Die Arbeit unternimmt eine kritische Rekonstruktion von Plotins Schrift "Über das Schöne".
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung (I 6, 1-3)
- Kritik der Symmetrietheorie (I 6, 4-8)
- Das ‚erotische‘ Erlebnis der Sinnenschönheit (I 6, 9-10)
- Das Zusammenspiel von Materie und Form (I 6, 11-18)
- Der Aufstieg zur geistigen Schönheit (I 6, 19-20)
- Die Schönheit der tugendhaften Seele (I 6, 21-31)
- Identität von Schönheit und Gutheit (I 6, 32-36)
- Anweisung zur Schau – Weg und Mittel des Aufstiegs (I 6, 37-44)
- Naturschönheit, Kunstschönheit und die Rehabilitierung der Künste
- Literaturverzeichnis
1. Einleitung (I 6, 1-3)
„Ethik und Ästhetik sind Eins.“[1]
Plotins erste, populärste und wohl rhetorischste Schrift[2] hat gemäß dem Titel Περὶ τοῦ καλοῦ, den ihr Pophyrios gab, das Schöne zum Gegenstand der Untersuchung. Zwar erwartet man unter diesem Titel eine ästhetische oder kunstphilosophische Abhandlung, aber das Anliegen Plotins ist vielmehr ein metaphysisches, denn der Text macht ausgehend von der platonischen Erotik (Symposion, Phaidros) und Kathartik (Phaidon) den Aufstieg der Seele von der äußeren, wahrnehmbaren Schönheit zur inneren, geistigen Schönheit als Vorbereitung der Henosis (Vereinigung) zum Thema.[3] Und diese Schönheit ist nach Plotin überraschenderweise ein „universaler Charakter alles Seienden“[4] und nicht nur eine Eigenschaft, die z.B. bestimmten Kunstwerken zukommt, denn sie steht für Plotin für die graduelle Manifestation der Macht der seinsbegründenden Einheit.[5] „Das Schöne als Struktur und Form und damit als Inbegriff von Seinsfülle ist nur das Sich-Zeigen und Erscheinen dieser ursprünglich formlosen Schönheit“[6]. Zwar gibt es auch andere Methoden des Aufstiegs zum Einen[7], aber der Weg über die Liebe und Erkenntnis des Schönen ist für die meisten dabei die erste Wahl.[8] Dies mag deshalb so sein, da sich von den Gegenständen des nichtsinnlichen Seinsbezirkes des Ideellen nur die Schönheit unmittelbar selbst in der sinnlichen Wahrnehmung zeigt. Die Grenzerfahrung des Schönen wird Mittel des Selbstüberstiegs der Sinnlichkeit. Platon drückt dies folgendermaßen aus:
„Was nun Gerechtigkeit, Besonnenheit und all die anderen Dinge angeht, die für die Seelen von Wert sind, so liegt auf deren irdischen Abbildungen keinerlei Glanz, sondern mit stumpfen Organen, mit Mühe und wenige nur sehen, wenn sie vor solche Abbilder geraten, das Urbild, das dort abgebildet. […] Doch was die Schönheit angeht, so war sie strahlend, wie wir gesagt haben, unter jenen Gegenständen, und als wir hierherkamen, haben wir sie, die am klarsten glänzte, erfaßt mit dem klarsten unserer Sinne. […] Doch wie es nun einmal ist, hat allein die Schönheit diese Gabe, von allen geliebt zu werden und sichtbar zu sein.“[9]
Deshalb wird sich die vorliegende Arbeit hauptsächlich diesem Weg in Form einer kritischen Rekonstruktion der Enneade I 6 widmen.
Plotin arbeitet, ähnlich wie Platon in der Rede der Diotima im Symposion[10], eine Stufenleiter des Schönen heraus. Jede Stufe des Aufstiegs auf dieser Leiter steht für eine intensivere[11] Erfahrung und höhere Form des Schönen.[12] Dieser Aufstieg ist „die Bedingung und zugleich Vollendung einer philosophischen, ihres Anspruchs und ihrer Möglichkeiten bewußten Lebensform“[13]. Sokrates ist im Platonismus dafür das Musterbeispiel. Ästhetik[14], Ethik, Religion und Philosophie sind für Plotin in dieser Lebensform verschmolzen.[15]
Der Aufstieg findet im Höhlengleichnis ein verwandtes Bild. Der graduelle Aufstieg, die schrittweise Heranführung ist für ein erfolgreiches Vorankommen förderlich und ermöglicht die Anpassung und Gewöhnung an das helle Licht[16] am Ausgang der Höhle.
Welches sind also die Stufen bzw. in welchen Bereichen und in welcher Weise lässt sich das Schöne antreffen? Zunächst und zuerst scheint es uns im immanenten Bereich der sinnlichen Wahrnehmung (insbesondere Sehen und Hören) zu begegnen, in der Natur (physis) und in den Werken der Kunst (techne). Hier bewegen wir uns noch in der Sphäre der gemeinen Ästhetik. Über den sinnlichen Wahrnehmungsbereich hinaus und damit auf höherer Stufe sieht Plotin das Schöne aber auch in geistigen Tätigkeiten/Wissenschaften und bei den Tugenden, die in den Lebensweisen der Menschen aufscheinen.[17] Wobei sich das Schöne in den Tugenden als eine „ethische Struktur der Seele“[18] realisiert.
Wodurch sind nun die Dinge in beiden Bereichen schön und sind sie es auf dieselbe Weise? Körper sind kontingenterweise schön, also abhängig davon, ob sie an der Schönheit teilhaben (Körperlichkeit impliziert nicht Schönheit). Tugenden hingegen sind aufgrund ihres geistigen Wesens notwendigerweise schön.[19] Denn jede „Tugend ist Schönheit der Seele“[20] und zwar auf ‚wahrere‘ Weise als die körperliche Schönheit, die nach Platon lediglich ein Abbild der Idee des Schönen ist. Die Seele erliegt einer Täuschung, wenn sie die körperliche Schönheit als die wahre und letzte Schönheit auffasst. Sieht sie also die Abbildrelation nicht ein, kann die Seele verleitet werden selbst das Hässliche zu lieben und nicht zu einem höheren Sein zu gelangen.[21] Die körperliche Lust ist solang gut, wie sie dem Aufstieg zum geistig Schönen nicht hinderlich ist. Denn schließlich haben auch die niederen Schönheiten teil an der Idee des Schönen. Wichtig ist dabei nur, dass die erfahrene Schönheit jeweils korrekt in der ontologischen Hierarchie verortet und nicht schon auf niederer Ebene verabsolutiert wird.[22] Die rechte Haltung zum Schönen ist also entscheidend, denn nur dann wird in der Seele der wahre Eros hervorgerufen, der dem Guten entspringt und auch wieder zu ihm zurückführt.[23] Man muss der Anleitung zum Aufstieg generell aber eher eine Tendenz zur Askese und Kontemplation zusprechen. Schließlich ist das quasi-religiöse Ziel der plotinischen Ästhetik die mystische[24] Einswerdung der menschlichen Einzelseele mit dem Einen.[25]
„Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.“[26]
2. Kritik der Symmetrietheorie (I 6, 4-8)
Ausgehend von der Frage, was die Körper schön mache und beim Rezipienten Aufmerksamkeit erregt[27], führt Plotin eine mehrgliedrige Kritik der Symmetrietheorie des Schönen durch, vor allem um darzulegen, wie Schönheit gerade nicht gedacht werden sollte, nämlich primär vom Materiellen/Körperlichen her. Dem entgegen hebt er die Nähe der Unmittelbarkeit des ästhetischen Erlebens zur nicht-diskursiven, dem begrifflichen Zugriff entzogenen Anschauung des nicht repräsentierbaren Einen hervor.[28] Es geht Plotin deshalb zunächst darum zu eruieren, welches „die ‚Bedingungen der Möglichkeit‘ der Erfahrung und Erkenntnis sinnlicher Schönheit“[29] sind (eine gewissermaßen transzendentale Untersuchung).
So lautet vereinfacht die angeblich allgemein geteilte These (wohl der Stoiker[30] ), dass Symmetrie, d.h. das rechte Verhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen (und zusätzlich auch noch eine ‚schöne‘ Färbung) Schönheit garantiert.[31]
Plotins Widerlegung könnte man in vier Teile untergliedern:
1.) Nur Zusammengesetztes (also Mehrteiliges) könnte demnach schön sein,[32] d.h. im Umkehrschluss, dass das Schöne kein Einfaches sein könnte (wie das Sonnenlicht, Gold[33] oder ein wohlklingender Ton). Das scheint offenbar eine unnötige Einschränkung möglicher schöner Gegenstände zu sein (die Definition engt also die Extension zu stark ein). Man könnte es als Widerspruch zwischen Praxis und Theorie ansehen, wenn die faktisch von uns für schön gehaltenen Farben nach dem auferlegten Symmetriekriterium als nicht als schön gelten könnten.[34] Für Plotin sind aber besonders die einfachen sinnlichen Schönheiten wichtig (wenn nicht gar den symmetrischen und zusammengesetzten übergeordnet) und dies begründet sich daher, dass er „Schönheit primär als eine Eigenschaft des unteilbaren Geistes“[35] fasst und diese Einfachheit für ihn auch in der sinnlichen Welt ihre Entsprechung finden muss. An Plotins Beispielen für nicht-zusammengesetzte, sinnlich-schöne Dinge zeigt sich zugleich aber die Problematik, dass er Einfachheit u.a. mit Homogenität, Instantaneität oder Atomizität gleichzusetzen scheint.[36] Man müsste diese Formen als Erscheinungen höchster Einheit/Einfachheit in der raum-zeitlich wandelbaren, materiellen Welt und unter deren Bedingungen auffassen, um diese Pluralität zu rechtfertigen.
2.) Da es dabei nur auf die Schönheit des Ganzen ankommt, sind die einzelnen Teile nicht (unbedingt) von sich aus schön bzw. könnten hässlich sein.[37] Plotin zufolge müssten jedoch alle Teile schön sein, damit das Ganze auch wirklich schön ist.[38] Diese Kritik Plotins scheint problematisch zu sein, denn woher sie sich begründet, wird nicht explizit gemacht. Man könnte vermuten, dass Plotin in Bezug auf Zusammengesetztes von der ontologischen Priorität der übergreifenden Einheit gegenüber den Teilen ausgeht und so von der Schönheit des Ganzen auf die notwendige Schönheit der Teile schließt (oftmals sind aber Teile für sich betrachtet uninteressant) oder dass er es für widersprüchlich erachtet, wenn Schönes aus Hässlichem aufgebaut sein könnte, fast so als könnte dann Sein auf Nichts gründen.
3.) Zudem kann auch die Symmetrie die gleiche bleiben und der Gegenstand trotzdem mal schön und mal nicht schön erscheinen (es muss also noch eine andere Abhängigkeit vorliegen, die über das physische Objekt hinausgeht).[39] Z.B. wenn das Leben und der Glanz der Schönheit aus einem Gesichtszug entschwindet, ohne dass sich dabei die räumliche Anordnung[40] der Teile verändert. Dies erklärt Plotin durch die An- oder Abwesenheit der verlebendigenden Seele. Lebendigkeit geht folglich vor Symmetrie.[41] Seine These ist also nicht, dass Schönheit von der Perspektive des Betrachters oder der jeweiligen Kultur abhängig ist.[42]
4.) Besonders im nicht-sinnlichen (ethischen, noetischen) Bereich wird das Symmetriekriterium Plotin zufolge sinnlos, da dieser Bereich nicht quantifizierbar ist[43] (die Definition ist demnach in anderer Hinsicht auch zu weit, da sie sich nicht auf die sinnlich wahrnehmbaren Phänomene beschränkt). Worin soll schließlich die Symmetrie bei Gesetzen, Tugenden, wissenschaftlichen Theorien[44] und Seelenteilen bestehen? Dieser Vorwurf Plotins erklärt sich u.a. aus seiner platonischen Vorannahme, dass eine Form in all ihren Instanziierungen – seien sie im sinnlichen oder auch im seelischen Bereich angesiedelt – auf univoke Weise präsent sein muss.[45] Das Argument zeigt auch, dass es Plotin bei der Frage nach dem Schönen vorrangig nicht um eine Ästhetik im engeren Sinne oder um eine Theorie der Künste geht. Denn das Schöne steht viel allgemeiner für „werthaft Ausgezeichnetes“[46]. Denn wie seine Kritik an der Symmetrietheorie im Nichtsinnlichen kulminiert, so wird dies auch das Ziel seines eigenen Denkens sein.
Das Fazit der Widerlegung lautet, dass Symmetrie nicht als Kriterium für Schönheit ausreicht. Nicht einmal in Bezug auf sinnlich wahrnehmbare, zusammengesetzte Körper, wie Argument Nr. 3 zeigen soll, ist Symmetrie hinreichendes Merkmal für Schönheit. Wenn überhaupt, so muss das Symmetrische seine Schönheit von etwas anderem her beziehen.[47] Plotin setzt dem vom Mannigfaltigen her gedachten emergenztheoretischen Begriff von Schönheit sein dependenz- und partizipationstheoretisches Konzept entgegen, das auf der Ideenlehre und der ontologischen Priorität der Einheit beruht, die die Vielheit des Seienden erst konstituiert und erhält.[48]
Bei Plotins Kritik wird zweifelsohne ein sehr eingeschränkter Symmetriebegriff zugrunde gelegt, der sich vor allem an der sichtbaren Symmetrie orientiert. Trotzdem sollte nicht unterstellt werden, Plotin baue hier eine wehrlose Strohpuppe auf. In späteren Schriften erfährt der Symmetriebegriff bei ihm sogar eine positive Wendung und Erweiterung, wodurch die Symmetrie letztlich doch noch schönheitsfähig wird.[49] Die Symmetrietheorie und die Formtheorie des Schönen stehen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander, sondern ergänzen sich vielmehr.[50]
Da die Symmetrietheorie uns keine zufriedenstellende Antwort darauf geben konnte, wovon die Körper ihre Schönheit beziehen, müssen wir weiter auf Plotins Weg schreiten, um seine Lösung in Erfahrung zu bringen.
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Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in Plotins Enneade I 6 hauptsächlich?
Plotins Enneade I 6, auch bekannt als "Über das Schöne", behandelt den Aufstieg der Seele von der äußeren, wahrnehmbaren Schönheit zur inneren, geistigen Schönheit. Dies dient als Vorbereitung auf die Henosis (Vereinigung mit dem Einen). Die Schrift analysiert Schönheit als einen "universalen Charakter alles Seienden" und als Manifestation der Macht der seinsbegründenden Einheit.
Welche Stufen des Schönen werden in der Enneade I 6 unterschieden?
Plotin arbeitet, ähnlich wie Platon, eine Stufenleiter des Schönen heraus. Das Schöne kann in der sinnlichen Wahrnehmung (Natur, Kunst), in geistigen Tätigkeiten/Wissenschaften und in den Tugenden der Menschen angetroffen werden.
Was ist Plotins Kritik an der Symmetrietheorie des Schönen?
Plotin kritisiert die Symmetrietheorie, die besagt, dass Symmetrie (rechtes Verhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen) Schönheit garantiert. Seine Kritik umfasst folgende Punkte: Nur Zusammengesetztes wäre demnach schön (was einfache Schönheiten wie Sonnenlicht ausschließt). Die einzelnen Teile müssten auch schön sein, damit das Ganze schön ist (was nicht immer der Fall ist). Die Symmetrie kann gleich bleiben, aber der Gegenstand trotzdem mal schön und mal nicht schön erscheinen. Im nicht-sinnlichen Bereich ist das Symmetriekriterium sinnlos.
Welche Rolle spielt die Seele bei der Wahrnehmung von Schönheit?
Die Seele spielt eine entscheidende Rolle. Körper sind kontingenterweise schön, abhängig davon, ob sie an der Schönheit teilhaben. Tugenden hingegen sind aufgrund ihres geistigen Wesens notwendigerweise schön. Die Seele kann sich täuschen, wenn sie die körperliche Schönheit als die wahre Schönheit ansieht und so vom Aufstieg zu höherem Sein abgehalten wird.
Wie steht Plotins Ästhetik im Verhältnis zu Ethik, Religion und Philosophie?
Für Plotin sind Ästhetik, Ethik, Religion und Philosophie in einer bestimmten Lebensform verschmolzen. Der Aufstieg zur Schönheit ist Bedingung und Vollendung einer philosophischen Lebensform.
Was ist das Ziel des Aufstiegs zum Schönen bei Plotin?
Das Ziel ist die mystische Einswerdung der menschlichen Einzelseele mit dem Einen.
Was bedeutet die Aussage "Ethik und Ästhetik sind Eins" im Kontext der Enneade I 6?
Diese Aussage deutet darauf hin, dass ethisches Verhalten und die Wahrnehmung von Schönheit untrennbar miteinander verbunden sind, insbesondere im Hinblick auf den Aufstieg der Seele.
Warum kritisiert Plotin die Vorstellung, dass Schönheit quantifizierbar sei?
Plotin argumentiert, dass Schönheit, insbesondere im ethischen und noetischen Bereich, nicht quantifizierbar ist. Er sieht Schönheit als etwas, das über messbare Kriterien hinausgeht.
Was ist das Fazit von Plotins Kritik an der Symmetrietheorie?
Das Fazit ist, dass Symmetrie nicht als alleiniges Kriterium für Schönheit ausreicht. Wenn überhaupt, dann bezieht das Symmetrische seine Schönheit von etwas anderem her.
- Quote paper
- Martin Scheidegger (Author), 2013, Stairway to Heaven: Über den Aufstieg zum Schönen in Plotins Enneade I 6, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/232723