Das Dekameron oder die Macht der Poesie


Seminararbeit, 2011

32 Seiten, Note: 5.5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Rahmenerzählung
2.1 Historische Vorläufer und der Zweck von Rahmenerzählungen
2.2 Prätexte für die Rahmenerzählung des Dekamerons
2.3 Die Pest als Auslöser des gesamten Dekamerons
2.4 Die wichtigsten intertextuellen Bezüge des Rahmens
2.4.1 Der Titel
2.4.2 Der Erzähler
2.4.3 Consolatio Philosophiae vs. Dekameron
2.5 Die Gesellschaft der Rahmenerzählung im Dekameron
2.6 Die onesta brigata als Allegorie?

3. Die Novellen
3.1 Antike Poetik
3.1.1 Horaz` Ars poetica
3.1.2 Aristoteles` Poetik
3.2 Die neue Textgattung Novelle
3.3 Boccaccios Novellen
3.3.1 Die Falkennovelle
3.3.2 Funktion und Möglichkeiten einer Novelle?

4. Der Rahmen und die Novellen
4.1 Intertextueller Bezug von Rahmenerzählung und Novellen
4.2 Geschichtsschreibung versus Dekameron

5. Schlusswort

6. Bibliographie
6.1 Quellen
6.2 Forschungsliteratur

1. Einleitung

„Dieses Meisterwerk Boccaccios ist einem mit unerhörter Kunst geschliffenen Glas vergleichbar, das tausenderlei verschiedenste Strahlungen mit magischer Gewalt in einem Punkt zur Einheit bannt und dann wieder bunt in die Welt verstreut.“[1]

Das Dekameron von Giovanni Boccaccio ist ein Epochen schaffendes Werk mit unglaublich vielen Implikationen. Allein schon die Anzahl der Novellen, die darin erzählt werden, verweisen auf die Göttliche Komödie von Dante Alighieri, welche ebenfalls in hundert Gesängen das ganze Jenseits schildert. Dies ist allerdings bei weitem nicht der einzige intertextuelle Bezug, der das Dekameron herstellt. In der vorliegenden Arbeit mache ich es mir zur Aufgabe ein bisschen genauer auf diese Bezüge und gleichzeitig auf die innere Textstruktur selbst zu achten. Im Dekameron gibt es eine Fülle verschiedener Textebenen. Ich werde versuchen diese Ebenen freizulegen, um ihre Beziehungen zueinander etwas klarer zu zeigen und somit die übergeordnete Aussage des Textes erkennbar zu machen. Im Wesentlichen handelt es sich um Interpretationsarbeit, welche gerade bei einem so vielschichtigen Werk viele mögliche Türen öffnen kann. Es sei mir also verziehen, wenn ich meiner Hauptstudienrichtung (Philologie) entsprechend, eher für sprachliche Aspekte offene Augen habe und unter Berücksichtigung des Umfangs dieser Arbeit nicht allen Aspekten mit letztem Nachdruck folgen kann.

Die fundamentale Frage ist: Wie bezieht Boccaccio durch das Dekameron Position zur Geschichte? Dieses Wie soll allerdings methodologisch verstanden werden. Es geht mir darum, wie durch die spezifische Textstruktur, dem Verbund von einem Rahmen und hundert Novellen, eine Aussage über die damalige Zeit konstruiert wird. Daraus ergeben sich natürlich Folgefragen. Kann das Dekameron überhaupt als Geschichtsbuch gelesen werden? Was ist das Innovative daran? Wie ist die Rahmenerzählung zu lesen? Was können Novellen eigentlich darstellen?

Die Arbeit ist in drei zentrale Themen gegliedert. Zunächst werde ich mich eingehend mit dem Rahmen und seinen Implikationen beschäftigen. Danach werde ich mich mit antiker Poetiktheorie und ihrer Anwendung bei Boccaccio befassen. Das heisst ich möchte anhand einer Analyse einer Novelle erfassen, inwieweit Boccaccio von der Antike Erzählmuster übernommen oder ob er innovative Formen der Narration in seinen Novellen angewandt hat. Diese Analyse soll auch zeigen, was mit einer Novelle überhaupt ausgesagt werden kann oder soll. Zum Schluss führe ich diese beiden Elemente, die Rahmenerzählung und die Novellen, zusammen und möchte sehen, ob sie sich aufeinander beziehen.

2. Die Rahmenerzählung

2.1 Historische Vorläufer und der Zweck von Rahmenerzählungen

Der Akt des Geschichtenerzählens ist so alt wie die Sprache der Menschheit selbst. Diese fundamentale Form des Austauschs innerhalb einer Gruppe kann sicherlich als Nukleus menschlicher Kultur angesehen werden. Man ist in unserer Zeit der globalen Kommunikation und nachrichtenorientierten Vernetzung leicht versucht zu vergessen, dass für lange Zeit das Sich Erzählen von Geschichten die mündliche Form der Mitteilung von Inhalten und der Unterhaltung überhaupt war. In diesem Zusammenhang ist die Form einer Rahmenerzählung als schriftliches Pendant zur realen Erzählsituation in vivo entstanden.[2] Oftmals wird Indien als der Ursprungsort der Rahmenerzählungen genannt. Allerdings legte auch der alte Orient höchstes Gewicht auf die Kunst des Erzählens.[3] Nicht vergessen darf man Griechenland, welches über die Herrschaft Alexanders des Grossen schon sehr früh mit Asien und Indien in Berührung kam und mit der Odyssee Homers ebenfalls über ein Werk verfügt, welches zumindest im Ansatz eine Schachtelerzählung enthält. Letzten Endes wird man nie ganz genau bestimmen können, wo diese literarische Form zuerst auftauchte.[4]

Aber es lässt sich der Sinn und Zweck einer Rahmenerzählung festmachen. Ein Zweck ist die Möglichkeit des Zusammenfassens mehrerer Geschichten, was gleichzeitig eine Strukturierung des gesamten Textes mit sich bringt, da die Binnenerzählungen sich nun auf einen gemeinsamen Rahmen beziehen. Ein anderer Zweck ist der Verbund von didaktischen Geschichten mit der Intention diese Geschichten als Argumente für ethische oder moralische Maximen zu verwenden.[5] Es gibt bekannte didaktisch-motivierte Rahmenerzählungen, welche eine Thematik durch eine Serie von Erzählungen von möglichst allen Seiten her beleuchten sollen. Eine Art Bilderbuch für die Moral und Lebensweisheit also.[6] Diese Verbindung mehrerer Erzählungen durch eine Rahmenerzählung zu einem grossen Zyklus, welche man aus arabischen Beispielen kennt, trifft in gewissen Sinn auch auf die mittelalterliche Kirchenliteratur zu.[7] Diese (Kurz)Erzählungen ergeben erst im Rahmen der christlichen Lehre (Hypertext) ihren heilsgeschichtlichen Sinn beim Hörer.[8]

2.2 Prätexte für die Rahmenerzählung des Dekamerons

Mögliche Prätexte für die Rahmenerzählung von Boccaccio sieht Löhmann vor allem im Pančatantra und dem Buch der Sieben weisen Meister. Diese Texte könnten Boccaccio in einer Übersetzung vorgelegen haben. Das Pančatantra ist in seiner ältesten Abfassung in Sanskrit geschrieben und stammt aus dem indischen Raum.[9] Die Sieben weisen Meister ist ebenfalls indischen Ursprungs und drang über das Persische, Arabische, Hebräische, Syrische bis nach Europa.[10] Auch im antiken Europa kennt man Rahmenerzählungen. Doch im Unterschied zum Orient und dem indischen Raum spielt die Rahmenerzählung im Okzident eine ganz andere Rolle. In Europa wird dieses literarische Schema vorwiegend als Kunstmittel eingesetzt und nicht als ordnendes Prinzip einer Erzählung.[11] Die zyklische Form der Rahmenerzählung fehlt durchgehend.[12] Die Römer sowie das Mittelalter übernehmen die erzähltechnischen Kunstgriffe der Griechen, kreieren aber nichts Eigenständiges dazu.[13]

2.3 Die Pest als Auslöser des gesamten Dekamerons

Das Motiv der Pest wurde von Boccaccio eigenständig realisiert. Es gibt schon Pestbeschreibungen vor dem Dekameron von Thukydides und Lucrez, doch Boccaccios Schilderung wurde unabhängig davon ausgeführt.[14] Der angewandte Erzählstil über die Pest ist ausgesprochen realistisch und gleicht dem der damaligen Chronisten.[15]

Die Pest war 1348 harte Realität in Europa und keineswegs eine fiktionale Erfindung. Bei Boccaccio wird dieses Erlebnis im Text zur grundlegenden Motivation der Rahmenerzählung. Sie ist ein Bühnen bereitender Akteur, der die Erzählgemeinschaft (onesta brigata) dazu veranlasst in Form von Erzählungen über das Leben selbst nachzudenken. Sie bringt das Chaos auf eine Erde, auf welcher die weltlichen und göttlichen Regeln ausser Kraft getreten sind.[16] Der Mensch wird als triebgesteuerte Kreatur gezeigt.[17] Die Kulturperle Florenz geht innerhalb kürzester Zeit völlig im Sittenzerfall unter und wird zum Symbol für die Instabilität bisher geltender philosophischer und theologischer Richtwerte.[18] Es kommt zu einer „Nullstellung“ der Moral und einer ontologischen Krise der Theologie per se, weil der „Schwarze Tod“ völlig willkürlich Menschenleben verschlingt, ohne dabei Rücksicht auf gesellschaftliche Standesunterschiede zu nehmen.[19] Viele kulturelle Traditionen, besonders religiöse Sitten (z. B. Bestattungen), werden nicht mehr weitergeführt.[20] Damit ist die Pest die textinterne Motivation für das gesamte Dekameron überhaupt. Auf der hypertextuellen Ebene ermöglicht sie Boccaccio die Hinterfragung göttlicher Existenz. Vielfach wird das Dekameron die „irdische Komödie“ genannt und damit in direkten Bezug zu Dante Alighieris Göttlicher Komödie gesetzt.[21] Hier wird angedeutet warum. Bei Dante spielt sich das ganze Werk im Jenseits ab und bei Boccaccio auf der Erde. Durch die Pest werden das Jenseits und die permanente Gefahr des Todes aber schon auf der Erde präsent gemacht. Das irdische Leben an und für sich wird bei Boccaccio zum Gang durch das danteske Purgatorium!

2.4 Die wichtigsten intertextuellen Bezüge des Rahmens

Texte verweisen immer auf andere Texte und in diesem Netzwerk interpretiert der Leser, seinem Bildungsstand entsprechend, den vorliegenden Text. Beim Dekameron sind diese intertextuellen Verweise sehr ausgeprägt. Der Rahmen beim Dekameron besteht aus mehreren Textebenen. Eine erste Ebene ist der Titel. Die zweite Ebene bildet der Erzähler und auf der letzten Ebene treffen wir die Gemeinschaft der sieben Frauen und drei Männer an.

2.4.1 Der Titel

Betrachtet man den Untertitel etwas genauer so eröffnen sich interessante Referenzen zu Prätexten, welche zu Boccaccios Zeit sehr bekannt waren. „Comincia il libro chiamato Decameron cognominato prencipe Galeotto [...]“, so liest sich der Beginn des Untertitels. Der Name Decameron selbst ist eine Zusammensetzung aus dem griechischen deka für zehn und hemera für Tag, dies ist ein starker Verweis auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Gott hat im Hexaemeron (Sechstagewerk) die Welt erschaffen, möchte Boccaccio das Gleiche in zehn erreichen? Söffner sieht vor allem in den Werken von Ambrosius von Mailand (Hexaemeron) aus dem 4.Jh n. Chr. und dem fast zeitgenössischen Collationes in Hexaemeron (1273) von Bonaventura wichtige Referenzwerke für Boccaccio.[22] Flasch behauptet, dass Boccaccio intentional sein Buch „Zehntagewerk“ genannt habe und versteht es als „Poesia dopo la peste“.[23] Es soll ein Gegenentwurf zur göttlichen Offenbarung durch die Bibel darstellen.

Der zweite Teil des Untertitels „[...] cognominato prencipe Galeotto [...]“, verweist seinerseits auf die säkularisierte höfische Literaturtradition. Galeotto ist die italienische Form für Galehaut, einem Ritter aus der Tafelrunde und damit Stellvertreter höfischer Literatur. Es ist aber nicht eine zufällig gewählte Figur, denn Galehaut ist hauptsächlich als Kuppler zwischen Lancelot und der Königin Guinevere bekannt.[24] Des Weiteren evoziert Galeotto beim Leser die bekannteste Liebestragödie aus der divina commedia zwischen Francesca da Rimini und Paolo Malatesta. Diese beiden wurden von Francescas Ehemann in flagranti erwischt und erschlagen. Im Inferno trifft Dante auf Francesca und fragt sie, warum es zum Seitensprung kam, worauf sie antwortet, dass sie sich während der Lektüre von Galeotto näherkamen.[25]

Wir halten fest, dass bereits im Untertitel eine Gegenüberstellung von Referenztexten aus verschiedenen Gattungen stattfindet. Wir haben die theologisch-sakrale Literatur, die durch den Verweis auf das Sechstagewerk einbezogen wird und die höfisch-profane Unterhaltungsliteratur, welche durch die Figur des Galehaut angedeutet wird. Zu Beginn des Werkes geschieht eine Vermischung von Textgattungen, welche die Interpretation des Werkes eher erschwert, als dass sie dem Leser dienlich ist. Doch genau diese „Unlesbarkeit der Welt“ wird vom Autor bewusst erschaffen.[26]

2.4.2 Der Erzähler

Eine Textebene tiefer wird man erneut fündig. Im Erzähler, der vor allem im Proömium, in der Einleitung zum vierten Tag und im commentare dell`autore zu Wort kommt, erkenne ich diese zweite Ebene. Dieser Erzähler erklärt in seiner Vorrede den Sinn und Zweck der hundert Novellen.[27] Sie sollen nämlich den Frauen Trost (compassione) spenden und als Ratgeber in Liebesfragen dienen. Er wendet sich, der Tradition der Minnedichtung folgend, an die Frauen.[28] Söffner zieht nun eine Parallele zwischen der Trostbuchliteratur und dem Trost spendenden Dekameron.[29] Allem voran sieht er eine Analogie zum damals wohl bekanntesten Trostbuch der Consolatio Philosophiae (524) von Boethius. Allerdings interpretiert er das Dekameron als parodistische Verkehrung davon.

Die Consolatio Philosophiae ist einer der ersten frühchristlichen Texte, der sich mit der Philosophie und der Theologie gleichermassen auseinandersetzt. Boethius stützte sich vor allem auf antike Denker wie Aristoteles und Platon. Der Text wurde später sehr stark von den Scholastikern wie Thomas von Aquin und Anselm von Canterbury rezipiert. Darin werden wichtige metaphysische Fragestellungen wie die Theodizee, die Definition von Glück oder der freie Wille des Menschen verhandelt. Dies geschieht in Form eines Dialogs zwischen Boethius und der personifizierten Philosophia. Die Bezugnahme des Dekamerons auf Boethius stützt Söffner auf die thematisch wie strukturelle Ähnlichkeit der beiden Texte. Boethius sowie Boccaccio nehmen eine Vertreibung der Musen vor. Eine weitere Parallele bildet der Erzähler selbst. In beiden Werken treffen wir einen heterodiegetischen Erzähler an, gepaart mit einer internen Fokalisierung. Das heisst der Erzähler spricht nicht aus einer höheren Instanz und ist weder allwissend noch weiss er entscheidend mehr als der Leser. Er möchte lediglich seine Erfahrungen mitteilen und dadurch Trost spenden.

2.4.3 Consolatio Philosophiae vs. Decameron

In Boethius Consolatio wird die ratio (Vernunft) als das entscheidende Element bestimmt, welches das Wesen des Menschen von demjenigen der Tiere unterscheidet. Er ist ein animal rationale.[30] Doch wenn nun durch aussergewöhnliche Umstände (Pest) auf einmal der Mensch als ein animal Amor-ale erkennbar wird, der durch die Sinneslust gesteuert wird, dann ist die Konsequenz daraus, dass er seinen freien Willen und die Freiheit der Vernunft verliert. So wird ihm Amor, der die drei erotischen Appetite Zorn (ira), Begierde (cupiditas) und die sinnliche Vernunft (ratio) beherrscht, beim Versuch durch seine vermeintlich gottgegebene ratio zuverlässige Erkenntnisse über die Welt zu generieren, im Weg stehen.[31] Nun müssen wir kurz die diversen Liebesbegriffe jener Zeit präziser betrachten. Das bedeutet, dass wir die beiden Termini cupiditas und caritas einander gegenüberstellen. Boccaccio parodiert den Schreibtopos der caritas, bei dem sich ein Verfasser in sublimierter, göttlicher Liebe auf einen Gegenstand bezieht. Als sein Erzähler in der Introduzione des vierten Tages seine Liebeswerbungen gegen seine Kritiker verteidigt, so ist dies als Parodie davon zu lesen.[32] Boccaccio karikiert damit nicht nur die Frauen idealisierende höfische Literatur, sondern gleich noch die kirchlichen Gelehrten, welche scheinbar ohne menschliche Triebe geboren wurden, mit dazu. Ihm geht es eben gerade um die sinnliche, weltliche Liebe (cupiditas), welche auf der Welt als Verursacherin hinter vielen Entscheidungen steckt.[33] Die caritas sowie der gesamte Rest des kirchlichen Tugendkatalogs muss aufgrund der Negierung der freien menschlichen ratio sowieso hinterfragt werden, weil damit der ganzen Theologie/ Philosophie der Boden unter Füssen weggezogen wurde. Der Erzähler des Dekamerons kann sich nicht mehr auf die Philosophie als Erkenntnis stiftender Garant stützen, da die göttliche ratio des Menschen durch seine cupiditas untergraben ist. Damit rückt Amor als Beherrscher der drei Appetite, aufgrund der Ohnmacht Gottes für diesen weltlichen Zustand, zumindest strukturell an seine Position.[34] Denn aus menschlicher Sicht spielt es keine Rolle mehr, ob Gott Amor erschaffen hat und durch ihn wirkt, wenn der Schöpfungsakt extrem weit zurückliegt. Des Weiteren verfügt der Mensch ohne freien Willen und ohne göttliche Vernunft gar nicht über die Mittel diese Wahrheitsebene zu erreichen.[35]

Die klare Stellungnahme Boccaccios für die cupiditas zeigt uns sehr schön die einzige Novelle, welche ausserhalb der onesta brigata vom Erzähler selbst geschildert wird. Die Geschichte über Filippo Balducci und dessen Sohn ist die Einzige, die einen eindeutigen Lehrsatz hergibt.[36] Der Mensch wird ganz eindeutig von der Natur mit all ihren Trieben gesteuert. Die Implikation daraus ist verheerend. Der Mensch ohne ratio kann infolgedessen gar nicht durch universelles Wissen belehrt werden.[37] Diese Annäherung an Boccaccios Werk eröffnet uns völlig neue Ansätze beim Lesen der Novellen. Sind diese nun als Trost, Werbung oder sogar als Belehrung zu lesen? Knüpfen wir nun wieder etwas weiter oben an, dann schliesst sich ein Kreis. Boccaccio parodiert die Minnedichtung, welche sich in „karitatischer“ Liebestopik an völlig idealisierte Frauen wendet. Im Untertitel fanden wir den Namen Galeotto, einen Kuppler der Tafelrunde. Das Dekameron, welches scheinbar um die Gunst der Frauen buhlt, ist in Tat und Wahrheit ein Werbungsversuch und Kupplermittel selbst (denn es heisst ja selbst prencipe Galeotto !), dass alle (verständigen) Menschen mit dem irdischen, diesseitigen Leben verkuppeln soll! Wichtig zum Verständnis der ganzen Zusammenhänge und Implikationen des Dekamerons ist, dass zu seiner Entstehungszeit (etwa 1350) das weltliche Leben und allem voran der Genuss weltlicher Dinge als sicherer Weg in die Hölle galt.[38] Diese Hölle war allen Menschen nur allzu bekannt, da Dantes Komödie noch keine 50 Jahre alt war. Wehle bezeichnet deshalb das Dekameron als „ein Buch über die Kunst des Lebens“.[39] Es war zusammen mit Dantes commedia ein Sieg der Poesie über die Philosophie und Theologie, denn Dante und Vergil, zwei Poeten also, wurden in der commedia die ersten „Zeugen“ der Letzten Dinge und kein Philosoph! Zum Schluss kommt noch das Piece de Résistance. Indem Boccaccio die Minnedichtung parodiert und sein Werk scheinbar an die Frauenwelt richtet, legitimiert er seinen italienischen (Prosa)Text als hohe Dichtkunst. Er setzt mit dieser Ausrichtung des Textes für die Frauen und der Bescheidenheitsrhetorik seine Prosa der lyrischen, klassischen Poetik gleich. Seine Novellen über das alltägliche Leben, welche eben gerade nicht über Könige und Fürsten berichten, sagen mehr über den Menschen und das Leben aus als die moralisierenden Exempla aus der Kirchenliteratur. Da dem Menschen die ratio abhanden gekommen ist und er keiner göttlichen Erkenntnis fähig ist, helfen ihm moralisierende Exempla nicht mehr weiter. Er lebt vielmehr im Raume Amors und muss bei jeder Lebenssituation wieder einzeln eruieren, was moralisch richtig und gut ist.[40]

2.5 Die Gesellschaft der Rahmenerzählung im Dekameron

Es gibt eine alte lyrische Textgattung aus dem provenzalischen Raum genannt Joc partit (jeu parti). Dies war ein Wettstreit zwischen zwei Troubadouren, welche über eine Fragestellung (meistens aus dem Gebiet der Minne) in einem offenen Wortgefecht verschiedene Standpunkte vertraten.[41] Der Brauch stammte aus Frankreich und sickerte wahrscheinlich über das Geschlecht der Anjou nach Italien.[42] Beim Joc partit im ursprünglichen Sinne benötigt man drei Parteien. Jemand der die problematische Fragestellung aufwirft und einen Standpunkt vertritt. Dann jemanden, der ein Gegenargument dazu vorträgt und einen Schiedsrichter, welcher sich zugunsten einer Lösung ausspricht.[43] Solche Streitgespräche wurden um das 12 Jh. oft in höfischen Gesellschaften vorgetragen und erfreuten sich äusserster Beliebtheit. Vielfach wurde eine fürstliche Dame als Schiedsrichterin erkoren und durfte zum Schluss entscheiden welche Argumente zu einem Thema stichhaltiger vorgetragen wurden. Diese gesellschaftlichen Zusammenkünfte nannte man corts d`amor, weil meistens Liebesfragen diskutiert wurden.[44] Löhmann geht davon aus, dass Boccaccio diese Form der gesellschaftlichen Zusammenkunft aus seiner Zeit am Hof in Neapel kannte, und sieht dort die reale Vorlage für die onesta brigata.[45] Er möchte damit zeigen, dass es durchaus dem höfischen Habitus entsprach, sich in einer Gruppe zu treffen und über Fragen der Liebe zu debattieren.[46] Bei der Übertragung dieser Gesellschaft in ein Buch hat Boccaccio bewusst auf die Schiedsrichterinstanz verzichtet, weil diese vom Leser übernommen werden soll. Die onesta brigata wählt für jeden Tag ein/e König/in und lässt diese/n das Thema des Tages bestimmen.[47] Trotzdem behält der/die König/in die Grundfunktion eines Schiedsrichters bei, weil er/sie am jeweiligen Tag als Wortführer/in wirkt. Danach hört der Leser zehn Lösungsvorschläge zum gestellten Thema. Es wird ihm nichts Vollendetes vorgesetzt.[48] Löhmann führt das Grundschema des Dekameron auf den Verbund einer Rahmenerzählung, welche im Gewand eines cort d`amor daherkommt, mit den Novellen, welche eine Art Modifikation des Joc-partit darstellen, zurück. Dies könnte eine Erklärung für die literarische Umsetzung der Erzählgemeinschaft des Dekamerons sein. Eine Übernahme zeitgenössisch-gesellschaftlicher Sitten.

[...]


[1] Löhmann S. 1

[2] Löhmann S. 2

[3] Man denke an die Erzählungen von Scheherezade oder die Abenteuer von Sindbad

[4] Löhmann S. 51

[5] Löhmann S. 3

[6] Löhmann S. 6

[7] Löhmann S. 7 Unter Kirchenliteratur verstehe ich Exempla, biblische Gleichnisse, Viten, Mirakelsammlungen und Legenden.

[8] Löhmann S. 7

[9] Löhmann S. 8 Pancatantra bedeutet übersetzt: Aus fünf Klugheitsfällen bestehendes Lehrbuch. Es ist ein Lehrbuch bestehend aus fünf Büchern, welches durch eine Rahmenerzählung erklärt, wie diese fünf Weisheitsbücher zusammengenommen und entstanden sind. Es war ursprünglich für die Unterweisung fürstlicher Kinder gedacht.

[10] Löhmann S. 18 Darin geht es im Rahmen um die Verzögerung einer Hinrichtung eines Königssohnes, welcher unter einem Schweigegelübde steht. Dies erzielen die sieben weisen Meister durch das Erzählen vieler Geschichten.

[11] Löhmann S. 46

[12] Löhmann S. 46 Bei Homers Odyssee macht die Rahmenerzählung nur einen Teil des Ganzen aus und es wird immer über den gleichen Helden (Odysseus) berichtet. Literarisch gesprochen haben wir es eher mit einer Analepse, welche die chronologische Linearität der Erzählung unterbricht und für mehr Spannung sorgt, zu tun.

[13] Löhmann S. 53 & 63

[14] Löhmann S. 78

[15] Löhmann S. 91 Boccaccios Pestschilderung wurde von Petrarca und Macchiavelli aufs Höchste gelobt.

[16] Boccaccio S. 514 Dioneo spricht: „[...] dass die göttlichen sowohl als auch die menschlichen Gesetze schweigen [...]“

[17] Boccaccio S. 21 Die Tiere scheinen vernünftiger zu handeln als die Menschen „Manche unter diesen (die Tiere) kehrten, ohne von Hirten angetrieben zu werden, als ob sie mit Vernunft begabt gewesen wären, am Abend gesättigt zu ihren Häusern zurück[...]“

[18] Boccaccio S. 13ff

[19] Söffner S. 102

[20] Boccaccio S. 19 „Als indessen die Heftigkeit der Seuche zunahm, hörten alle diese Bräuche ganz oder teilweise auf, [...]“

[21] Söffner S. 20

[22] Söffner S.25 Kritiker der Vorstellung, dass Boccaccio sein Werk bewusst durch seine Namengebung in Bezug zur Genesis und somit der Theologie gestellt habe, sagen, dass Decameron in diesem Kontext lediglich die Dauer der Erzählung (dieci giornate) meine.

[23] Söffner S. 24 vgl. dazu Flasch S. 18 „accanto alla creazione in sei giornate dei teologi, ora esiste infatti anche la creazione in dieci giornate ideata dalla poesia.“

[24] Söffner S. 54

[25] Dante, Inferno V 135-138 S. 48 „Questi, che mai da me non fia diviso, la bocca mi basciò tutto tremante. Galeotto fu `l libro e chi lo scrisse: quel giorno più non vi leggemmo avante “ (Da küsste Er, der ewig mir gehört, am ganzen Leibe zitternd mir den Mund.-Galeotto war das Buch und der es schrieb.)

[26] Söffner S. 60

[27] Boccaccio S. 9 „Geschichten, Fabeln, Parabeln oder wirkliche Begebenheiten, wie wir sie nennen wollen, mitzuteilen[...]“

[28] Flasch S. 23

[29] Söffner S. 65ff

[30] Söffner S. 76ff

[31] Söffner S. 77

[32] Boccaccio S. 307 „Diejenigen aber, die sich über mein Alter aufhalten, dürften nicht wissen, dass der Stengel des Lauches grün bleibt, wenn der Kopf auch weiss ist, und allen Scherz beiseite lassend, antworte ich ihnen, das ich es nie für eine Schande halten werde, mich bis zum Ende meines Lebens um diejenigen zu bewerben, denen zu gefallen Guido Cavalcanti und Dante Alighieri in reifen Jahren, Messer Cino von Pistoja aber in seinem späten Alter sich zur Ehre und Freude schätzten.“

[33] Söffner S. 79

[34] Söffner S. 89

[35] Söffner S. 89

[36] Boccaccio S. 304 Dieser Herr hatte nach dem Tode seiner Frau seinen Sohn in einem einsiedlerischen Dasein vor allen möglichen schlechten Einflüssen versucht zu bewahren. Als der Sohn 18 jährig wird und der Vater Besorgungen in der Stadt machen muss, insistiert der Junge ihn zu begleiten. Als sie nun durch Florenz gehen, da staunt dieser nicht schlecht ab all den Palästen, Kirchen und andern Schönheiten, die neu für ihn sind. Jedes Mal fragt er nach dem Namen eines bestimmten Dinges und ist danach zufrieden. Dann treffen sie auf ein Schar hübscher Mädchen und der Junge will unbedingt wissen, was das ist. Der Vater versichert dem Jungen, das dies üble Kreaturen seien. Trotzdem möchte der Junge wissen, wie man diese Geschöpfe nennt. Der Vater antwortet: „Das sind Gänschen.“ Darauf erwidert der Junge: „Vater, ich bitte Euch, verschafft mir so ein Gänschen“.

[37] Söffner S. 79

[38] Wehle In: Boccaccio S. 856

[39] Wehle In: Boccaccio S. 856

[40] Wehle In: Boccaccio S. 861

[41] Löhmann S. 94 & 95 Ursprünglich stammt der Brauch aus der Erzählung Lancelot Chrétiens de Troyes`, in der der Ritter Gauvain sich für einen von zwei gefährlichen Wegen entscheiden musste. Dieses Entscheidungsdilemma wurde in der Folge auf das abstrakte Denken und philosophische Fragestellungen übertragen.

[42] Löhmann S. 99

[43] Löhmann S.104

[44] Löhmann S. 98

[45] Löhmann S. 99

[46] Löhmann S. 98 Man erinnere sich an die vielfältige Liebesliteratur aus dieser Zeit z. B. Andreas Capellanus De amore.

[47] Löhmann S. 106 Der Brauch Königin oder König einer festlichen Veranstaltung zu bestimmen ist ebenfalls sehr französisch und geht auf die Idee das Königshaus nachzuahmen zurück.

[48] Löhmann S. 107 Löhmann sieht den Streit der Bediensteten in der Einleitung zum sechsten Tag als kleine Parodie der Joc-partit Sitte in einem cort d`amor.

Ende der Leseprobe aus 32 Seiten

Details

Titel
Das Dekameron oder die Macht der Poesie
Hochschule
Universität Basel  (Historisches Institut)
Veranstaltung
Geschichtsbild der Renaissance
Note
5.5
Autor
Jahr
2011
Seiten
32
Katalognummer
V233695
ISBN (eBook)
9783656502234
ISBN (Buch)
9783656503248
Dateigröße
704 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
dekameron, macht, poesie
Arbeit zitieren
Bachelor Sandro Tschuor (Autor:in), 2011, Das Dekameron oder die Macht der Poesie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/233695

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