Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Tiergestützte Interventionen
2.1. Theorien über die Grundlagen der positiven Wirkweise der Mensch-Tier-Beziehung
2.1.1. Die Biophilie-Hypothese
2.1.2. Die Du-Evidenz
2.1.3. Die Bindungstheorie
2.2. Fazit
3. Die Mensch-Pferd-Beziehung
3.1. Mensch und Pferd – eine folgenreiche gemeinsame Entwicklungsgeschichte
3.2. Die artspezifischen Besonderheiten des Pferdes
3.3. Therapeutisches Reiten
3.4. Die Besonderheiten des Einsatzes von Pferden in der Heilpädagogischen Förderung
3.4.1. Kommunikation
3.4.2. Interaktion
3.4.3. Der besondere Bewegungsdialog
3.4.4. Ganzheitlichkeit
3.4.5. Wirksame Besonderheiten des therapeutischen Settings bei der HFP
3.5. Fazit
4. Die Autismus-Spektrum-Störung
4.1. Autismus - Der Wandel vom Begriff zum Spektrum
4.2. Die beiden „klassischen“ Autismus-Theorien
4.2.1. Leo Kanner: Frühkindlicher Autismus
4.2.2 Hans Asperger: Autistische Psychopathie im Kindesalter
4.3. Aktuelle Autismus-Theorien
4.3.1. Die gestörte Theory of Mind
4.3.2. Die schwache zentrale Kohärenz
4.3.3. Störungen der exekutiven Dysfunktion
4.3.4. Fazit
4.4. Symptomatik
4.5. Klassifikation
4.6. Zur Therapie und Pädagogik von Kindern mit autistischen Verhaltensweisen
4.6.1. Grundlagen der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Kindern mit autistischen Verhaltensweisen
5. Fazit zur Bedeutung der Arbeit mit Pferden in der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit Kindern mit autistischen Verhaltensweisen
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Mit schwerem Gepäck kehrten 2012 die deutschen Reiter von den Sommer-Paralympics in London zurück. Sie gewannen zweimal Gold, dreimal Silber (davon einmal Silber in der Mannschaftswertung) und zweimal Bronze. Dies sind Belege dafür, dass Menschen mit Behinderungen in der Einheit Mensch-Pferd erfolgreich sein können und große Ziele erreichen können.
Darüber hinaus findet das Pferd häufig Einsatz in der Therapie vor allem von Menschen mit körperlichen Behinderungen. Die medizinische Wirksamkeit des Reitens bei Kindern und Erwachsenen mit körperlichen Behinderungen wurde schon oft belegt.[1] Die Einsatzmöglichkeiten der Arbeit mit Pferden in der Therapie und Pädagogik gehen aber weit über die medizinische und motorische Förderung hinaus. Bereits in der Antike wurden die emotionalen und sozialen Fördermöglichkeiten durch den Einsatz von Pferden erkannt und diese Therapie-Ansätze finden heutzutage immer mehr Beachtung.[2]
Der Einsatz von Tieren wurde im Laufe der Zeit ausgeweitet und zu einem generellen Ansatz in der Therapie und Pädagogik erhoben. Gerade in den letzten Jahren hört man immer mehr von dem therapeutischen und pädagogischen Einsatz von Tieren: Unter anderem finden sich Lamas in psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen, Hunde und Pferde in (Förder-)Schulen, Heimeinrichtungen und therapeutischen Praxen. Da der „Therapie“-Begriff jedoch nicht geschützt ist und oftmals inflationär[3] gebraucht wird, findet man vermehrt Sensations-Schlagzeilen über den therapeutischen Einsatz von Tieren. Trotz allen geschilderten Fortschritten und Erfolgen der Behandlungen mittels tiergestützter Therapie und Pädagogik gibt es jedoch bisher keine einheitliche wissenschaftlich-fundierte Erklärung für deren Wirkungsweise.
Auch in Bezug auf die Autismus-Spektrum-Störung liest man des Öfteren von den Erfolgen tiergestützter Therapien, u.a. der Reittherapie. Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine immer häufiger diagnostizierte tiefgreifende Entwicklungsstörung bei Kindern und Jugendlichen. Trotz alledem werden diese Therapien in der Literatur häufig nur beiläufig unter den „Außenseiter“-Therapien kurz erwähnt. Daher möchte ich im Folgenden die Möglichkeiten des Einsatzes von Pferden in der Therapie und Pädagogik von Kindern mit autistischen Verhaltensweisen erörtern.
Zunächst werden die oben beschriebenen Einsatzmöglichkeiten von Tieren in Therapie und Pädagogik erläutern. Diese finden sich heutzutage unter dem Gesamtbegriff der „Tiergestützten Interventionen“. Da sich diese tiergestützten Interventionen bereits vielfältig als wirkungsvoll bewiesen haben, möchte ich die theoretischen Grundlagen und die Wirkungsweise der Mensch-Tier-Beziehung beleuchten.
Darauf aufbauend folgt im nächsten Kapitel die Darstellung der Beziehung zwischen Mensch und Pferd, die dazu geführt hat, dass auch Pferde in tiergestützten Interventionen eingesetzt werden. Der Einsatz des Pferdes und die Besonderheiten der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mit diesem werden ebenso dargestellt. Für das abschließende Fazit der Arbeit, welches die Bedeutung des Einsatzes von Pferden in der pädagogisch-therapeutischen Förderung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung klären soll, bilden diese Punkte eine fundierte Grundlage.
Dementsprechend wird im Anschluss die Autismus-Spektrum-Störung erörtert. Bevor im Einzelnen auf die pädagogisch-therapeutische Förderung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung eingegangen werden kann, muss diese Entwicklungsstörung zuerst grundlegend dargestellt werden und die besonderen Merkmale ebendieser verdeutlicht werden.
Anhand der herausgestellten Merkmale der Autismus-Spektrum-Störung und den daraus resultierenden Besonderheiten für die pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen sowie den speziellen Möglichkeiten des Einsatzes von Pferden in Therapie und Pädagogik wird im letzten Kapitel nun die Bedeutung der Arbeit von Pferden bei der pädagogisch-therapeutischen Betreuung von Kindern mit autistischen Verhaltensweisen dargelegt.
2. Tiergestützte Interventionen
„Tiergestütztes Helfen und Heilen bedeutet eine neue und vermutlich die intensivste Stufe tierischer Domestikation: Tiere sollen nicht nur für diese oder jene Funktion im Dienste des Menschen ausgebildet werden, sondern durch ihre bloße Existenz selbst hilfreich sein.“ [4]
Im amerikanischen Raum wurde die Wirkung des Einsatzes von Tieren in der Therapie weitaus früher erkannt und erforscht als in Deutschland. Es wurden übergeordnete Institutionen gebildet und eingeführte Begriffe klar abgegrenzt. Gerade im englischsprachigen Raum gibt es eine große Anzahl an Begriffen für den Einsatz von Tieren in Therapie und Pädagogik. Zwei unterschiedliche Richtungen haben sich hier herausgebildet: Zum einen der Einsatz von Haustieren (Pet-Assisted Therapy, Pet-Facilitated Therapy oder Pet Facilitated Psychotherapy) und zum anderen der Einsatz von Tieren generell: domestizierte wie nicht domestizierte. Beschrieben wird diese Richtung im amerikanischen Raum mit den Begriffen Animal Assisted Activities ‘ (AAA), ‚ Animal Assisted Education ‘(AAE) und ‚ Animal Assisted Therapy ‘(AAT), welche von der amerikanischen Organisation Pet Partners (, die bis 2012 noch unter dem Namen Delta Society sehr bekannt war,) eingeführt und manifestiert wurden. Als Beispiel des Einsatzes eines nicht domestizierten Tiers ist die Delfintherapie wohl die Bekannteste.
Analog zu den amerikanischen Begriffen werden im deutschsprachigen Raum die Begriffe „Tiergestützte Aktivitäten“, „Tiergestützte Pädagogik“ und „Tiergestützte Therapie“ gebraucht. In Deutschland haben 2008 die Diplom-Psychologin und Diplom-Pädagogin Prof. Dr. Monika Vernooij und die Sonderpädagogin Silke Schneider ein „Handbuch der Tiergestützten Interventionen“ veröffentlicht. Laut Vernooij und Schneider ist der Begriff „Tiergestützt“ im deutschsprachigen Raum weder einheitlich begrifflich definiert noch geschützt und stellt somit nur das Arbeiten mit Tieren innerhalb eines Tätigkeitsfeldes und keine eigenständige Arbeitsmethode dar.[5] Sie versuchen in diesem Buch die gängigen Begriffe darzustellen und abzugrenzen, da es in Deutschland keine rahmengebenden Richtlinien zum Einsatz von tiergestützten Interventionen und keine offiziell anerkannte Begrifflichkeit gibt.
Die Tiergestützten Interventionen an sich werden in vier Formen unterteilt, die jedoch in der Praxis nicht klar voneinander getrennt zu sehen sind:[6] Tiergestützte Aktivitäten, Förderung, Therapie und Pädagogik.
Im Folgenden werden die dargestellten Hauptbereiche „Tiergestützte Therapie“ und „Tiergestützte Pädagogik“ näher erläutert, da sich der wesentliche Teil dieser Bachelor-Arbeit nur auf den therapeutischen und pädagogischen Einsatz von Tieren, im Detail den therapeutisch-pädagogischen Einsatz von Pferden, bezieht.
2011 wurde in Deutschland der Berufsverband Tiergestützte Therapie, Pädagogik und Fördermaßnahmen gegründet, welcher sich zum Ziel gesetzt hat in den nächsten Jahren Qualitätsstandards für den Einsatz von Tieren in Therapie und Pädagogik festzulegen und eine entsprechende internationale Zertifizierung für die Ausbildung von Fachkräften zu erreichen.
Dieser unterscheidet zwischen „Tiergestützter Therapie“ (TGT) und „Tiergestützter Pädagogik“ (TGP) folgendermaßen:
„ TGP unterstützt den Lern- oder Trainingsprozess durch gezielten Tiereinsatz im pädagogischen Setting. Besondere Beachtung finden hier Bereiche, in denen die Präsenz oder der Einsatz von Tieren besonders förderlich ist, wie zum Beispiel in der Sozial-entwicklung. Hierbei wird das Tier entweder direkt als Lernsubjekt eingesetzt, oder es erleichtert den pädagogischen Prozess und den Aufbau einer pädagogischen Beziehung. TGP arbeitet mit einem subjekt- und umweltorientierten Konzept […]. TGP wird von ausgebildeten Pädagogen ausgeführt.“ [7]
TGP unterliegt hier also den generellen Besonderheiten pädagogischen Handelns und kann in jeglichen Erziehungseinrichtungen Geltung finden. Das Tier hat hier die besondere Funktion, die Beziehung, Interaktion und Kommunikation zwischen Pädagoge und Klient zu erleichtern und gegebenenfalls kann es als Lernsubjekt eingesetzt werden. Als Grobziel können Lernfortschritte auf sozialer und emotionaler Ebene genannt werden.[8]
„TGT ist Bestandteil der Arbeit eines professionell ausgebildeten Therapeuten. Sie ist eine zielgerichtete therapeutische Intervention, in der ein Tier mit spezifischen Eigenschaften ein integraler Bestandteil des Behandlungsprozesses ist. Es erfolgt eine wissenschaftliche Dokumentation und Auswertung der Behandlung.“ 4
TGT ist Ergo-, Physio-, Sprach- oder Psychotherapie, die den Einsatz von Tieren in das wissenschaftlich-therapeutische Konzept miteinbezieht. Ausgangs- und Ansatzpunkt für die Therapie sind spezifische Funktions- und Verhaltensstörungen oder emotionale Konflikte des Klienten, die basierend auf einer sorgfältigen wissenschaftlichen Analyse der Lebens- und Problemsituation behandelt werden sollen.[9] Ebenso gilt es, nicht nur die Defizite des Klienten als Ansatzpunkte zu sehen, sondern ebenso die Stärkung und Aktivierung vorhandener Kompetenzen und Ressourcen zu verfolgen.[10] Das Tier als wesentlicher Bestandteil der TGT ist diesem Zweck entsprechend ausgebildet und wird von dem Therapeuten gewissenhaft eingesetzt.
2.1. Theorien über die Grundlagen der positiven Wirkweise der Mensch-Tier-Beziehung
Die Wirkungsweise der Tiergestützten Interventionen wird nach wie vor erforscht und bisher wurden verschiedene Theorien gebildet, die das Wirkungsgefüge des therapeutischen und pädagogischen Einsatzes von Tieren erklären sollen. Die drei m.E. nach am schlüssigsten theoretisch begründeten Erklärungsansätze werden im Folgenden kurz erläutert.
2.1.1. Die Biophilie-Hypothese
Die Biophilie-Hypothese beschreibt das Bedürfnis des Menschen eine Verbindung zur Natur aufzubauen,[11] welches in der gemeinsamen Evolution des Menschen mit anderen Lebewesen und in der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit der Natur begründet ist. Sie handelt sozusagen von einem „uralten Band“ zwischen Mensch und Natur.[12]
Der Begriff der Biophilie[13] wurde erstmals von dem Soziobiologen Edward O. Wilson 1984 angeführt. Wilson sah als Grundlage für die Biophilie die Co-Evolution von Menschen und Tieren an.
Erhard Olbrich führt hierzu aus, dass die „[menschlichen] Erfahrungen in der Stammesgeschichte […] sich nicht nur in morphologischen oder physiologischen Merkmalen niederschlagen, sie manifestieren sich auch in sozialen Prozessen […].“[14] Er erkennt hierin die positiven Effekte des pädagogisch-therapeutischen Einsatzes von Tieren und sagt, dass sie aufgrund der stammesgeschichtlichen Verbundenheit unsere Lebenssituation vervollständigen oder gar ergänzen.[15]
„ Sie tragen dazu bei, eine „evolutionär bekannte“ Situation zu schaffen – und mit den vielen so möglich werdenden manifesten Transaktionen geschieht ebenso wie in dem durch die vorbewusste und bewusste Erfahrung ausgelösten Erleben etwas Heilsames.“[16]
Diese stammesgeschichtlich begründete Theorie gibt zu gleich auch eine Erklärung darüber, warum Menschen und Tiere sich ‚so gut verstehen‘: Die Fähigkeiten des Menschen, sich auf der Ebene der nonverbalen Kommunikation mit Tieren zu verständigen, führt Olbrich auf eben diese „archetypischen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten“ zurück.[17]
Im Konkreten beschreibt das Konzept der Biophilie aber nicht nur das Bedürfnis des Menschen mit anderen Formen des Lebens (Lebewesen wie auch Ökosysteme und Habitate) in Verbindung zu treten; Es gibt auch eine Erklärung für die möglichen Positionen des Menschen in dieser Verbundenheit. Die verschiedenen Positionen schließen aber auch verschiedene Wertungen des Nutzens der Natur ein, welche jedoch alle gewissermaßen auf den Erhalt der eigenen Existenz abzielen.[18] Kellert formulierte aus den verschiedenen Wertungen neun Perspektiven der Verbundenheit von Menschen zu Tieren. Diese weisen ebenso die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse auf. Als Beispiele können hier der Nutzen von Tieren als Nahrungslieferanten, die Bewunderung der Schönheit der Natur oder ökologisch-wissenschaftliche Analyse der Natur genannt werden. Vernooij und Schneider gehen davon aus, dass im Zusammenhang mit Tiergestützten Interventionen fast alle Perspektiven der Verbundenheit des Menschen zur Natur mehr oder weniger zum Tragen kommen. Allerdings sind nicht alle dieser Wirkungen steuer- oder kontrollierbar, wohingegen andere bewusst gezielt therapeutisch und pädagogisch eingesetzt werden können.[19]
2.1.2. Die Du-Evidenz
„Mit der Du-Evidenz bezeichnet man die Tatsache, dass zwischen Menschen und höheren Tieren Beziehungen möglich sind, die denen entsprechen, die Menschen unter sich beziehungsweise Tiere unter sich kennen.“[20]
Die „Du-Evidenz“ ist ein Begriff aus der Psychologie und steht für das subjektive Erleben des Menschen, in dem Tier einen individuellen Freund und Partner gefunden zu haben. Der Mensch schreibt dem Tier eine Persönlichkeit zu, es wird als „Du“ angesehen.[21] Dieses Tier wird dann vom Menschen als Individuum respektiert und die Beziehung zum Tier hat einen partnerschaftlichen Charakter; das Tier bekommt einen Namen und wird fest in die Gemeinschaft integriert.
„Die Du-Evidenz ist die unumgängliche Voraussetzung dafür, dass Tiere therapeutisch und pädagogisch helfen können.“ [22]
Dass das Tier als „Du“ angesehen wird, erkennen Vertreter dieser Theorie als Basis für therapeutisch-pädagogische Prozesse in der Interaktion mit dem Tier, da dieses als angemessener Partner angesehen wird.
Laut Vernooij und Schneider gehen Menschen vor allem mit solchen Tieren eine Du-Beziehung ein, die in sozialen Strukturen leben, wie zum Beispiel Pferde oder Hunde. Menschen erkennen also gerade in diesen Tieren einen adäquaten Begleiter, da diese „ähnliche emotionale und soziale Grundbedürfnisse [wie der Mensch] besitzen […] und folglich verstehbar sind.“[23] Der Unterschied zur Beziehung mit dem Menschen ist nur, dass die Beziehung zum Tier gänzlich ohne verbale Kommunikation auskommen kann. So erklärt Schmitz, dass die Mensch-Tier-Beziehung ebenso gut funktioniert wie die zwischenmenschliche Beziehung und demnach keiner (verbal-digitalen) Sprache bedarf.[24]
2.1.3. Die Bindungstheorie
„Die Bindungstheorie geht davon aus, dass die Erfahrungen früherer Bindungen an eine oder mehrere Bezugspersonen bzw. deren Fehlen entscheidenden Einfluss auf die sozio-emotionale Entwicklung von Kindern haben.“[25]
Die Bindungstheorie wurde 1969 von John Bowlby aufgestellt. Heute dient sie vor allem als Ansatz in der Humanpsychologie, um Entwicklungsstörungen und psychische Störungsbilder bei Kindern und Jugendlichen zu erklären.[26] Bowlby definierte Bindung als „ein biologisch angelegtes Verlangen nach sozialer Nähe.“[27]
Die ersten Bindungserfahrungen erlebt ein Kind generell in seinem ersten Lebensjahr mit einer Bezugsperson (i.d.R. die Mutter); Die Nähe zur Bezugsperson gilt als „sichere Basis“ und dient zur „(externalen) Regulation vor allem von negativen Emotionen“.[28] Man unterscheidet „sicher gebundene“ und „unsicher gebundene Kinder“.[29] Bei sicher gebundenen Kindern haben die positiven Bindungserfahrungen zu einem starken Vertrauen des Kindes in die Bindungsperson geführt, so dass dieses auch Trennungssituationen zulassen kann.[30] Laut Beetz erlaubt erst „die Kommunikation mit der Bindungsfigur in einer sicheren Bindung eine gesunde psychische Entwicklung.“[31]
Ein Bedürfnis nach Bindung und die Fähigkeit, Bindungen zu anderen Personen aufzubauen, gelten als Grundlage für die gesunde sozio-emotionale Persönlichkeitsentwicklung und psychische Gesundheit.[32] Ebenso gilt die Art der Bindungserfahrungen
„ als Grundlage für das spätere emotionale und soziale Verhalten des Menschen, für seine Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, zu bewerten und situationsgemäß auszudrücken ebenso wie für die Qualität seiner Sozialbeziehungen.“ [33]
Bowlby führte als Charakteristika, die eine echte Bindung von anderen sozialen Beziehungen unterscheiden, die folgenden Merkmale an:
- Das Suchen und Aufrechterhalten von Nähe zur Bindungsperson,
- Disstress/Leid bei der Trennung von der Bindungsperson
- Die Nutzung der Bindungsperson als sichere Basis für Exploration.[34]
Beetz überträgt das Konzept der Bindungstheorie nun auf die Mensch-(Haus-)Tier-Beziehung. Sie geht davon aus, dass Menschen „auch zu Tieren tiefgehende Beziehungen aufbauen, die vor allem hinsichtlich emotionaler und sozialer Bedürfnisse positive Auswirkungen haben“.[35] (Haus-)Tiere können für Menschen Bindungsobjekte darstellen und ebenso können Menschen für Tiere ein Bindungsobjekt sein. Beetz erkennt diverse Merkmale in Mensch-Tier-Beziehungen, die, wenn vorhanden, auf eine echte Bindung des Menschen zum Tier hinweisen können. Tiere „spenden Trost und geben Sicherheit und Zuwendung und dies evtl. in einem subjektiv vergleichbar empfundenen Ausmaß wie eine sichere Bindungsfigur.“[36]
Sie verweist darüber hinaus darauf, dass das Erkundungs- bzw. Neugierverhalten gegenüber der Natur durch die Begleitung eines Tieres, zum Beispiel während eines Spaziergangs mit dem Hund oder während eines Ausrittes, stark zunimmt.[37] Sie geht des Weiteren davon aus, dass Menschen durch positive Bindungserfahrungen mit Tieren ihre sozialen und emotionalen Kompetenzen fördern können und diese in der Mensch-Tier-Bindung gewonnenen Erfahrungen und Fähigkeiten auf zwischenmenschliche soziale Beziehungen übertragen werden können.[38] Signifikant höhere Werte von Empathie bei Kindern, die mit Tieren aufwuchsen, konnten ebenso bereits empirisch nachgewiesen werden.[39] Des Weiteren wird oftmals bei Verlust eines Tieres die Intensität der emotionalen Bindung zum Tier deutlich: Die Besitzer des Tieres verspüren echte Trauer, die mit der Trauer über den Verlust eines Familienmitglieds gleichzusetzen ist.[40]
Vernooij geht noch einen Schritt weiter und sagt, dass insbesondere unsicher gebundene Menschen durch die Bindung zu Tieren in gewissem Maße sich eine für sie zufriedenstellende Existenz sichern können. Dies geschieht, weil die „im Umgang mit dem Tier […] aus der Erfahrung mit Menschen resultierenden Vorbehalte, Unsicherheiten und Ängste gegenstandslos werden“.[41] Das Tier erfüllt somit den Zweck, das grundlegende Verlangen nach sozialer Nähe zu befriedigen.
[...]
[1] Vgl. Pickartz S. 11
[2] Vgl. Stoffl S. 41f
[3] Vgl. Berger S.404
[4] Greiffenhagen S. 20
[5] Vgl. Vernooij und Schneider S. 34
[6] Vgl. Vernooij und Schneider S. 34
[7] Berufsverband Tiergestützte Therapie, Pädagogik und Fördermaßnamen e.V. http://www.tiergestuetzte.org/information.html Stand 03.05.2013
[8] Ausführliche Darstellung der Ziele: Vgl. Vernooji und Schneider S. 40f.
[9] Vgl. Vernooji und Schneider S. 43
[10] Vgl. Vernooji und Schneider S. 44
[11] Vgl. Vernooij und Schneider S. 5
[12] Greiffenhagen S. 184
[13] Der Begriff „Biophilie“ setzt sich auf den griechischen Wortstämmen „bios“ („Leben“) und „philia“ (= „Liebe“) zusammen und umschreibt somit grob „Die Liebe zum Leben“
[14] Olbrich (2003a) S. 69
[15] Olbrich (2003a) S. 75
[16] Olbrich (2003a) S. 75f
[17] Olbrich (2003b) S. 185 „So ist es durchaus plausibel anzunehmen, dass nach wie vor auf tieferen Schichten des Nervensystems von Menschen eine im wahrsten Sinne archaische Bereitschaft zur Wahrnehmung anderer Lebensprozesse besteht, und dass Menschen auch nach wie vor der archetypischer Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten gewahr werden, deren adaptiver Wert über sehr lange Zeiträume unter Beweis gestellt worden sind.“
[18] Vgl. Die neun Perspektiven der Bezugnahme von Menschen zur Natur, die Kellert herausstellen konnte, führt Olbrich(2003a) genauer aus S. 70-72.
[19] Vgl. Vernooij und Schneider S. 7
[20] Greiffenhagen S. 22
[21] Buber zit. n. Otterstedt S. 64 „Wenn aber eins hervorsteigt aus den Dingen, ein Lebendes, und mir Wesen wird, und sich in Nähe und Sprache zu mir begibt, wie unabwendbar kurz ist es mir nichts als Du!“
[22] Greiffenhagen S. 24
[23] Vernooij und Schneider S. 8
[24] Schmitz zit. in Vernooij und Schneider S. 8
[25] Vernooij und Schneider S.10
[26] Beetz (2009) S. 133
[27] Beetz (2009) S. 134
[28] Beetz (2003) S. 77
[29] Beides Vernooij und Schneider S.10
[30] Vgl. Beetz (2003) S. 77f
[31] Beetz (2003) S. 79
[32] Vgl. Beetz (2009) S. 135
[33] Vernooij und Schneider S. 10
[34] Vgl. Beetz (2009) S. 141
[35] Beetz (2003) S. 77
[36] Beetz (2003)S. 83
[37] Vgl. Beetz (2009) S. 146
[38] Vgl. Beetz (2003) S. 81
[39] Beetz (2003) verweist auf eine Studie von Poresky & Hendrix (1989) und eine Studie von Paul (1992) S. 81
[40] Vgl. Beetz (2009) S. 146
[41] Vgl. Vernooij (2009) S. 176