sein Schaffen als Autor dieses Buches, sondern sagt gleichzeitig aus, dass die in sein Wörterbuch aufgenommenen Neuwörter als néologies, also sinnvolle Neuaufnahmen in die Sprache, legitimiert sind, da sie „au génie de la langue française“ gehören (ibid.: 5). Des Weiteren sei an dieser Stelle auch noch einmal auf das Eingangszitat dieser Arbeit verwiesen, in dem die Spuren, die die andauernde Kontroverse um die néologie während des 18. Jahrhunderts bei Mercier persönlich hinterlassen hat, besonders gut zu erkennen sind.
Es ist in der Tat so, dass im Zusammenhang mit der Neologienkontroverse den entsprechenden Wörterbüchern eine besondere Rolle zukommt. 1726 erscheint das Dictionnaire néologique à l`usage des beaux esprits du siècle von Desfontaines als erstes Wörterbuch zu dieser Thematik. Allerdings wird hier der Gebrauch von Neuwörtern in der französischen Sprache satirisch attackiert und verspottet (vgl. Klare 2007: 142). Weitere Wörterbücher von Autoren wie Féraud (1787) oder Alletz (1770) vertreten eine durchaus liberale, letztgenannter sogar eine absolut befürwortende Haltung zu den Neologien (vgl. Ricken 1983: 20; Klare 2007: 143). Mercier selbst, der mit seiner Néologie das vielleicht „umfassendste gedruckte Zeugnis der Neologiebewegung“ veröffentlichte, sprach den Lexikographen dieser Bewegung die Rolle als „ secrétaires de l`usage “ zu, deren Aufgabe es ausschließlich sein sollte, die Neologien des Sprachgebrauchs in ihren Werken zu fixieren (Haßler in: Haßler/ Neis 2009: 1466). Es sollten also weder die Lexikographen noch eine andere übergeordnete Instanz sein, welche über den Sprachgebrauch bestimmen, wie es in der konservativen Auffassung des bon usage verankert ist. Das Volk selbst wurde zum sprachlichen Gesetzgeber erhoben mit der Forderung, dass „jedermann unter Beobachtung des Charakters der Sprache das Recht habe, neue Wörter oder Wortbedeutungen zu schaffen und diese in Umlauf zu setzen“ (Ricken et al. 1990: 68). Um es etwas überspitzt zu sagen, sollte mit dieser Forderung die néologie zu einer demokratischen Angelegenheit werden.
Die Neologienkontroverse im 18. Jahrhundert, die ihren Höhepunkt in den Jahren der Revolution ob der Vielzahl an neuen Wörtern und Wortbedeutungen erreicht (vgl. Haßler in: Haßler/ Neis 2009: 1465), steht in engem Zusammenhang mit der seinerzeitigen Diskussion um den Wortmissbrauch, den abus des mots. Durch den Missbrauch von Wörtern wird die Sprache zu einem „politische(n) Täuschungs- und Herrschaftselement“ (Ricken et al. 1990: 68). Neben John Locke äußerte sich auch Jean-Jacques Rousseau zu dieser Thematik, indem er „im Wortmissbrauch ein Instrument der Einführung und Aufrechterhaltung der Ungleichheit unter den Menschen“ (Haßler in: Haßler/ Neis 2009: 1465) sah. Die Sprache wird irreführend, die Bedeutung(en) eines Wortes sind abhängig vom ideologischen Standpunkt seines Produzenten. Im Hinblick auf die Bereicherung des Wortschatzes durch Neologismen ist also festzustellen, dass ein Wortmissbrauch auch darin besteht, wenn neue Wörter eingeführt werden, „ohne die Ideen zu eliminieren, deren Träger die alten Wörter waren, und so den alten Zustand nur mit neuen Wörtern zu beschönigen“ (Ricken et al. 1990: 92). Besonders während der Französischen Revolution erreicht der Diskurs um den abus des mots seinen Höhepunkt, da mehr als je zuvor die Sprache zum politischen Instrument wurde und gleichzeitig eine Vielzahl an neuen Wörtern und Wortbedeutungen in die Sprache eingeführt wurden. Sowohl von den Revolutionären als auch den Konterrevolutionären wurden gezielt neue Wortschöpfungen zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele in die Sprache eingeführt und sich gegenseitig des Wortmissbrauchs bezichtigt. Als ein Beispiel für die Diskussion des abus des mots zur Zeit der Revolution sei hier das Wort Aristokrat erwähnt. Besonders seit Beginn der Revolution wurde dieses Wort „in massiver und völlig anarchischer Weise verwendet“ (Guilhaumou 1989: 70). In der Verwendung dieses Wortes manifestieren sich die unterschiedlichen ideologischen Standpunkte: während es für die Revolutionäre untrennbar mit einstigen Missständen und gesellschaftsfeindlicher Einstellung verbunden ist, beharren die Royalisten auf der positiven Bedeutung des Wortes und beklagen seinen inflationären Gebrauch in diesen Zeiten des Umbruchs (vgl. ibid.: 72).
[...]
[1] So argumentiert Henri Estienne 1578 in seinem Werk Deux dialogues du nouveaux langage français italianisé, in welchem er die damals stark italianisierte Sprechweise am französischen Hofe kritisierte und sich gegen die sprachliche Autorität dieser Elite wandte, da er deren usage eben nicht durch die raison begründet sah (vgl. Ricken et al. 1983: 10).
[2] In der ersten Fassung seines Essay concerning human understanding findet die Bedeutung der Sprache für den Erkenntnisprozess noch keine Beachtung, allerdings widmet Locke sich ihr dann im Nachhinein im dritten Buch, Of Words, des Essays (vgl. Kim 2002: 17, Neis 2001: 75).
[3] Im Gegensatz zur sensualistischen Auffassung wird die Existenz der einzelnen national- bzw. volksspezifischen Sprachen im Rationalismus als „Ausdruck der Körperlichkeit und Unvollkommenheit der Sprache“ (Neis 2001: 75) angesehen, was sich auch in Descartes` Überlegungen bezüglich einer Universalsprache manifestiert (vgl. Ricken et al. 1990: 12).
[4] Diese Preisfrage der Berliner Akademie lautete genau: „Qu`est-ce qui a fait de la Langue françoise la Langue universelle de l`Europe? Par où mérite-t-elle cette prérogative? Peut-on présumer qu`elle la conserve?” (zit. in: Seguin 1999: 261)
[5] Der ordre direct wird insofern als logisch angesehen, als dass er eine rein rationale, klare Wortfolge (Handelnder-Handlung-Gegenstand der Handlung) ist und sich nicht von Sinneseindrücken, den sensations, beeinflussen lässt, wie es bei Sprachen der Fall ist, in denen zunächst das Verb, also die Handlung, genannt wird (inversion) (vgl. Schroeder 1997: 60ff). Der ordre direct steht somit in einem Gegensatz zur sensualistischen Sprachauffassung, bei der eben jene Sinneseindrücke, die sensations, ausschlaggebend für den Sprachgebrauch sind.