Die leitende Grundthese dieser Arbeit ist, dass Franz Overbeck in mäeutischer Weise zentral war für die anfängliche Theologie Karl Barths, insofern beide auf ihre je eigene Weise der Frage nach „Theologie als unmöglicher Möglichkeit“ nachgingen – wo liegen die Möglichkeiten von Theologie angesichts der ihr inhärenten dialektischen Schwierigkeiten (Barth); worin zeigt sich die Unmöglichkeit von Theologie angesichts ihrer eigenen positiven Selbstverortung (Overbeck)?
Inhalt
A. Vorbetrachtung: Unbedingte Redlichkeit und ein „geniales Missverständnis“
B. Franz Overbeck und das „weltklug gewordene Christentum“
1. Einleitendes
2. Grundsätzliches
3. Christentum außerhalb und in der Welt
3.1 Die Historisierung des Christentums oder: Von „idealem“ und „realem“ Christentum
3.2 Die Modernisierung des Christentums oder: Von kultureller Attraktion und Aversion
4. Theologie in und vermittelt durch die Moderne
4.1 Die Vertretung des Christentums durch die moderne Theologie oder: Über Verzweckungsabsichten
4.2 Die Unvereinbarkeit von Theologie und Christentum oder: Über einen grundsätzlichen Widerspruch
5. Der „finis christianismi“ oder: „christliche Pilgerschaft in hoc saeculo“
C. Karl Barth und die ‚weltklug gewordene‘ Theologie
1. Die Weiterführung einer Polemik oder: Lektüre zwischen Vereinnahmung und Interpretation „unerledigter Anfragen“
1.1 Der erste „dialektische Theologe“ oder: Overbeck als Christ wider Willen
1.2 Vereinnahmung oder: „In der Luft stehen“
1.3 Interpretation I oder: Die Eschatologisierung der Overbeck’schen Analyse
1.4 Interpretation II oder: Die Anachronisierung der christlichen Religion
1.5 Weiterführung oder: Theologie zwischen den Extremen
2. Das „sachliche Rätsel“: Franz Overbeck als Anlass und Leitlinie für Karl Barths zweiten Römerbriefkommentar
2.1 Das Grundmuster: Glauben als Ertragen des unendlichen Widerspruchs
2.2 Die Beobachtung: Falsche und unmögliche Theologie
2.3 Die Konsequenz: Die „religiöse“ und die „unmöglichen Möglichkeit“
D. Nachbetrachtung: ‚Waches Warten‘ als Richtung einer möglichen Antwort auf „unerledigte Anfragen“
Literatur
A. Vorbetrachtung: Unbedingte Redlichkeit und ein „geniales Missverständnis“
„Wenn ich Professor wäre für Theologie […], würde ich die Studenten einladen zu einem Seminar, das heißen soll: Franz Overbeck und Karl Barth. Es soll erkundet werden, ob es sinnvoll sei, Franz Overbeck und Karl Barth zusammenzubringen […] durch den Vergleich zweier Bücher: Christentum und Kultur von Franz Overbeck und Der Römerbrief von Karl Barth.“1
So schreibt Martin Walser zu Beginn des siebten Kapitels seines politischtheologischen Essays „Über Rechtfertigung. Eine Versuchung“nicht.2 Aber es ist nicht undenkbar, er hätte so geschrieben, wäre seine literarische Bekanntschaft mit Franz Overbeck ähnlich intensiv gewesen wie die mit Friedrich Nietzsche, dessen Parallelisierung mit Barth Walser reizte. Denn tatsächlich ist eine Parallelisierung dieser beiden herausragenden Theologen um die 19. Jahrhundertwende für die Frage, unter welchen Bedingungen neuzeitliche Theologie möglich wäre, eine aufschlussreiche theologische Beschäftigung.
Um ausgehend von einer Analyse der Aphorismen, Thesen, Anschuldigungen und Kritik Franz Overbecks aufzuzeigen, in welchen Aporien sich das Christentum zu seiner Zeit befand und womöglich noch befindet, ist es ratsam, Overbeck grundsätzlich im Sinne Karl Löwiths zu lesen:
„Wer nicht die Mühe scheut, die Gedanken Overbecks nachzudenken, wird in dem Labyrinth seiner vorbehaltvollen Sätze die gerade und kühne Linie eines unbedingt redlichen Geistes erkennen“3. Dass dieser ‚unbedingt redliche Geist‘ Franz Overbeck eindrucksvoll und theologisch höchst bedeutsam gewesen ist, zeigt sich dabei anhand Karl Barths Wanderung durch dieses ‚Labyrinth‘, die Eberhard Jüngel einst als „groteskes“, später als „geniales Missverständnis“4 bezeichnete.
Entsprechend ist die leitende Grundthese dieser Arbeit, dass Franz Overbeck in mäeutischer Weise zentral ist für die anfängliche Theologie Karl Barths, insofern beide auf ihre Weise der Frage nach „Theologie als unmöglicher Möglichkeit“5 nachgehen - wo liegen die Möglichkeiten von Theologie angesichts der ihr inhärenten dialektischen
Schwierigkeiten (Barth); worin zeigt sich die Unmöglichkeit von Theologie angesichts ihrer eigenen positiven Selbstverortung (Overbeck)?
Die Skizze des Seminars, das Martin Walser vielleicht doch noch geben wird, soll nun im Folgenden ausgefüllt werden. Zunächst schließe ich mich Ulrich H. J. Körtner an, der im Feuilleton der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ bekennt:
„Walser stellt sich vor, ein Seminar über Barth und Nietzsche abzuhalten, immer freitags von 13 bis 15 Uhr. Was Walser umtreibt, ist eine ‚Hoffnung, die sich kühn anfühlt oder vermessen: Nietzsche, den Pfarrersohn heimzuholen. Also aufzuzählen, nachzuweisen, wie viel evangelische Theologie noch übriggeblieben ist in ihm und in seinem Zarathustra.‘ […]. Ich möchte mich gern für Walsers Seminar anmelden und auf ein Missing link zwischen Nietzsche und Barth hinweisen, das Walser nicht erwähnt: Franz Overbeck, Neutestamentler und Kirchenhistoriker in Basel und Freund Nietzsches.“6
B. Franz Overbeck und das „weltklug gewordene Christentum“
1. Einleitendes
Der Basler Kirchenhistoriker Franz Overbeck (16.11.1837 - 26.06.1905) ist nicht eigentlich als Theologe anzusehen;7 er will schon selbst nicht als ein solcher verstanden werden.8 Bei der Lektüre seiner Schriften, v.a. seines Nachlasses, wird schnell deutlich, dass er der Theologie als Möglichkeit des Christentums mindestens skeptisch, oft genug strikt ablehnend gegenüber steht. Seine theologische Bildung erlaubte es ihm, tief in die Sachverhalte der Theologie einzudringen und deren Behandlung mit fortgeschrittener theologischer Erfahrung nach eigenem Anspruch als ‚unchristlich‘ zu entlarven. Selbst Pfarrer zu werden oder auch nur als Universitätsprediger in den Dienst genommen zu werden, lag ihm ganz fern;9 das Christentum zu verkündigen, zu beweisen, gar aufgrund seiner Einsichten zu reformieren war nicht seine Absicht und sah er nicht als seine Möglichkeit. Franz Overbeck betrieb Theologie zunächst aus wissenschaftlicher Neugier, und je mehr er theologischer Lehrer wurde, desto weiter wies er diese Zuschreibung von sich; sein Interesse galt der Theologie nur in subjektiver Hinsicht, und je mehr er sich eingestand, zum Lehrer des Christentums nicht fähig zu sein, desto drängender wurde die Konsequenz, die er persönlich ziehen musste, als er seine Professur 1897 vorzeitig niederlegte, um ganz im Privaten sich als Gelehrter theologischen Fragen zu widmen und nicht als Theologe gelehrt Fragen beantworten zu müssen.10 Wenn überhaupt, so sah sich Overbeck als Theologe einer „Ketzertheologie“11, als Bestreiter der Möglichkeit jeglicher Theologie des Christentums.12
Aber auch als Christ ist Franz Overbeck nicht anzusehen, denn als solcher will er noch weniger denn als Theologe verstanden werden. Dass er sich als solcher nicht verstehen konnte, hängt mit seiner Differenzierung innerhalb der Möglichkeit von Theologie und Christentum zusammen: Da ihm unter den Bedingungen der Gegenwart Christentum unmöglich geworden ist, kann sich auch Overbeck - ganz ein Mensch seiner Gegenwart - als einen Christen nicht bezeichnen.13 So ist Franz Overbeck noch am sinnvollsten in einer Paradoxie zu verstehen: Nur als Nicht-Christ war er Theologe, denn als Fachmann auf dem Gebiet der Theologie konnte er nicht Christ sein. Und auch Theologe war er nur seiner Profession, nie seinem Selbstverständnis nach. Man muss das Urteil Walter Niggs in diesem Zusammenhang abmildern: „Overbeck […] endete tatsächlich mit der völligen Loslösung von Christentum und Theologie“14 - und betrieb doch zeit seines Lebens kritische Theologie ohne Christentum.
Sich selbst verstand Overbeck vor allem und schlicht als Kirchenhistoriker, überhaupt als Historiker, der auf das Anliegen einer profanen Darstellung der Geschichte sein Hauptaugenmerk richtete - und insofern ist Franz Overbeck wo schon kein Theologe, so erst recht kein systematischer Theologe (was im Übrigen schnell auch mit Blick auf die mangelnde innere Ordnung seiner schriftlich fixierten Gedanken deutlich wird). Und dennoch ist es in systematisch-theologischer Hinsicht das Hauptverdienst Franz Overbecks, mit deutlichen Worten auf eine Aporie des Selbstverständnisses (je)des Christentums unter den Bedingungen (je)der Gegenwart hingewiesen zu haben. Um dieser Aporie nachzuspüren, erscheint es am sachdienlichsten, unmittelbar anhand des Overbeck’schen „Kirchenlexicons“15 seinen mitunter schillernden Begriffen von
Geschichte, Christentum, Theologie, Welt und Kultur nachzugehen, d.h. sich konkret auf in dieser Form nicht zur Veröffentlichung bestimmte und entsprechend ungefärbte Äußerungen Overbecks zu beziehen; wo es darüber hinaus geboten scheint und Overbeck selbst darauf verweist, wird auf beide Auflagen seiner Schrift „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ von 1873 und 1903 zurückgegriffen werden.16 Dabei soll für den ersten Hauptteil dieser Arbeit die These leitend sein, dass nach Overbeck im wechselseitigen Verhalten von Christentum und Welt zueinander die Unmöglichkeit von Theologie - sowohl hinsichtlich ihrer kulturprotestantischen Färbung in wilhelminischer Zeit als auch grundsätzlich - ihren Grund und Audruck findet.
2. Grundsätzliches
„[W]eltklug gewordenes [Chri]s[ten]th[u]m“ - als ein solches versteht Franz Overbeck das zwangsläufige Resultat in der historischen Entwicklung des Christentums, sobald es als in der Welt sich befindlich diese zu erobern sich anschickt und infolge des derart eingegangenen Verhältnisses zur Welt wahrnehmen muss, dass diese sich als personalautonomes Gegenüber der Okkupation widerum erwehrt und im Gegenzug zur Vereinnahmung des Christentums ansetzt. Overbeck benennt dieses „weltklug gewordene[ ] [Chri]s[ten]th[u]m“ mit dem Begriff ‚Jesuitismus‘, doch er versteht darunter mitnichten die historische Größe der katholischen Ordensgemeinschaft. Overbeck verwendet diese Bezeichnung als übergeordnete Beschreibung des weltlich-verwirklichten Christentums.17 Aus Overbecks Deutung, dass dieser ‚Jesuitismus‘ „ interconfessionell “ sei und „in einer gewissen Epoche ihrer Entwickel[un]g in jeder Confession “18 sich verwirkliche, ist zu folgern, dass mit ‚Jesuitismus‘ grundsätzlich jedes Welt-Christentum-Verhältnis (und vice versa) in den Blick genommen ist. Nicht zuletzt der Protestantismus in Gestalt dem Umstand, dass dieser Nachlass erst seit der Mitte der 1990er Jahre wissenschaftlich breit rezipierbar ist und entsprechend den bis dato erfolgten Overbeckstudien nicht zur Verfügung stand. Der hier unternommene Ansatz, Overbeck getreu darzustellen, unterscheidet sich also grundsätzlich schon hinsichtlich der zugrundeliegenden Materialbasis von, nach meiner Kenntnis, allen sonstigen einschlägigen Overbeckstudien. moderner, d.h. zeitgenössischer19 Theologie ist für Overbeck „[e]in idealer Jesuitismus […] in der sublimsten Form“20.
Entscheidend für die interkonfessionelle Natur dieses weltklug gewordenen Christentums ist allerdings nicht allein der Versuch einer Eroberung der Welt (jeweils in der frühkirchlich-katholischen und in der frühneuzeitlich-protestantischen Prägung unter der vorgetäuscht naiven „Miene der Unschuld“21 ); entscheidend - auch für die Fragestellung dieser Arbeit - ist v.a. auf protestantischer Seite das Bestreben, das Christentum der Welt gleichsam aufzuprägen, wobei diese formell sakralisiert wird:
„[I]n der protest[antischen] modernen Theologie wird der absurde Gedanke verfolgt, das Christenth[um] unter der ausdrückl[ich] heil[ig] gesprochenen Hülle der modernen Cultur der Welt aufzudrängen“22. Lässt sich das Klügerwerden des Christentums zunächst noch über sein geschichtliches Werden als interkonfessionelles Phänomen erfassen, insofern es die Folge der Reife einer Konfession ist und dementsprechend nur zeitversetzt,23 aber analog im Katholizismus wie im Protestantismus zutage tritt, so zeigt sich nach Overbeck schließlich das berechnende Zurechtfinden des Christentums immer als sein suprakonfessionelles Merkmal: Die Weihe der Welt zum Zwecke ihrer Dominierung ist im Christentum „[k]ein Unterscheidungsmerkmal seiner Confessionen“, vielmehr „[a]uf einer gewissen Stufe der historischen (weltli[chen]) Entwickelung des [Chri]s[ten]th[u]ms […] überall und jedesmal“ notwendig. Jesuitismus ist ferner nicht weniger als „der Geist, […] von dem das moderne [Chri]s[ten]th[u]m erfüllt ist. Was heute um sich greift ist nicht mehr [Chri]s[ten]th[u]m sondern Jesuitismus, sein caput mortuum“24. Dass dies nicht weniger besagen will als die Bestreitung der Möglichkeit des Christentums in (je)der Gegenwart, soll im Verlauf der Arbeit deutlich werden. Zu fragen wird nun sein, wie Overbeck diese geschichtliche, mithin weltliche respektive profane Entwicklung des Christentums versteht und welcherart das Verhältnis von Christentum, Theologie und Kultur zueinander ihm zu sein scheint; diesem Vorhaben gelten die nachfolgenden Abschnitte.
3. Christentum außerhalb und in der Welt
Es ist für Overbeck nicht entscheidend, eine präzise Definiton dessen zu geben, was er unter ‚Welt‘ versteht; vielmehr beruft er sich tautologisch darauf, dass jedem Urteil über sie schon ein innerer, ganzheitlicher Begriff unterliege und man davon ausgehen könne, dass allgemein bekannt sei, was ‚Welt‘ ist: „Welt ist Welt und was man ‚von jeher‘ darunter verstanden hat“25. Overbeck weigert sich schon aus praktischen Gründen, eine präzise Definiton vorzugeben,
„weil ich nicht weiss, wie ich als ‚Weltmann‘, mich mit dem [Chri]s[ten]th[u]m auseinandersetzend, es wohl anders thun sollte, ohne bei jedem Gebrauch des Worts ‚Welt‘ jedesmal meinen ganzen Schulsack auszuschütten“.
Vielmehr gilt für ihn, vor allem im Blick auf das Christentum, dass dieses Wissen von und um ‚Welt‘ gänzlich unabhängig von einer religiösen oder christlichen Bestimmung dieses Begriffes ist, dass dieses Wissen dem Christentum erkenntnistheoretisch und historisch-chronologisch vielmehr vorgeordnet sei.26 Welt-Wissen ist ein Wissen a-priori als eines um Geschichte, Zeit und Menschheit, um „die Einh[ei]t von Himmel und Hölle“27, um das profane Ganze der menschlichen Erfahrungen, und als solches ist es selbst profaner Natur. Diese mangelnde Begriffsschärfe birgt bei Overbeck allerdings die Gefahr, dass man in der Folge seiner Gedanken ‚Welt‘ nicht mehr als Raum- und ZeitKategorie bzw. als neutrale Bedingung von Kontingenz begreift, sondern ‚Welt‘ sehr leicht als ein quasi-mystisch vorgestelltes, autonom handelndes Subjekt verstehen kann; und in der Tat unterliegt Overbeck gerade in der Verhältnisbestimmung von Welt und Christentum dieser Gefahr nicht selten.
Konstitutiv für die weitere Gedankenführung ist zunächst eine Gegenüberstellung zweier Beobachtungen Overbecks; zum einen, „dass das Christenthum in der Welt nichtmehr das ist was es einst in ihr gewesen ist“28. Darauf aufbauend bestimmt Overbeck zum anderen das Wesentliche des Christentums, d.h. das „echte, reine und ursprüngli[che]“29 Christentum: Materiell ist es in seinem Bezug zur Welt dieser ein Gegenüber, hat es sie „ausser und unter sich“30, grenzt es sich von ihr ab und weiß es durch seine eschatologische31 Perspektive um seine ihr gegenüber erhabene Stellung. In formaler Hinsicht ist das Wesentliche des Christentums nach Overbeck seine A-historizität; er definiert es schlicht „als Christus und der Glaube seiner Anhänger an ihn “32, wodurch es zugleich jeder geschichtlichen, mithin zeitlichen Betrachtung enthoben ist: Jesus Christus als Jesus von Nazareth selbst hatte keine Vorstellung von einer Religion des Namens ‚Christentum‘, und der ‚Glaube seiner Anhänger an ihn‘ lässt sich mit historischen Mitteln in der unmittelbaren Zeit nach dem Tode Jesu nicht greifen, weil die den auferstandenen Christus Glaubenden wesentlich „vollk[ommen] unfasslich[ ], zwischen Sein und Nichtsein zweideutig schillernd[ ]“33 sind.
Einerseits also ist für Overbeck das Christentum „einst“ „in der Welt“ etwas „ gewesen “, andererseits verhielt dieses einstige Christentum sich so zur Welt, dass es dezidiert nie in, sondern immer „ausser“ und über ihr war.
3.1 Die Historisierung des Christentums oder: Von „idealem“ und „realem“ Christentum
Was ist unter „einst“ zu verstehen, welchen Geschichtsbegriff unterlegt Overbeck dieser Zuordnung des Christentums zur Welt?
Geschichte ist für Overbeck grundlegend Betrachtung der Vergangenheit,34 dargestellte Entwicklung,35 die in der Tradition geborgen ist und aus ihr geborgen wird.36 Um nun das, was Overbeck unter Christentum versteht, genauer zu bestimmen, sei eine Trennung innerhalb des Overbeck’schen Geschichtsbegriffes skizziert, die für den Verlauf der weiteren Arbeit von wesentlicher Wichtigkeit sein wird: Christentum kommt Overbeck als ‚historisches‘ einerseits und als ‚Urchristentum‘ andererseits in den Blick; er differenziert zwischen ‚Geschichte‘ und ‚Urgeschichte‘37, zwischen dem Ur- als Ideal- und dem Realzustand des Christentums. Es ist dies wohl die größte Leistung, die Overbeck vollbrachte, wie es etwa auch Walter Nigg sieht: „Er fand wieder die dem Christentum eigentümlichen Kategorien und lehrte dadurch auch die nachfolgenden Geschlechter wieder etwas von dem realen Sein des Christentums verstehen.“38 Dabei ist allerdings auffällig, wie sehr sich Overbeck auf die rein historische Genese des Christentums konzentriert; im Christentum waren ihm „nicht seine Dogmen und Mythen das Wesentliche […], sondern eine Stellung zur Welt […]. Overbeck hat es stets mit dem Christentum als historischer Erscheinung zu tun“.39
Zunächst abstrahiert Overbeck ausgehend von der Beobachtung, dass das Christentum als „Ding“ resp. „Organismus“40 ein „histori[sches] Leben, d.h. eine histor[ische] Wirksamk[ei]t“41 hat, dass es wie jede andere historische Erscheinung neben und vor dieser historischen eine „praehistori[sche] Zeit“ hat. Diese prähistorische Zeit ist die Zeit der Entstehung des Christentums,42 aus der heraus es sich erst verwirklicht und selbst noch nicht als eigenständige historische Größe zu verstehen ist. Das bedeutet zugleich, dass ‚Urchristentum‘ nicht „ein beliebiges Stück des [Chri]s[ten]th[u]ms der Vergangenh[ei]t“43, sondern in der Überzeitlichkeit selbst jeder Vergangenheit enthoben, ihr vorgeordnet, in kategorialer wie in qualitativer Hinsicht „mehr als vergangene[s] [Chri]s[ten]th[u]m“44 ist. Es hat seinen Platz in der Urgeschichte, jenem Bereich hinter der Geschichte, welche - mit Leopold von Ranke - erst dort beginnt, „wo die Monumente verständlich werden und glaubwürdige schriftliche Aufzeichnungen vorliegen“45. Das bedeutet für das Urchristentum formell, dass seine Denkmale nie ganz verständlich sind, seine Überlieferungen stets hinter einem besonders undurchsichtigen Schleier sich vor späterer Betrachtung verbergen.46 Eine Unterscheidung innerhalb der eigenen Quellen etwa zwischen Ort und Zeit, Ursache und Ziel der Abfassung - liegt der ‚Ur-Zeit‘ des Christentums fern: In dieser sind die Monumente und Aufzeichnungen des Christentums gekennzeichnet durch eine „unmittelbare[ ] Einh[ei]t ihrer Entsteh[un]g und ihrer Wirksamk[ei]t“47.
Deren Auflösung geschieht im Moment der Vergeschichtlichung des Christentums als dem Interesse an der Trennung dieser „unmittelbaren Einheit“. Materiell ist das Urchristentum nämlich nach Overbeck zunächst zu bestimmen über sein noch nicht differenzierendes Verhältnis zur Welt: „Im Urchristenthum hat das [Chri]s[ten]th[u]m die anzufangen sei“. Dies mag auf Schopenhauer, mit dem Pfeiffer Overbeck hier parallelisiert, zutreffen; für Overbeck selbst bleibt Pfeiffer den Nachweis allerdings schuldig.
Welt […] ganz in sich, aber unter der Vorauss[e]tz[un]g, dass die Gesch[ichte] und mit ihr zugl[eich] es (das [Chri]s[ten]th[u]m) selbst mit dieser Welt fertig ist“48 ; es befindet sich in einem Stadium, in dem es anders als in späteren, historischen Zeiten eben nicht „ein jederzeit lösliches Verhältniss“49 zur Welt und ihren Erscheinungsformen hat, sondern: ein ‚unlösliches‘.50
Die wesentliche A-historizität des Christentums bedeutet zwangsläufig, dass sich dieses nicht historisch fassen lässt.51 Die Folge historischer Betrachtung und der Charakterisierung des Christentums als eigenständige historische Größe ist nach Overbeck zudem aber in einer weiteren Hinsicht sogar fatal: Konzediert man, dass das Christentum historisch greifbar wurde, so denkt man damit notwendig seine Weltlichkeit mit - und als weltlich-historisches existiert es mit einem historischen Anfang, der ein historisches Ende impliziert: Das Christentum, das als historisches begriffen wird, ist „rett[un]gslos dem Begriff der Endlichkeit oder auch der Decadence verfallen“.52
Mittels einer biologistisch anmutenden Diktion53 vermittelt Overbeck die Begriffe des historischen Seins und Werdens in den Analogien von Geburt, Leben und Tod54 - und gerade die Tatsache, dass das ‚wirkliche‘ Christentum seit über fast zwei Jahrtausenden eine wahrnehmbare historische Größe ist, qualifiziert es in absoluter55 Hinsicht als in seinem Sterbeprozess befindlich, seinem Tod entgegengehend: „Denn im Leben gibt es kein Alter, das nicht Vorabend des Todes wäre“56. Im Grunde vollzieht Overbeck hier eine gewaltige Transformationsleistung: Sobald das Chrisentum aufhört, als ‚ursprüngliches‘ betrachtet zu werden, sobald es mithilfe historischer Begriffsinstrumentarien erfasst wird, wird es zum ‚historischen Christentum‘ und dem Regelwerk der Zeit unterworfen: Es wird endlich, „[d]enn es ist klar, dass die Aeternität des [Chri]s[ten]th[u]ms sich auch nur sub specie aeterni vertreten lässt, d. h. von einem Zeitp[un]kt der von Zeit und dem unter sie fallenden Gegensatz von Jugend und Alter nichts weiss“57.
Dies ist freilich das, was Overbeck durchgehend tut: Er betrachtet das Christentum historisch, und dadurch wird es ihm ein un wirkliches. Und dies ist es schließlich, worauf der Theologe Overbeck seinen Unglauben gründet: „Er hat seine eigene Distanz zum christlichen Glauben im Medium der Geschichte zu reflektieren versucht. Der eigene Unglaube kann ihm als logische Konsequenz der Tatsache erscheinen, daß geschichtliches Christentum per historiam - ehrlicher: per definitionem - nicht möglich ist“58. M.a.W.: Die Vergeschichtlichung des Christentums ist seine Mortalisierung (wenn nicht gar seine Mortifizierung).
Das Christentum wird in formeller Hinsicht in dem Moment, in dem es historisch betrachtet wird, periodisiert. Dadurch aber kann es nur unter dem Gesichtspunkt seines Verfalls und Vergehens betrachtet werden, wobei seine Vitalität stets abnehmend verstanden werden muss.59 So gilt für Overbeck gar: „‚[h]istorisch‘ [d.h. unter historischer Betrachtung; FH] kann das [Chri]s[ten]th[u]m nur zu Grabe getragen werden“60. Zwar erkennt Overbeck in dem auch bei seinen Zeitgenossen konstatierten Versuch, dass Christentum als historisches zu fassen, den Wunsch, es zu Bedeutung, zu innerweltlicher(!) Ewigkeit kommen zu lassen, aber er unterstreicht das wesentlich Andersartige des Resultats dieses Versuchs, nämlich die dadurch aufgeworfene Frage,
„ob das [Chri]s[ten]th[u]m in der Menschengeschichte mehr ist und sein kann als ein Räthsel, ein in der Geschichte alles in Frage stellendes Problem von fundamental räthselhafter Natur“61. Und gerade das ‚Rätsel‘ und das ‚Problem‘ des Christentums wurzeln in seiner schillernden Zwiespältigkeit: Es ist eben zugleich ein historisches und ein a-historisches, das in seinem Ursprung nur eine Tendenz nach historischer Existenz hatte und so gleichsam auf der Schwelle zwischen Noch-Nicht-Sein und Sein stand.62 Es ist dieses Stehen auf der Scheidelinie zur Historizität, es ist die Janusköpfigkeit des Christentums, die es so rätselhaft-problematisch erscheinen lässt - und Overbeck sah deutlich, dass dieses Problem weder auf geschichtswissenschaftliche noch auf Weise der Dogmatik zu lösen sei.63 Overbeck leiten in der davon ausgehenden Analyse des Christentums deswegen zwei geschichtsphilosophische Begriffe von Christentum: ‚historisches‘ und ‚prähistorisches‘ resp. ‚reales‘ und ‚ideelles‘ Christentum, was nichts anderes bedeutet als dass „[d]er Gegensatz zum historischen d. h. wirklichen [Chri]s[ten]th[u]m […] ein gedachtes“64 ist.
‚Historisches‘ Christentum, wie Overbeck es versteht, ist dadurch gekennzeichnet, dass es „die Welt in sich hat und ihr unterlegen ist“65. Symptomatisch gelten ihm dafür v.a. die Erfahrungen, die ihn die Kirchengeschichte lehrt: Es war dem ‚historischen‘ Christentum, das mit dem paulinisch begründeten Heidenchristentum einsetzt (nicht mit der „histor[ischen] Person“ Jesu!66 ), nicht möglich, eine andere Existenz zu führen als jede andere geschichtliche Erscheinung; es ist durch und durch weltlich, „[n]icht ein Greuel der Geschichte […] fehlt in den Erfahr[un]g[en] der K[irchen]G[eschichte]“67. Auch seine Moral opferte es auf dem Altar der Geschichte, denn diese war weltlichgeschichtlich immer insofern, als sie jeder geschichtlichen Veränderung treue Anpassung zollte: „Insbesondere hat es [scil. das historische Christentum] eine ganz verschied[ene] Moral gepredigt, je nachdem es weltl[ich] unterdrückt war oder herrschte“68. ‚Historisches‘ Christentum ist für Overbeck ganz präzise die „Welt-Kirche“, und als solche steht sie im schärfsten Gegensatz zu seinen Ursprüngen - „weil es [scil. das ursprüngliche Christentum] selbst gar keine Gesch[ichte] zu erleben erwartet hat“69. Vielmehr sträubte sich das Christentum dagegen, eine Geschichte zu haben oder geschichtlich zu werden und erlebte dies auch nur unfreiwillig, d.h. „gegen seinen eigenen ur anfängl[ich] ausgesprochenen Willen“70. Widerwillig inmitten der Welt sich wiederfindend, entwickelt sich das Christentum nun nach deren Modalitäten; einst angetreten, die Welt zu transformieren, assimiliert sich das ‚historisch‘ gewordene Christentum in die Welt und überwindet in seiner Ursprungsignoranz schließlich seinen Widerwillen.
Anzeichen für die Verweltlichung des Christentums entdeckt Overbeck aber nicht nur in der Kirchengeschichte und in der Relativierung und Trivialisierung von Moral, sondern auch in der Aufgabe ursprünglicher Glaubenspfeiler, allen voran des Glaubens an die (baldige!) Parusie Christi: „Wie es mit dem modernen [Chri]s[ten]th[u]m steht lehrt viell[eicht] nichts eindringlicher als das Leben, das die Vorstell[un]g der Wiederkehr [Christ]i darin führt“71 - nämlich ein Scheinleben, wo überhaupt noch eines, denn das ist die Konsequenz daraus, dass sich das Christentum nicht weniger in die Geschichte emanzipiert als ihr vielmehr sein zeitloses Selbst preisgegeben hat.72 Die Vorstellung der Parusie ist dem gegenwärtigen Christentum Overbeck zufolge so fremd geworden, dass es sie auch in der theologischen Beschäftigung mit seinem Ur-Stadium nicht mehr nachzuvollziehen vermag resp. als wesentlich betrachtet.73 Vielmehr konstatiert Overbeck sogar Bestrebungen, Christentum und Eschatologie gänzlich voneinander zu trennen und das Christentum entsprechend zu verweltlichen, indem „es ledigl[ich] der Glaube des Individuums an einen gnädi[gen] Gott“74 wird - denn dieser Glaube ist historisch möglich, weil er sich in die Immanenz der Geschichte einrichtet.
Auch in diesem Sinne ist das ‚historische‘ Christentum weltklug geworden - in der Welt klüger, als es nach Overbeck im Sinne von Mt 18,3 hat ursprünglich sein wollen: „‚Werdet wie die Kinder‘ - ganz gewiss ein Grundgesetz des Evangeliums, aber freilich auch einer der härtesten Steine des Anstosses für alle Weltmöglichkeit desselben“75. In der engen Verbindung, die Overbeck von diesem Satz Jesu zu dessen Überzeugung vom nahenden Weltende zieht, wird die weltliche Aporie des ‚ursprünglichen‘ Christentums für Overbeck am deutlichsten zu fassen: Die Forderung nach dem Kinderglauben in der zum Untergang sich neigenden Welt und die Ankündigung der Parusie „hängen in der That aneinander und beweisen sich gegenseitig“76. Das bedeutet: Nur eschatologisch lässt sich ‚ursprüngliches‘ Christentum fassen, als ‚historisches‘ ist es gegen Mt 18,3 erwachsen geworden, weltlich. In seinem prähistorischen Stadium war dies dem Christentum bewusst. Historisch geworden negiert es diesen Grundsatz, das Welt-Kirche gewordene Christentum hebt das Evangelium mit seiner Forderung nach Kindersinn und diese wiederum jenes auf - Evangelium und Welt bilden ein widersprüchliches Begriffspaar.77
Die Grundaporie zwischen gegenwärtigem und ursprünglichem Christentum lässt sich nach Overbeck auf eine einfache Formel bringen: Dieses gab nichts auf die Welt und sah sie dem Untergang geweiht, jenes hingegen gibt auf diesen Glauben nichts mehr und wünscht sich nichts sehnlicher als eine ewiglich fortbestehende Welt,78 die sie dem Christentum weiht, denn in ihr hat es sich eingerichtet:79 „Der urchristliche Glaube an das Weltende ist die Scheidewand, die uns vom [Chri]s[ten]th[u]m gegenwärt[ig] überh[aupt] trennt“80. Zum Verständnis dieser These ist es wichtig, Overbecks ‚einseitige‘ Deutung des grundsätzlichen Ausdruckes dieses urchristlichen Glaubens in der Weltentsagung zu verstehen.81 Urchristentum im prähistorischen Sinne genau wie im Sinne des Glaubens Christi ist Overbeck zufolge durch und durch vom Trieb der Weltflucht bestimmt; sein Verhältnis zur Welt ist prinzipiell negativer und abweisender Natur. Es kehrt sich ab von Kultur und Politik, und selbst das individuelle Weltende (als Ende der individuell gelebten Welt) seiner Anhänger verdichtet sich um den Grundsatz des „memento mori“: Der Christ sagt dem Leben zu Lebzeiten ‚lebewohl‘.82 Dies, so erkennt Overbeck, tut das Christentum teilweise selbst auch noch in seinem vergeschichtlichten Stadium, um die Enttäuschung zu überwinden, dass „[i]n Wahrheit […] weder das Alte vergangen, noch das Neue eingetroffen“83 ist, indem es sich in der Welt aus dieser in die Askese - „in der That eine Metamorphose des urchristlichen Glaubens an die Wiederkehr Christi“84 zurückzieht, denn nur in dieser idealen Form konnte der Glaube überhaupt noch bestehen, nachdem er die Hoffnung auf die baldige Wiederkehr Christi aufgegeben hatte.
3.2 Die Modernisierung des Christentums oder: Von kultureller Attraktion und Aversion
Ist nun aber das wesentliche Kennzeichen der A-historizität des Christentums gerade nicht seine Diesseitigkeit und Weltbezogenheit, sondern sein Bruch mit der Welt, der es außer und über ihr, jenseits ihrer zu stehen kommen lässt, dann ist für die weitere Betrachtung Folgendes ausschlaggebend: Overbeck setzt ‚Welt‘ und ‚Christentum‘ in ein streng antagonistisches (fast ist man versucht zu sagen: dualistisches) Verhältnis. Das Christentum will sich in der Welt nicht behaupten, weil es mit ihr „entschieden gebrochen“ und an einen „Bestand in der Welt selbst gar nicht gedacht“85 hat. Doch im Vergessen dieses seines Urverhaltens haftet dem Christentum etwas Tragisches an: sein Vorhaben der Welteroberung seit dem Moment seines Erwachsens in die Geschichte. Dieses Verhalten zur Welt ist tragisch insofern, als es damit einen Kampf aufnimmt, den es nur unter Gesichtsverlust zu führen vermochte - und auch diesen in der Konsequenz, wie noch zu sehen sein wird, verlor:
[...]
1 Verfremdetes Zitat aus Walser, Über Rechtfertigung, 58.
2 Anstatt Franz Overbecks ist Friedrich Nietzsche, anstatt „Christentum und Kultur“ „Zarathustra“ einzusetzen.
3 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 485.
4 Vgl. unten, Anm. 281.
5 „Theologie als unmögliche Möglichkeit“ ist der Titel eines schon 1960 erschienen Aufsatzes von Eberhard Jüngel (siehe Literaturverzeichnis), dessen Lektüre grundlegend für den hier unternommenen Versuch einer Synthese von Barth und Overbeck war und ist.
6 Körtner, Martin Walser.
7 Vgl. zum Folgenden OWN 5, 495-502; bes. 500: „Für Theologie fehlt mir Interesse u. Neigung von Natur und nur ein Missverständniss hat mich zum Theologen gemacht“. Vgl. dazu auch OWN 4, 220-223.
8 Eine Darstellung biografischer wie vor allem theologie-genetischer Aspekte im Porträt Franz Overbecks kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Im Rahmen dieser Arbeit wird dafür im Folgenden aus inhaltlichen wie Raumgründen auf einige verstreute Notizen aus Overbecks nachgelassenem Werk zurückgegriffen werden. Die Skizze des theologischen Weges Franz Overbecks von einem ‚liberalen‘ Theologen, der sich im Geiste als Schüler Ferdinand Christian Baurs sah, bis er schließlich seine „antitheologische“ Wende in Basel über die Freundschaft mit Nietzsche und die Abfassung seiner „Streitund Friedensschrift“ „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“ vollzog, sei hier nur angedeutet und zur näheren Beschäftigung damit auf die detailreiche Würdigung Niklaus Peters verwiesen, die den Großteil seiner Studie „Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur ‚Christlichkeit unserer heutigen Theologie‘“, ausmachen; siehe dort 42-118(.119-189). In psychologischer Hinsicht ist darüber hinaus aufschlussreich: Hermann-Peter Eberlein, Theologie als Scheitern. Franz Overbecks Geschichte mit der Geschichte, Essen 1989.
9 Vgl. dazu nur Rudolf Wehrli, Alter und Tod (Wehrli bietet im ersten Teil überhaupt [wenn auch leider kaum mehr als] eine vorzügliche und sorgsam angeordnete Materialsammlung, worauf eine stark psychologisierende Interpretation folgt), 136: Den Ruf nach Giessen als Professor wies er 1867 ab, weil er dafür Universitätsprediger hätte werden müssen und ihm Verkündigung und Lehre zwei unversöhnbare Gegensätze waren. Hier zeigt sich schon früh die Grundthese Overbecks, dass Glauben und Wissen nicht zusammengehen können.
10 Vgl. dazu auch Walter Nigg, Versuch einer Würdigung, 89.
11 OWN 5, 500.
12 Vgl. auch Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 473: „Indem er der Theologie das Recht absprach, das Christentum zu vertreten, verzichtete er zugleich auch für sich selber darauf.“
13 Vgl. OWN 4, 221: „Ein Xsthm habe ich ursprgli. ebenso wenig [scil. wie eine Theologie] besessen, nämli. nur das Durchschnittschristentum der heutigen Menschen, das ich aber als Christenthum zur Zeit (1902) nicht mehr anerkenne.“ Dies ist nicht weniger als als hermeneutischer Leitfaden dieser gesamten Arbeit zu sehen: Die Nichtanerkenntnis des Christentums als eine von Grund auf theologische und leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung mit der Vorfindlichkeit des Christentums.
14 Nigg, Versuch einer Würdigung, 90.
15 Vgl. OWN 4, VIIff.: Das „Kirchenlexicon“ ist „eine Sammlung von mehr als 20.000 grossenteils beidseitig beschriebenen Blättern“, die den „quantitativ und qualitativ wichtigsten eigenständigen Teil des wissenschaftlichen Nachlasses“ Franz Overbecks nach seinem Tod 1905 bildet; es ist Arbeits- und Rohmaterial und als solches privater Natur. Dass hier primär darauf zurückgegriffen wird, gründet auch in
16 OWN 1, 155-318. Beide Schriften unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grundtendenz, das Christentum und seine Theologie zu problematisieren, so wenig, dass ein Primärbezug auf das „Kirchenlexicon“ aus zwei Gründen geraten erscheint: Zum einen ist die „Christlichkeit“, wie nicht zuletzt anhand der zitierten Studie von Niklaus Peter ersichtlich wird, noch sehr stark geprägt vom Austausch und Einfluss Friedrich Nietzsches und verdeckt dadurch den eigenständigen Denker Franz Overbeck zu einem nicht geringen Teil. Zum anderen formuliert Overbeck hier deutlicher und schärfer als dort, was die Fassung seiner Intention präziser gelingen lässt (Niklaus Peter interpretiert diese Schärfe über, wenn er Overbecks Privatnotizen zu sehr von seinem „Hass“ und „persönliche[n] Fehden“ bestimmt sieht; seine Frage, „ob die wirkliche Front nicht an anderen Linien verlief, an der es nicht persönliche Kleinkriege, sondern theologische Substanz zu verteidigen gegolten hätte“ [Im Schatten der Modernität, 246], lässt sich vielmehr anhand von Overbecks Nachlass unter bewusster Nichtberücksichtigung der intratheologischen Streitigkeiten besser beantworten, als Peters überspitzte Kritik dies vermuten lässt. Schon Walter Nigg sah dies deutlicher: vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 251 sowie 274f.).
17 Karl Löwith fasst diesen Begriff, den Overbeck wohl unbewusst von Bruno Bauer übernahm, präzise auf die Formel: „Widerspruch zwischen den beiden Voraussetzungen, […] Bibel und Zeitbildung“; ders., Von Hegel zu Nietzsche, 475.
18 OWN 5, 10.
19 „Moderne Theologie“ meint bei Overbeck häufig, aber nicht immer „liberale“ Theologie. Da er darunter auch „apologetische“ Theologie verstehen kann und ihm grundsätzlich der Zeitbezug wichtig ist, wird im Verlauf der Arbeit ausschließlich von „modern“ die Rede sein. Vgl. auch unten Anmn. 112 und 113.
20 OWN 5, 13.
21 AaO., 10.
22 AaO., 13. Da Overbeck seinen implizit geschichtsphilosophischen Überlegungen (zu Overbeck als Skeptiker der Geschichtsphilosophie vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 93f.) selbst keine erkennbar systematische Begrifflichkeit unterlegt, schlage ich hinsichtlich der Unterscheidbarkeit der Begriffe „Welt“ und „Kultur“ vor, diese in gängiger Weise als die Form, d.h. den Ausdruck und wesentliches Merkmal, jener zu verstehen. So zumindest lässt sich besser nachvollziehen, wie Overbeck die „Cultur“ als „die moderne Hülle“ der Welt verstanden wissen will: Die Welt „hüllt“ sich in die Kultur; die Kultur ist Ausdruck, Hülle, Erscheinungsweise und d.h. Form der Welt. Auch hinsichtlich späterer Begriffsbestimmungen wird es sich anbieten, eine stringente Unterscheidung nach ‚Formal-‘ und ‚Materialprinzipien‘ zu versuchen. Damit sollen die formal-äußerlichen, abstrakten und die material-inhaltlichen, Aspekte der Begriffe schärfer gefasst werden.
23 Vgl. aaO., 10f.
24 AaO., 12.
25 OWN 5, 638.
26 Vgl. aaO. 637; vgl. auch OWN 4, 268: Eine Unterscheidung zwischen ‚äußerer‘ und ‚innerer‘ Welt (letztere i.S. idealistischer Philosophie) hält Overbeck gar für „Phantastereien“.
27 OWN 4, 266.
28 AaO., 199f.
29 AaO., 204.
30 Ebd.
31 „Eschatologie“ ist kein bevorzugter Begriff Overbecks; das „Kirchenlexicon“ verzeichnet keinen eigenständigen Eintrag unter diesem Wort, nur eine acht Zeilen umfassende Notiz „Christenthum (Eschatologie) Allgemeines.“ (aaO., 182). Es ist hier mithilfe dieses Begriffes angezeigt, die Perspekive des Christentums seiner wesentlichen, d.h. prähistorischen, und seiner wirklichen, historischen Erscheinung nach deutlicher zu fassen.
32 AaO., 205.
33 Ebd.
34 Vgl. aaO., 387f. und 374f.
35 Vgl. aaO., 374.
36 Vgl. aaO., 391.
37 ‚Urgeschichte‘ ist ein Begriff, der zwar nicht ausschließlich, aber maßgeblich auf Overbeck selbst zurückgeht; vgl. OWN 5, 610: „Ich selbst habe überh. den Begriff in die KGeschichtschreibg einzuführen erst versucht […]“.
38 Nigg, Versuch einer Würdigung, 171.
39 So Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik, 184. Bis hierher ist Pfeiffer durchaus zuzustimmen; den zweiten Halbsatz wird man allerdings nicht unbesehen übernehmen können: „[E]s ist Voraussetzung seiner Argumentation, daß mit dem Offenbarungsanspruch des Christentums für den Denkenden nichts
40 Jörg Weber, Finis Christianismi, beobachtet S. 27 sehr scharf, wenn er feststellt: „Overbeck benutzt diesen pluralen Singular ‚Organsimus‘ nicht zufällig. […] Organsimus bedeutet den Komplex von Wechselwirkungen einzelner, verschiedener Organe, ‚Werkzeuge‘. Der Organismus ist also das ganze Instrumentarium.“ Gerade darin wird er sich zum Selbstzweck und verfällt dem Naturgesetz von Werden und Vergehen. „Der Organismus, von dem Overbeck spricht, konstituiert sich aus der sich selbst abgrenzenden Tätigkeit, besser den Tätigkeiten der verschiedenen ‚Werkzeuge‘. Diese Tätigkeiten sind nicht aktive, natürliche, die über sich hinaus zu ihrem Zweck hinarbeiten. Sie sind determiniert defensive, sich im Rückzug erst erschaffende Tätigkeiten, die sich in ihrem Tun erschöpfen. Ihre Nichtigkeit ist die Voraussetzung für ihre Selbsterzeugungaus dem Nichts “; aaO., 28.
41 OWN 5, 619.
42 So gebraucht Overbeck auch die Begriffe ‚Urgeschichte‘ und ‚Entstehungsgeschichte‘ synonym und bewahrt damit die Urgeschichte vor der Klassifikation als ‚uralt‘, insofern er ‚Entstehung‘ generell als ‚zeitlos‘ charakterisiert und die Geschichte generell in die relativ-subjektive Zeitlosigkeit versetzt; vgl. aaO., 621; vgl. ebd.: „[A]lle Beziehung zur Zeit, die sie [scil. die Geschichte] hat, ist ihr erst durch das Subject ihres Betrachters verliehen“. Vgl. ausführlicher, aber in der gleichen Richtung ferner: aaO., 678ff.
43 AaO., 610.
44 Ebd.
45 Leopold von Ranke, Weltgeschichte, zitiert nach OWN 5, 616. Overbeck betont bei diesem Zitat nachdrücklich den Aspekt der intelligiblen Rezeption von Geschichte, das verständlich Werden der Monumente und die Glaubwürdigkeit schriftlicher Aufzeichnungen - „nicht einfach wo Monumente u. Aufzeichngen beginnen“.
46 Vgl. aaO., 617.
47 AaO., 620f.
48 AaO., 618.
49 Ebd. Der hier von Overbeck angeführte christliche Sozialismus dient als Beispiel und muss synekdochisch verstanden werden.
50 Dies stellt nun freilich innerhalb der Overbeck’schen Diktion einen scheinbaren Widerspruch dar zwischen ‚die Welt ausser sich haben‘ einerseits und sie ‚in sich haben‘ andererseits. Dieser Widerspruch kann aufgelöst werden, wenn man das ‚Ur-Verhältnis’ beider Größen als ein ungeteilt-symbiotisches versteht. Das Urchristentum unterscheidet, weil es noch keinen historischen Begriff von sich selbst, keine Vergangenheit und keine Entwicklung hat, so wenig zwischen sich und der Welt, dass es nicht nur Teil dieser, sondern dass v.a. diese Teil des Christentums ist. In eschatologisch-apokalyptischer Perspektive verschmelzen Christentum und Welt ineinander, weil die Zukunft schon antizipiert worden ist (Perfekt!) - Christentum und Welt sind miteinander ‚fertig‘, noch bevor sie miteinander beginnen.
51 Vgl. Nigg, Versuch einer Würdigung, 180: „Denn weder Christus für sich noch der Glaube, den er gefunden, hatte auf Erden historisches Dasein. Die Darstellung des Wesens des Christentums ‚rein historisch‘ ist deshalb ein Gallimathias.“
52 OWN 4, 198.
53 Zur „Bedingung der Möglichkeit einer Betrachtung des Christentums unter biologischen Kategorien“ siehe Wehrli, Alter und Tod, 184-190.
54 Synonym für seine Geschichtsbetrachtung stehen hier „Anfang, […]Blüthezeitalter, […]Ende“: OWN 4, 198.
55 Overbeck vermag auch eine relative Altersbestimmung des Christentums anhand der „altindi. Religion“ vorzunehmen, deren noch deutlich größeres Alter ihn bedenken lässt, dass „das Alter des Xsthms noch kein Argument geg. seine Fortdauer“ sein muss - allein dies nutzt er nicht zur Korrektur seiner These, sondern sieht für den Sterbeprozess nunmehr „die Decadenz des Xsthms, welche sich vor Allem in seiner gegenwärt. Theologie offenbart“, verantwortlich; aaO., 150f.
56 AaO., 198. Overbeck kann auch in handwerklicher Terminologie von der Auflösung des gegenwärtigen, des historischen Christentums sprechen: „Die Geschichte des Xsthms ist sein Gebrauch. Was gebraucht wird nutzt sich ab und so thut’s auch das Xsthm in dieser Welt“; aaO., 199; oder schlichter: es ist „ zu alt“; ebd. et passim.
57 OWN 4, 147.
58 Eberlein, Theologie als Scheitern, 213.
59 Vgl. OWN 5, 611.
60 OWN 4, 203.
61 AaO., 201.
62 Vgl. ebd.
63 Vgl. dazu Nigg, Versuch einer Würdigung, 103
64 Overbeck unterscheidet also zwischen ‚wirklichem‘, d.h. historischem, und ‚echtem‘, ‚reinem‘, ‚ursprünglichem‘, d.h. prähistorischem Christentum - dieses ist gewissermaßen die Idee von jenem, dessen ‚Gedachtes‘, welches einzuholen wissenschaftlich nicht mehr möglich ist.
65 OWN 4, 204.
66 AaO., 207.
67 AaO., 148.
68 AaO., 195.
69 AaO., 196.
70 AaO., 197. Hervorhebung FH.
71 AaO., 237.
72 Vgl. dazu auch Nigg, Versuch einer Würdigung, 180f.
73 Vgl. OWN 4, 243. Zum Vergleich seiner detailierten Kritik religionsgeschichtlicher Methoden zur Erforschung der Reden Jesu über die Parusie siehe auch OWN 5, 35-39.
74 OWN 4, 182.
75 OWN 5, 684.
76 AaO., 685.
77 Vgl. OWN 4, 217: „[D]as Evgelium [ist] weltunmöglich und schon jene Forderung [hebt] die Weltmöglichkeit des Evgel’s auf[…], oder die Kirche in der Welt aus den Angeln“. ‚Evangelium‘ ist hier für Overbeck einem weiteren Verständnis nach die Keimzelle, aus der das Christentum stammt, gewissermaßen das prähistorische Embryonalstadium des Christentums; vgl. dazu aaO., 184.
78 So auch Karl Löwith, der Overbecks schon 1873 formulierten Standpunkt so zusammenfasst: „[D]ieser Widerspruch der altchristlichen Eschatologie und der Zukunftsstimmung der Gegenwart ist ein fundamentaler […, d]enn nichts liegt unserer sich selbst vorantreibenden Gegenwart ferner als der Glaube an ein nahes Weltende“; ders., Von Hegel zu Nietzsche, 480.
79 Vgl. auch Hans Schindler, Barth und Overbeck, 9: „In der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Anbruchs jener hyperhistorischen Welt sieht Overbeck das eigentliche Wesen des Christentums. Dieses Christentum aber hat sich selbst ad absurdum geführt“.
80 OWN 4, 188; vgl. insgesamt aaO., 188f.
81 Niklaus Peter ist zwar zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass Overbeck „das ursprüngliche Wesen des Christentums einseitig von der Eschatologie, von der Ablehnung der […] Welt her“ (Im Schatten der Modernität, 240) fasst - es bleibt aber zu fragen, ob diese Bestimmung wertende Konseuqenzen nach sich ziehen sollte oder ob Overbeck in dieser Bestimmung nicht tatsächlich, wenn schon nicht das, so doch ein wesentliches Merkmal des ursprünglichen Christentums erfasst hat. Denn in der Tat kann Overbeck nur in dieser einseitigen Grundbestimmung des Christentums „von einer schon fixierten Position aus die ganze Fragestellung von Christentum und Moderne so behandel[n], dass sie aporetisch ausgehen muss, dass wirkliche Alternativen gar nicht bestehen“ (aaO., 241). Aber um den Aufweis von Alternativen war es Overbeck ja gerade nicht zu tun, wie auch Peter erkennt - insofern verwundert diese Kritik der Aporie unter und neben ihrem gleichzeitigem Lob doch auch.
82 Vgl. zum asketischen Charakter des Urchristentums insgesamt OWN 4, 163-169.
83 Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 481.
84 OWN 1, 216.
85 OWN 4, 265.
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