“Was man weiß, sieht man erst.” (J. W. v. Goethe, Einleitung in die Propyläen)
Der geschärfte Blick, sensibilisiert für diese oder jene Seite einer Sache, für einen ganz bestimmten Aspekt, einen Blickwinkel in einem Problem, einem Text, lässt unvermutet Fragen erscheinen, aber auch Antworten finden. Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung zum Roman Lolita von Vladimir Nabokov bildet ein geschlechtertheoretischer Ansatz von Luce Irigaray , der den Versuch unternimmt, kulturell etablierte und legitimierte Rollenmuster und Hierarchien zwischen den ’Geschlechtern‘ und die aus ihnen begründeten Verhaltensmuster von ’Mann‘ und ’Frau‘ darzustellen, um sich von ihrer Festschreibung als gültige Dichotomie zu befreien. Irigaray untersucht die Wirkungsmacht kulturell vorgebildeter Rollenmuster, zu denen sich (biologisch) männliche bzw. weibliche Individuen verhalten müssen, an und gegen die sie sich identifizieren. Ich bediene mich ihres Blickwinkels in meiner Untersuchung eines literarischen Textes, da es mit seiner Hilfe möglich erscheint, die Wirkungsmacht und Funktion genau jener kulturellen Geschlechterkonzeptionen im Text zu verdeutlichen. Ich möchte in dieser Arbeit dokumentieren, wie der Roman kulturell verfestigte Geschlechterrollen zum einen nachvollzieht, sich aber gleichzeitig mit ihnen auseinandersetzt. Ich behaupte, in der Inszenierung dieser stereotypen Verhaltens- und Rollenmuster wird ihre Gültigkeit, jenseits jeder Moralisierung, zur Schau gestellt, und so auch der Regelkreislauf, dem diese Geschlechterrollen und die in ihnen definierten Individuen unterliegen, in seinem zerstörerischen Potential zu einem der treibenden Faktoren für die Handlungsentwicklung in Lolita.
Zunächst werde ich den theoretischen Ansatz nach Luce Irigaray darstellen. Es folgt eine textnahe Lesart (close reading) des Romans Lolita, bei dem ich zunächst die theoretisch ausgearbeiteten Strukturen im Text aufsuche, um dann die kritische Auseinandersetzung des Textes mit diesen Strukturen herauszuarbeiten. Schließlich werde ich eine – zugegeben gewagte – These zum außergewöhnlichen Skandalcharakter der Rezeptionsgeschichte dieses Romans aufstellen, die seine Wirkung aus einem geschlechtskulturellen Tabubruch heraus erklärt. Diese Arbeit versteht sich als ein Beitrag zu einem umfassenderen Verständnis sowohl des vorliegenden Romans als auch der ihm und der Kultur zugrundeliegenden Geschlechterstrukturen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Frauentausch' - Eine Theorie der Geschlechterrollen
- Zum spezifischen Charakter der FRAU in der Gesellschaft
- 'Frauenmarkt' - die Zirkulation von Frauen als gesellschaftliches Konstitutiv
- Inzestverbot
- FRAU als Ware: Wertform und Gebrauchsform
- Gesellschaftlich/kulturell legitimierte Rollentypen der FRAU
- Vladimir Nabokov: Lolita
- Lolitas 'Wert': Die Nymphe
- Humbert versus Quilty
- Lolita - zwischen MANN und Gesellschaft
- Die Jungfrau
- Die Prostituierte
- Die Mutter
- Auseinandersetzung mit den Mechanismen des Frauentausches im Roman
- Das Finale: (Selbst)Mord eines Sünders
- Die Schuldfrage
- Humbert, oder die Unmöglichkeit einer Utopie
- Schlußbemerkung(en)
- Eine gewagte These: Zur Skandalrezeption des Romans
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Seminararbeit untersucht den Roman "Lolita" von Vladimir Nabokov unter dem Aspekt von Geschlechterrollen und -strukturen. Ziel ist es, die Wirkungsmacht kultureller Geschlechterkonzeptionen im Text aufzudecken und die Art und Weise zu analysieren, wie der Roman diese Rollen sowohl nachvollzieht als auch hinterfragt. Die Arbeit verbindet literaturwissenschaftliche Analyse mit theoretischen Ansätzen der gender-Forschung, insbesondere der feministischen Philosophie Luce Irigarays.
- Die Konstruktion der Frau als Objekt im patriarchalen System
- Die Rolle von Frauen als Ware im gesellschaftlichen Tauschprozess
- Die Analyse von Lolitas Positionierung zwischen männlichen Figuren und gesellschaftlichen Normen
- Die Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen im Roman
- Die Verbindung von literarischer Analyse mit gender-theoretischen Ansätzen
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einführung in den theoretischen Ansatz von Luce Irigaray, der die gesellschaftlichen Konstruktionen von Geschlechterrollen und deren Auswirkungen auf die Wahrnehmung und Interaktion zwischen Mann und Frau beleuchtet. Im zweiten Kapitel werden die Hauptthemen der Arbeit anhand des Romans "Lolita" untersucht. Es wird die Rolle der weiblichen Figur Lolita im Kontext des "Frauentausches" zwischen den männlichen Protagonisten Humbert und Quilty betrachtet. Die Arbeit analysiert Lolitas Positionierung zwischen der Jungfrau, der Prostituierten und der Mutter, um zu zeigen, wie sie in den männlichen Machtkämpfen instrumentalisiert wird. Abschließend wird die Skandalrezeption des Romans aus der Perspektive der Geschlechterrollen untersucht und es werden die Folgen der Untergrabung gesellschaftlicher Normen betrachtet.
Schlüsselwörter
Die Arbeit konzentriert sich auf Schlüsselwörter wie: Gender, Geschlechterrollen, Frauentausch, Patriarchat, Lolita, Nabokov, Irigaray, Literaturanalyse, Genderforschung, Kulturkritik, Skandalrezeption, Tabubruch, gesellschaftliche Konstruktionen.
- Arbeit zitieren
- Michael Obenaus (Autor:in), 1999, Lolita - eine Geschlechter(gender)-Studie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23525