Systemische Führung und Organisationsberatung von Gesundheitsbetrieben

Eine kritische Analyse der Anwendbarkeit für Gesundheitsbetriebe


Bachelorarbeit, 2013

56 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Deutsche Zusammenfassung

English Abstract

Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Systemtheorie
2.1 Allgemeine Grundlagen der Systemtheorie
2.2 Ausgewählte Vertreter und Ansätze der Systemtheorie
2.2.1 Soziologische Systemtheorie
2.2.2 Radikaler Konstruktivismus
2.2.3 Biologische Theorien
2.2.4 Kybernetik 2. Ordnung
2.2.5 Kommunikationstheorien
2.2.6 Systemische Familientherapie
2.3 Ergebnis der Vielfalt systemischer Ansätze

3. Systemische Organisationsberatung als Schnittstelle zur Transformation systemischer Führungsansätze
3.1 Systemisches Denken als Grundlage systemischer Organisations-beratung
3.2 Kurze Darstellung der Ansätze systemischer Organisationsberatung
3.2.1 Prozess- und Expertenberatung
3.2.2 Die sieben Grundelemente systemischer Beratung
3.2.2.1 Kontextanalyse
3.2.2.2 Anerkennung bereits gefundener Problemlösungen
3.2.2.3 Veränderungsprozess als Dialog
3.2.2.4 Selbstreferenz
3.2.2.5 Wandlung und Entwicklung
3.2.2.6 Selbstwert und Kongruenz
3.2.2.7 Selbstorganisation und Emergenz
3.3 Der 30-Punkte-Plan systemischer Führung

4. Besonderheiten der Führung von Gesundheitsbetrieben
4.1 Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen hinsichtlich der
Unternehmensführung
4.2 Aufgaben, Problembereiche und die Auswirkungen verschiedener
Führungsstile in Gesundheitsbetrieben

5. Diskussion der Anwendbarkeit
5.1 Systemische Führung als Lösungsansatz gesundheitsbetrieblicher Probleme
5.2 Auswirkungen und Chancen angewandter systemischer Führung

6. Zusammenfassung

7. Fazit

Literaturverzeichnis

Deutsche Zusammenfassung

Basierend auf der zentralen Ausgangsfrage, ob und inwiefern Einrichtungen und Betriebe im Gesundheitswesen systemisch geführt werden können, wurde die vorliegende Literaturarbeit in vier große Abschnitte unterteilt. Thematisiert wurden die theoretischen Grundlagen systemischen Verständnisses, die Grundelemente systemischer Beratung, die Besonderheiten deutscher Gesundheitsbetriebe anhand spezifischer Problembereiche durch aktuelle wirtschaftliche und wettbewerbliche Herausforderungen und die kritische Analyse der Anwendbarkeit dieser systemischen Sichtweise auf einen Gesundheitsbetrieb. Diese Analyse wurde anhand systemischer Interventionen als Ergebnis systemischer Führung von Gesundheitsbetrieben an zwei fiktiven Beispielen aus dem Krankenhausalltag konzeptualisiert. Die Anwendung zeigt, dass auf theoretischer Grundlage eine Integration systemischer Instrumente in einen Gesundheitsbetrieb Zielkonflikte eliminieren kann und damit sowohl den betrieblichen als auch persönlichen Zielen aller Unternehmensangehörigen nachkommt. Daraus schlussfolgernd kann die Führung von Gesundheitsbetrieben keine systemische Denkweise an ihre Mitarbeiter delegieren, jedoch durch gezielte systemische Maßnahmen eine Basis schaffen, in der die Mitarbeiter durch eine eigene Erkenntnis die Vorteile dieses Denkens wahrnehmen und in der Praxis anwenden. Auf diese Art und Weise kann die Möglichkeit ausgesprochen werden, Gesundheitsbetriebe systemisch führen zu können.

English Abstract

Based on the initial question, if and to what extent institutions and organizations within the health care system can be led systemically, this academic report was subdivided into four large segments. Theoretical fundaments of systemic understanding, basic elements of systemic counselling, particularities of German health care institutions by reference to current economic and competitive challenges and a critical analysis of the applicability of these systemic approaches to health care institutions have been discussed. The analysis was conceptualized based on systemic interventions as a result of systemic management of such institutions through two fictive examples of the daily routine within hospitals. The application demonstrates that conflicts of objectives within a health care institution can be eliminated through an integration of systemic instruments based on the theoretic framework and can therefore serve both operational and personal goals of all members of the institution.

In conclusion it can be stated that the management of health care institutions cannot delegate a systemic mind-set among its employees, however a base can be created with the help of specific systemic measures through which all employees are able to recognize and appreciate the advantages of this approach and apply them in practice. Therefore, the possibility of leading health care institutions systemically can be expressed.

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Experten- und Prozessberatung

Abbildung 2: Selbstreferenz im Beratungsprozess

Abbildung 3: Matrix-Organisation des Universitätsklinikums in Dresden

1. Einleitung

Systemtheoretische Ansätze der Unternehmensführung blicken auf eine inzwischen nahezu 25-jährige Entwicklung zurück, welche die Systemtheorie als ein Sammelbecken für die vielfältigsten Ansätze aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen darstellt.[1] Diese besondere Art der Unternehmensführung steht im Kontrast zu traditionellen betriebswirtschaftlichen Ansätzen und stellt neue Herausforderungen für ein Unternehmen dar, indem gewohnte Verhaltensmuster durchbrochen werden müssen. Die einzigartige Perspektive auf Systeme, ihre Funktionsweise und ihre Eigenschaften ergeben erhebliche Konsequenzen, aber auch Chancen für das Management von Systemen. Diese Konsequenzen sollen hinsichtlich der Anwendbarkeit auf einen gesundheitlichen Betrieb untersucht werden, die Vor- und Nachteile herausgearbeitet und die Hindernisse und Chancen, welche durch einen solchen organisationspsychologischen Ansatz entstehen können, veranschaulicht werden.

Die konkrete Fragestellung, welche untersucht werden soll, beschäftigt sich mit der Thematik, ob und inwiefern Einrichtungen und Betriebe im Gesundheitswesen systemisch beziehungsweise auf einer systemtheoretischen Ausrichtung basierend geführt werden können. Eine Konkretisierung und Fokussierung systemtheoretischer Überlegungen findet im Rahmen der systemischen Organisationsberatung und -intervention statt, deren Anwendung auf zwei fiktive, jedoch praxisnahe Beispiele aus Krankenhäusern die Praxisnähe dieses Bereiches offenlegt. Der Grund dieser Übertragung von systemischer Führung und Organisationsberatung auf die Problembereiche von Gesundheitsbetrieben, um diese erfolgreicher führen zu können, ergibt sich aus den zurzeit mangelnden Überlegungen und Konzepten, die gerade in dieser besonderen Branche durch hochkomplexe Unternehmensstrukturen und einem sich stetig verändernden Anspruch mit organisatorischen sowie finanziellen Herausforderungen zukunftsweisend sein kann. Dieser vorherrschende Veränderungsdruck, der durch zunehmenden Wettbewerb oder Kostensenkungsmaßnahmen hervorgerufen wird, stellt Gesundheitsbetriebe vor die Herausforderung, nicht mehr ausschließlich das Ziel der ausreichenden und qualitativen Patientenversorgung zu verfolgen, sondern auch ökonomische Interessen mit diesem Ziel zu kombinieren. Dabei spielt der Begriff der Unternehmensführung eine zentrale Rolle, um die Mitarbeiter, die im Rahmen dieser Zielkonflikte nicht nur die Interessen des Betriebs, sondern auch die eigenen, persönlichen Interessen verfolgen wollen.[2] Eine Veränderung der Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, die aktuell im Gesundheitswesen vorliegen, erfordert neue Sichtweisen auf Unternehmen, damit diese überleben können. Diese Herausforderung richtet sich an bisherige Muster der Führung, die im Kern durchbrochen werden müssen, um für eine systemische Denkweise aufnahmefähig zu sein, worin genau die größte Chance und ebenso das größte Risiko liegt.

Ziel der Arbeit ist die Beantwortung der Ausgangsfrage, inwieweit ein Gesundheitsbetrieb systemisch geführt und als Organisation beraten werden kann. Es geht darum, zu entscheiden, zu überprüfen und zu diskutieren, ob und inwiefern ein systemischer Führungsansatz beispielsweise im Rahmen einer ganzheitlichen Berücksichtigung einzelner, auf das System wirkender Elemente eines Unternehmens funktionieren kann. Der Gegenstand der Arbeit ist die Untersuchung einer Anwendbarkeit systemtheoretischen Gedankenguts auf die Unternehmensführung von Gesundheitsbetrieben. Darüber hinaus sollen Ansatzpunkte für die Organisationsentwicklung und die Lösung von gesundheitsbetrieblichen Problemen anhand von systemischen Beratungsmethoden und -interventionen entwickelt werden.

Die Systemtheorie ist ein sehr vielfältiger und differenziert zu betrachtender Ansatz, der zu Beginn der Arbeit in den verschiedenen Facetten und durch ausgewählte Vertreter dargestellt wird, um eine theoretische Grundlage für die im den darauffolgenden Kapiteln dargestellten zentralen Elemente systemischer Organisationsberatung zu bilden. Diese Grundlagen sollen auf den Prinzipien systemischen Denkens aufbauen, um die theoretischen und praktischen Bezüge der Systemtheorie an dieser Stelle zusammenzufassen, damit anschließend eine explizite Darstellung systemischer Führung anhand eines 30-Punkte-Plans entwickelt werden kann. Nach diesen sowohl theoretischen als auch praktischen Grundlagen, die für die Durchdringung systemischer Führung und der damit einhergehenden Denkweise notwendig waren, werden die Besonderheiten der Führung von Gesundheitsbetrieben dargestellt, indem traditionelle und moderne Führungsstile analysiert werden. Anschließend soll diese Anwendung diskutiert werden, indem die Grundlagen aller Kapitel in eine zusammenfassende und kritische Analyse gefasst werden, die sowohl grundsätzliche Auswirkungen, aber auch die Chancen systemischer Führung darstellt, um nach der Zusammenfassung ein Fazit zu bilden, welches die Ausgangsfrage beantwortet.

2. Systemtheorie

Um die besondere Denkweise des systemischen Denkens zu erfassen und damit die Voraussetzung für eine Transformation auf einen systemtheoretische geführten Gesundheitsbetrieb zu schaffen, werden im Folgenden die grundlegenden Aspekte und Eckpfeiler des systemischen Denkens, Verhaltens und Handelns dargestellt. Hierbei muss beachtet werden, dass sich die folgenden Kapitel mit der Systemtheorie beschäftigt, eben einer Theorie, welche nicht als „geltende“ Theorie, sondern lediglich als Instrument verstanden werden muss, das für eine Organisation den Versuch einer Erklärung der beobachteten Welt unternimmt. Theorien können entstehen, werden verändert, entwickelt, reifen, gelten als veraltet oder werden durch andere Theorien ersetzt.[3]

2.1 Allgemeine Grundlagen der Systemtheorie

Die Grundlagen und Denkweisen der Systemtheorie können unter vielen verschiedenen Namen und Ausdrücken entdeckt werden, die gemeinsam eine universelle und interdisziplinäre Theorie beschreiben, die neben Einflüssen des Konstruktivismus und der Kybernetik auch biologische und soziale Phänomene beinhalten.[4] Die interdisziplinäre Universalität besteht in besonderem Maße darin, dass Ähnlichkeiten in der Wissenschaft um die Systemtheorie und den damit einhergehenden Systemproblemen in unterschiedlichsten Wissenschaften wie Medizin, Biologie, Chemie, Psychologie, Philosophie, Soziologie und Betriebswirtschaft zu finden sind. Durch diese Eigenschaft der Systemtheorie können Lösungen übergreifender Probleme in unterschiedlichen Wissenschaften entwickelt werden.[5] Die Erklärung der Systemtheorie erfordert jedoch zunächst die Definition eines Systems, was darunter verstanden wird und welche Dimensionen ein solches erfassen und erreichen kann.

Das aus dem Griechischen stammende Wort „systema“ bezeichnet ein Gebilde, eine Zusammenstellung oder ein gegliedertes Ganzes.[6] Ein System ist im Allgemeinen ein Gebilde, welches sein Dasein und seine Funktionen als eine Einheit durch die Interaktion und das Zusammenspiel seiner einzelnen Teile aufrechterhält.[7] Diese komplexe Definition lässt sich am Beispiel des menschlichen Körpers erklären. Hierbei bedeutet dies, dass dieser aus vielen unterschiedlichen Körperteilen und Organen besteht, von denen jedes eine bestimmte Aufgabe innehat, die es unabhängig von den anderen Funktionen des Körpers erfüllen muss. Im Ganzen betrachtet arbeiten jedoch alle Einheiten des Körpers zusammen und beeinflussen sich gegenseitig.[8] Durch die Atmung reichert sich Sauerstoff im Blut an, worin die Hauptaufgabe der Lunge und des Luftholens besteht, sodass dieses Organ seine Aufgabe darauf beschränkt. Ebenfalls benötigt der Körper ein schlagendes Herz, dessen Hauptaufgabe die Verteilung des Blutes im menschlichen Körper ist. So trennen sich die Aufgaben und Teilbereiche dieser zwei Organe Lunge und Herz voneinander ab, können jedoch nur gemeinsam und in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander existieren und das Ziel erreichen, den Menschen am Leben zu erhalten. Auch das Auge kann ohne die Blutzufuhr nicht sehen, die Beine können ohne diese nicht laufen.[9]

Systemisches Denken bedeutet, nicht in linearen Verläufen, sondern in Kreisläufen zu denken.[10] So schließt sich in gewisser Weise ein komplexes Netzwerk zusammen, das eine spezifische Eigenschaft ausweist: Alle Teile und Vorgänge des Netzwerkes sind miteinander verbunden und stehen im gegenseitigen Einfluss zueinander. Wenn demnach einzelne Elemente oder Subsysteme verändert werden, so hat dies Auswirkungen und Konsequenzen auf das Gesamtsystem. Dies bedeutet, dass nach einer ganzheitlichen Sicht jedes Element eines Systems Auswirkungen auf das ganze System hat und somit alle Elemente für die Existenz und das Funktionieren des Systems bedeutend sind.[11]

Umso mehr Teile und Elemente eines Systems vorhanden sind, desto komplexer wird dieses. Am Beispiel eines Unternehmens kann dieses wenige Kunden mit wenigen Wünschen für wenige Produkte haben, die durch wenige Mitarbeiter produziert werden, die wenig von ihrer Tätigkeit erwarten. Ersetzt man das Wort „wenige“ an jeder Stelle durch das Wort „viele“, so ist ein solches Unternehmen schwieriger unter Kontrolle zu bringen, schwieriger zu erfassen. Hierbei ist jedoch nicht das Produkt, der Kunde oder der Mitarbeiter das Problem, sondern die stagnierende Vielfalt dieser, mit der es zu arbeiten gilt. Diese Verschiedenartigkeit stellt ein Unternehmen vor Heraus-forderungen, die durch diese Komplexität maßgeblich gebildet werden.[12]

Somit ist der menschliche Körper mit unzähligen Elementen ein sehr komplexes System, welches nicht nur durch sich selbst, sondern auch durch die Umwelt beeinflusst werden kann. Wie der menschliche Körper ist auch eine Familie, eine Schulklasse, Angehörige eines Staates oder ein Unternehmen ein komplexes System, welches selbst als System innerhalb einer Welt von Systemen agiert und funktioniert.[13]

Nach dieser Auffassung mag ein System eine „[Tafel] voller krakeliger, unverständlicher algebraischer Formeln“[14] sein, die schwer zu erfassen und nur Ingenieuren und Mathematikern vorbehalten sind. Jedoch zeigt sich, dass genau dies nicht eintrifft. Systemisches Denken erfordert kein mathematisches Verständnis, sondern ist im Kern praxisnah und sehr einfach, wenn verinnerlicht wird, dass alles mit allem zusammenhängt.[15] Die Auswirkungen dieser Eigenschaft bezüglich der Funktionalität von Systemen soll im Folgenden kurzen Fazit anhand eines Autos dargestellt werden: „Sie haben zwar alle Teile eines Autos, aber ohne funktionierendes Zusammenspiel ist es nichts als ein Haufen Schrott.“[16]

Die Systemtheorie kann als These betrachtet werden, welche untersucht, inwieweit bestimmte Teile des Systems zusammenhängen und aufeinander wirken.[17] Bei Anwendung des systemischen Denkens wird die einzelne Person als Element des Systems kein objektiver Betrachter, sondern durch die Teil-der-Welt-Haltung nach Heinz von Foerster ein aktiver Teil des Systems, in dem die Person handelt, andere beeinflusst und stets an diesem System teilnimmt.[18] Ob von einer Person oder einem Element gesprochen wird, hängt von der Unterteilung in den jeweiligen Systemtypus ab, der sich meist in „Maschinen, Organismen, psychische und soziale Systeme“[19] unterteilen lässt. Die letzte Gruppe der sozialen Systeme kann aus Gesellschaften, Interaktionen oder Organisationen bestehen, zu denen sich auch ein Gesundheitsbetrieb zählen lässt.[20] Allerdings ist hierbei anzuführen, dass es nicht unbedingt darum geht, welche Teile eines Systems betrachtet werden, da unabhängig von der Eigenschaft der einzelnen Systemteile, diese identische Regeln eines Aufbaus aufweisen, obwohl es sich um völlig unterschiedliche Aufgaben handeln kann. Es sind bestimmte Muster innerhalb dieser Systeme, die aus verschiedenen Teilen zusammengesetzt und wie diese miteinander verbunden sind.[21]

2.2 Ausgewählte Vertreter und Ansätze der Systemtheorie

Die Systemtheorie stützt sich auf verschiedene Ansätze und Sichtweisen in der Wissenschaft, die durch sechs verschiedene Gruppen geprägt sind und die Grundlage für das heutige systemtheoretische Verständnis bilden. Diese Gruppen werden im Folgenden durch ihre einzelnen Vertreter und Ansätze dargestellt und verglichen.

2.2.1 Soziologische Systemtheorie

Die erste der sechs Gruppen besteht aus der soziologischen Systemtheorie, welche durch Willke, Baecker und Luhmann, dessen Sichtweise nachfolgend dargestellt wird, geprägt ist. Niklas Luhmann, als einer der bedeutendsten Vertreter aber auch „Buhmann“[22] der soziologischen Systemtheorie, beschreibt grundlegend, dass die Gesellschaft in unzählige soziale Systeme zerfällt, die alle nur aus „Kommunikation“ bestehen. Es sei ein Zerfall in Wirtschaft, Massenmedien, Familien, Politik und viele andere, die alle gemeinsam und ausnahmslos soziale Systeme sind.[23] Es sind jedoch hierbei keine Menschen, die kommunizieren, sondern nur die sozialen Systeme. Dieser „Anti-Humanismus“[24] und Luhmanns absolute Distanz einer Einbeziehung von der Person selbst in ein soziales System, wird in folgendem Zitat deutlich:

„Renate Mayntz hat in einer Bemerkung, die häufig zitiert wird, einmal gesagt, die Systemtheorie sei, wenn sie von Handlung abstrahiere, wie eine Dame ohne Unterleib. In Wirklichkeit ist es noch schlimmer, denn die Dame hat auch keinen Oberleib. Sie hat überhaupt keinen Leib, und der ganze Leib ist überhaupt nicht Teil der sozialen Systems.“[25]

Der Leib oder die Psyche eines Menschen seien lediglich die Voraussetzung, um kommunizieren zu können. Am Beispiel eines Zeitschriften-Aufsatzes argumentiert Luhmann, dass man sich die Frage stellen müsse, was von dem Verfasser selbst im Aufsatz zu finden sei und was davon kommuniziert werde. Es seien weder der Blutkreislauf noch der Bewusstseinszustand des Verfassers im Text zu finden, sondern lediglich Buchstaben, Wörter und Sätze, eben nur das Kommunizierte.[26] Neben der Kommunikation ist der Begriff der Differenz ein grundlegender in dem Verständnis Luhmanns. Seine Definition von Kommunikation ist dabei das „Verstehen der Differenz von Information und Mitteilung“[27]. Luhmann beschreibt damit, dass die „klassische Übertragungsmetapher […] unbrauchbar“[28] sei, nach der Informationen lediglich übertragen, also vom Sender an den Empfänger übermittelt werden würden. Nach Luhmanns Auffassung, entscheide nicht die Mitteilung des Senders über die Kommunikation, sondern die Interpretation der Mitteilung durch einen Empfänger.[29] Dies bedeutet, dass in einem solchen Kommunikationsprozess drei Selektionen stattfinden: Als erste Selektion wählt eine Person eine Information aus und entscheidet sich in der zweiten Selektion dafür, was mitgeteilt werden soll, damit diese Mitteilung dann in der dritten Selektion vom Empfänger verstanden wird.[30] Das wechselseitige Verhältnis zwischen den Beteiligten in dieser Kommunikation des sozialen Systems wird darin deutlich, dass durch Veränderungen beispielsweise anderer Interpretationen der Mittelung in der dritten Selektion dementsprechend das gesamte soziale System verändert wird, wonach jeder Teil eines Systems das ganze System beeinflussen kann.[31]

Ein weiterer fundamentaler Bestandteil der soziologischen Systemtheorie nach Luhmann ist, dass es grundlegend um die Differenz zwischen System und Umwelt geht. Systeme sind daher immer durch ihr Verhältnis zur Umwelt bestimmt. Nach dieser Auffassung, habe man mit jedem System immer die ganze Welt im Blick, jedoch wird diese dann durch die Differenz und das Verhältnis zur Umwelt abgespalten.[32] Demnach werden durch die Differenz des Systems zur Umwelt autonome, kommunikative Einheiten gebildet, wie beispielsweise die Wirtschaft. Sobald man über Geld kommuniziert, ist dahingehend alles wirtschaftlich. Nach Luhmann gibt es keinen primären Gegenstand der Systemtheorie, sondern nur die Differenz von System und Umwelt.[33] Jedes System besitzt eine Umwelt, die ein „verwirrend[es] komplexes Gefüge wechselseitiger System/Umweltbeziehungen“ darstellt. Je nachdem, wie sich ein System von seiner Umwelt differenziert, nimmt es diese als Umwelt wahr. Die Umwelt der Wirtschaft ist alles, womit diese Geld verdienen will: Ökologie, Politik, Autos, Gummibärchen. Für die Politik ist die Umwelt jedoch alles, worüber diese Macht ausüben will: Massenmedien oder Personen über 18 als potentielle Wähler.[34]

2.2.2 Radikaler Konstruktivismus

Die zweite Gruppe beschäftigt sich mit dem radikalen Konstruktivismus von Glasersfeld. Der radikale Konstruktivismus beginnt mit der These, dass „Erkenntnis […] nur möglich [ist], weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat.“[35] Diese Erkenntnis gilt als eine subjektive Konstruktion und die Wirklichkeit als eine Erfindung. Allem voran steht die fundamentale Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“[36]. Diese Kernfrage lässt sich auf die Ansicht Ernst von Glasersfeld und anderen Meinungsvertretern zurückführen, die der Auffassung waren, dass „alles, was gesagt wird, […] von einem Beobachter gesagt [wird]“[37] und dessen Erkenntnis, Gesagtes oder Beschriebenes jeweils von ihm selbst konstruiert werde. Dies hat zur Folge, dass die konstruierte Erkenntnis nicht realistisch sein kann und somit kein Beobachter einen Zugang zur Realität hat. Somit stellt der radikale Konstruktivismus die individuelle Auffassung und Position des Beobachters in den Mittelpunkt.[38] Diese personenbezogene Auffassung und Auswirkung auf ein System steht in konträrem Gegensatz zu Luhmanns antihumanistischer Theorie, in der keine Menschen oder Personen in einem System agieren. Systemtheoretisch bedeutet dies nach Glasersfeld, dass in einem System kein Mitglied dazu in der Lage ist, Situationen, Handeln oder Probleme realistisch und ohne subjektive Beeinträchtigungen wahrzunehmen. Nach den radikalen Konstruktivisten gelingt die Lösung eines Problems nur dann, wenn das Bild des Beobachters, das er von der Wirklichkeit konstruiert hat, verändern wird.[39]

2.2.3 Biologische Theorien

Die dritte Gruppe bezeichnet die biologischen Theorien von Maturana und Varela. Die bisher dargestellten Theorien zeigen, dass ein System einerseits nach Luhmann nicht aus Menschen besteht, die kommunizieren, sondern soziale Systeme als solche agieren und funktionieren und andererseits, dass bei Glasersfeld doch genau diese Individuen, die bei Luhmann keine Funktion übernehmen, im radikalen Konstruktivismus den Fokus einnehmen und die Wirklichkeit subjektiv gestalten. Das biologische Modell von dem chilenischen Neurophysiologen Humberto Maturana und seinem Mitarbeiter Francisco Varela zeigen eine andere Ansicht der Systemtheorie, welche eine Perspektive einnimmt, die nicht die Akteure innerhalb eines Systems oder die Abgrenzungen zur Umwelt definiert, sondern „das System als Lebewesen“[40] mit ihrer Entstehung, ihrem Überleben und ihren Interaktionen bezeichnet.[41] Nach Maturana produziert sich ein System selbst und ist dadurch „autopoietisch“[42], was die Eigenschaft des Selbsterzeugens bezeichnet, indem ein System seine Elemente selbst erzeugt.

[...]


[1] Vgl. Malik [2004], S. 25.

[2] Vgl. Achouri [2011], S. 269.

[3] Vgl. Willke [2000], S. 2.

[4] Vgl. Krieger [1998], S. 7.

[5] Vgl. Willke [2000], S. 3.

[6] Vgl. Krieger [1998], S. 12.

[7] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 13.

[8] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 13.

[9] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 13.

[10] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 45.

[11] Vgl. Becker; Langosch [2002], S. 43.

[12] Vgl. Malik [2004], S. 37.

[13] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 13ff.

[14] McDermott; O’Connor [2000], S. 15.

[15] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 14ff.

[16] McDermott; O’Connor [2000], S. 25.

[17] Vgl. Hillebrand; Königswieser [2011], S. 20.

[18] Vgl. Radatz [2010], S. 18ff.

[19] Vgl. Garbsch [2012], S. 11.

[20] Vgl. Garbsch [2012], S. 11.

[21] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 22.

[22] Berghaus [2003], S. 11.

[23] Vgl. Berghaus [2003], S. 21.

[24] Berghaus [2003], S. 21.

[25] Berghaus [2003], S. 34.

[26] Vgl. Berghaus [2003], S. 87.

[27] Berghaus [2003], S. 21.

[28] Berghaus [2003], S. 87.

[29] Vgl. Berghaus [2003], S. 88.

[30] Vgl. Garbsch [2012], S. 12.

[31] Vgl. McDermott; O’Connor [2000], S. 79.

[32] Vgl. Berghaus [2003], S. 41.

[33] Vgl. Berghaus [2003], S. 42.

[34] Vgl. Berghaus [2003], S. 43.

[35] Luhmann [1988], S. 8, zitiert nach Krieger [1998], S. 157.

[36] Vgl. Krieger [1998], S. 158.

[37] König; Volmer [2008], S. 25.

[38] Vgl. König; Volmer [2008], S. 25.

[39] Vgl. König; Volmer [2008], S. 25.

[40] Krieger [1998], S. 36.

[41] Vgl. Petersen [2004], S. 3.

[42] Krieger [1998], S. 36.

Ende der Leseprobe aus 56 Seiten

Details

Titel
Systemische Führung und Organisationsberatung von Gesundheitsbetrieben
Untertitel
Eine kritische Analyse der Anwendbarkeit für Gesundheitsbetriebe
Hochschule
Hochschule Fresenius Idstein
Note
1,3
Jahr
2013
Seiten
56
Katalognummer
V232543
ISBN (eBook)
9783656491927
ISBN (Buch)
9783656491361
Dateigröße
800 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
systemische, führung, organisationsberatung, gesundheitsbetrieben, eine, analyse, anwendbarkeit, gesundheitsbetriebe
Arbeit zitieren
Anonym, 2013, Systemische Führung und Organisationsberatung von Gesundheitsbetrieben, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232543

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