Der Begriff „Oral History“ greift zurück auf die Ethnologie, wo Kulturen, die eine rein mündliche Überlieferung und keine Schriftkultur haben, als „Oral Traditions“ oder „Oral Societies“ bezeichnet werden. In solchen Gesellschaften ist die mündliche Überlieferung, oft in ritualisierter Form, die einzige bestehende Geschichte und nimmt als solche einen viel größeren Stellenwert ein als mündliche Überlieferung in westlichen Industrienationen.
Das Vokabular aus der Ethnologie wird jedoch in der Geschichtsforschung in einen völlig anderen Zusammenhang gebracht: ‘Diachrones Interview’, ‘Erinnerungsinterview’, ‘Oral-History-Interview’, ‘biographisches Interview’, dies alles sind unterschiedliche Bezeichnungen für die gleiche Methode, nämlich die, Personen, die an Ereignissen, Epochen und Entwicklungen, die erforscht werden sollen, selber teilgenommen haben, ihre Erinnerungen erzählen zu lassen.
Wie aber sieht die genaue Vorgehensweise bei der Geschichtsforschung mit Hilfe von Oral-History-Interviews aus?
Grob vereinfacht gesagt sucht man sich vor Beginn eines geplanten Projektes eine Anzahl von Personen, die für das geplante Forschungsprojekt ‘aussagekräftig’ scheinen und läßt sie aus ihren Erinnerungen erzählen. Entweder man stellt ihnen Fragen zu bestimmten Themenbereichen oder man beginnt mit nur einer Leitfrage (z.B.: „Erzählen Sie doch mal, wie das war bei Kriegsende 1945...“) und läßt sie im weiteren Verlauf frei reden.
Die Impulse der Wissenschaftler, die in den fünfziger Jahren in den USA zum ersten Mal mit der Oral-History-Methode arbeiteten, waren vor allem, die Eliten- und Herrschaftsfixierung der Geschichtswissenschaft zu durchbrechen. Man wollte „die Sprachlosen, die bislang von Historikern nur allzu oft vernachlässigt worden sind“ 1 , wieder zu Wort kommen lassen. Dementsprechend gab und gibt es zahlreiche Forschungen zu Arbeitern und unteren Schichten der Bevölkerung; man wollte zur Individualität der Massen vordringen, die ‘einfachen Leute’ in den Blickpunkt der Geschichtsschreibung rücken. Man versuchte, eine Geschichtsschreibung anhand von Qualität statt Quantität der Erfahrungen zu etablieren.
Inhaltsverzeichnis
- I. Oral History - was ist das?
- II. Das Gedächtnis
- II. 1 Das 'kollektive' und das 'individuelle' Gedächtnis
- II. 1.1 Das 'autobiographische' Gedächtnis
- II. 1.2 Das 'kollektive' Gedächtnis
- III. Das Interview selbst
- III. 1 Besonderheiten eines Erinnerungsinterviews gegenüber herkömmlichen Quellen
- III. 2 Praktische Vorüberlegungen bei der Durchführung von Erinnerungsinterviews
- III. 3 Faktoren, die das im Interview Gesagte beeinflussen
- III. 4 Faktoren, die Auswertung und Ergebnisse beeinflussen
- IV. Fazit: Was kann Oral History leisten?
- V. Oral History in Deutschland heute
- B. Beispiele aus der Praxis - Nachkriegsalltag von Bergarbeiterfrauen im Ruhrgebiet
- I. Anne-Katrin Einfeldt: Zwischen alten Werten und neuen Chancen - Häusliche Arbeit von Bergarbeiterfrauen in den fünfziger Jahren
- Sozialisation im Elternhaus
- Erfahrungen außerhalb der Familie
- Arbeit nach dem Krieg
- Außenwelt und Innenwelt
- Erziehungsziel: Liebe und Strenge
- Fazit
- II. Margot Schmidt: Im Vorzimmer. Arbeitsverhältnisse von Sekretärinnen und Sachbearbeiterinnen bei Thyssen nach dem Krieg
- Männermangel und seine Auswirkungen
- Frauen haben keine Ehefrauen
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit widmet sich der Methode der Oral History und untersucht ihre Anwendung in der Geschichtsforschung. Sie beleuchtet die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für die Rekonstruktion von historischen Ereignissen und beleuchtet die Herausforderungen und Möglichkeiten, die mit der Verwendung von Erinnerungsinterviews verbunden sind.
- Die Definition und Entwicklung der Oral-History-Methode
- Die Rolle des individuellen und kollektiven Gedächtnisses in der Geschichtsforschung
- Die Besonderheiten und Probleme von Erinnerungsinterviews
- Die Möglichkeiten und Grenzen der Oral History in der heutigen Zeit
- Die Relevanz der Oral History für die Erforschung sozialer und kultureller Prozesse
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet den Ursprung und die Bedeutung der Oral History. Es wird auf die Unterscheidung zwischen „Oral Traditions“ und mündlicher Überlieferung in westlichen Industrienationen eingegangen. Anschließend werden die verschiedenen Bezeichnungen für die Methode der Erinnerungsinterviews erläutert und die Grundzüge der Vorgehensweise bei der Durchführung von Oral-History-Interviews dargestellt.
Kapitel zwei beschäftigt sich mit der Bedeutung des Gedächtnisses für die Geschichtsforschung. Es wird zwischen dem „kollektiven“ und dem „individuellen“ Gedächtnis differenziert und das „autobiographische“ Gedächtnis als Grundlage für Erinnerungsinterviews hervorgehoben. Die Herausforderungen der Erinnerung und die Konstruktion von Vergangenheit werden in diesem Kapitel beleuchtet.
Kapitel drei befasst sich mit den Besonderheiten von Erinnerungsinterviews. Es wird auf die Unterschiede zu herkömmlichen Quellen eingegangen und praktische Überlegungen zur Durchführung von Interviews diskutiert. Die Faktoren, die das im Interview Gesagte und die Auswertung der Ergebnisse beeinflussen, werden in diesem Kapitel analysiert.
Kapitel vier untersucht die Möglichkeiten und Grenzen der Oral History als Methode der Geschichtsforschung. Es wird diskutiert, welche spezifischen Beiträge die Oral History leisten kann und welche Themenbereiche sich besonders gut mit dieser Methode erforschen lassen.
Kapitel fünf widmet sich der aktuellen Situation der Oral History in Deutschland. Es werden aktuelle Forschungsprojekte und Anwendungsbereiche vorgestellt und die Relevanz der Methode für die Geschichtsforschung in der heutigen Zeit diskutiert.
Der zweite Teil des Textes befasst sich mit Beispielen aus der Praxis. Es werden zwei Fallstudien aus dem Nachkriegsalltag von Bergarbeiterfrauen im Ruhrgebiet vorgestellt. Die Studien beleuchten die sozialen und kulturellen Bedingungen, die die Lebenswelt der Frauen in dieser Zeit prägten, und zeigen die Bedeutung der Oral History für die Rekonstruktion von Erfahrungswelten.
Schlüsselwörter
Oral History, Erinnerungsinterview, kollektives Gedächtnis, individuelles Gedächtnis, Subjektivität, biographisches Interview, Zeitgeschichte, Geschichte der Arbeit, Sozialgeschichte, Geschlechtergeschichte, Frauenforschung, Nachkriegszeit, Bergarbeiterfrauen, Ruhrgebiet.
- Arbeit zitieren
- Jutta Faehndrich (Autor:in), 1987, "Oral History" in Theorie und Praxis, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23214