Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Kapitel: Einführung in die Problemstellung, Methodik, Zielsetzung und Forschungslage
1. Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
2. Theoretischer Referenzrahmen und methodische Vorüberlegungen
3. Forschungsbericht zu den Formen und Funktionen synoptischer Kapitelüberschriften
II. Kapitel: Typologien von Formen und Funktionen der Kapitelüberschriften im Roman
1. Literaturgeschichtliche und erzähltheoretische Einordnung der Kapitelüberschrift
1.1 Zu Ursprung und Entwicklung der Kapitelüberschrift
1.2 Relation zwischen synoptischer Kapitelüberschrift und Text: Bedeutung und Relevanzabschätzung für den Roman
2. Klassifikation verschiedener Erscheinungsformen der synoptischen Kapitelüberschrift
2.1 Dominant fiktionsbezogene Überschriften
2.2 Dominant rezeptionsbezogene Überschriften
2.3 Dominant metafiktionsbezogene Überschriften
3. Typologie rezeptionslenkender Funktionen der synoptischen Kapitelüberschrift
3.1 Informationsvergabe und Spannungsaufbau
3.2 Sympathie- und Antipathielenkung
3.3 Beeinflussung der Intensität der Rezeption
3.4 Aufforderung zur aktiven Mitarbeit am Produktionsprozeß
4. Relationen zwischen Formen und Funktionen von Kapitelüberschriften
III. Kapitel: Die Bedeutung der synoptischen Kapitelüberschriften in den Romanen Henry Fieldings
1. Einführung in die Textkonstitution und Rezeptionsästhetik der Romane Henry Fieldings
2. Joseph Andrews: Fiktion oder Authentizität? Kontrastive Wirklichkeitsvermittlung als Strukturprinzip der Überschriften
3. Jonathan Wild: Hyperbolische Sympathielenkung zur Potenzierung von Ironie
4. Tom Jones: Demonstrative Fiktionalität und explizite Aufforderungen zur individuellen Sinnkonfiguration
5. Amelia: Relevanzminderung der Synopse und Affektaktivierung des Rezipienten
IV. Kapitel: Zusammenfassung und Schlußbetrachtung der Ergebnisse
1. Diachrone Veränderungen im Gebrauch der Kapitelüberschriften in den Romanen Henry Fieldings
2. Relevanz der Untersuchung und Ergebnisse für die Fielding-Forschung und die Romananalyse
Literaturverzeichnis
1. Primärtexte
2. Sekundärliteratur
2.1 Sekundärliteratur zu Kapitelüberschriften und Titeln
2.2 Sekundärliteratur zu Henry Fielding
2.3 Weitere Sekundärliteratur
I. Kapitel: Einführung in die Problemstellung, Methodik, Zielsetzung und Forschungslage
1. Problemstellung und Zielsetzung der Arbeit
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Im ersten Kapitel des zweiten Buchs von Joseph Andrews (im folgenden abgekürzt als JA) erklärt Fielding Sinn und Nutzen der Einteilung eines Romans in Kapitel, sowie das Setzen von Überschriften und erläutert die traditionellen Funktionen dieser Konventionen: Kapitel und deren Überschriften erleichtern dem Leser die Orientierung und geben ihm Zeit zum Nachdenken, Pausieren und Reflektieren. Außerdem bietet die Überschrift eines Kapitels dem Leser die Möglichkeit, das folgende Kapitel zu überspringen, falls die Vorinformationen nicht mit den Erwartungen oder dem Interesse des Lesers übereinstimmen. Fielding nennt also eine Reihe von Aufgaben, die die synoptische Kapitelüberschrift, d.h. die inhaltsresümierende Überschrift, erfüllen kann.[2] Die Leistungen der Kapitelüberschrift, die auf mannigfaltige Weise auf den Leser und den Leseprozeß einwirken können, sind damit jedoch nicht erschöpft.
Obwohl die romantheoretischen Überlegungen Fieldings in den Anfangskapiteln jedes Buches von JA als Schlüssel zu seiner Romankonstitution fungieren und daher in der Sekundärliteratur einen wichtigen Analyseansatz für sein Werk bilden,[3] sind die Untersuchungen zu seinen Theorien über Kapiteleinteilung und Überschriften defizitär. Fieldings Erläuterungen zu potentiellen Funktionen der Kapitelüberschrift befriedigten offensichtlich das Erkenntnisinteresse der Forschung an weiteren Aufgaben und Leistungen dieses Gestaltungsmittels, da außer den vom Autor selbst genannten Kriterien bislang kaum Darstellungen der variantenreichen Kapitelüberschrift vorhanden sind. Es überrascht daher nicht, daß auch die Beschäftigung mit Kapitelüberschriften im allgemeinen in der Literatur- und Textwissenschaft eine untergeordnete Rolle spielt.
In der vorliegenden Arbeit soll daher das Phänomen der synoptischen Kapitelüberschrift systematisch anhand einer deduktiven Analyse erschlossen werden. Dazu zählt auch die Benennung der Unterschiede von Werktitel und Kapitelüberschrift, da während der Vorbereitung zu dieser Untersuchung festgestellt wurde, daß diese Phänomene in der Sekundärliteratur oftmals undifferenziert oder synonym behandelt werden. Es hat sich jedoch gezeigt, daß bei der Betrachtung von Titeln und synoptischen Überschriften terminologische, methodische und interpretatorische Differenzierungen erforderlich sind.
Aufgrund des Mangels an Untersuchungen zu generell konstitutiven Merkmalen von Kapitelüberschriften des Romans ist es notwendig, einen großen Teil der Überlegungen formalen Aspekten und Kennzeichen der Überschrift zu widmen. Es sollen allgemeine Raster von Formen und Grundfunktionen synoptischer Kapitelüberschriften erstellt werden, die dann als Analysekategorien für die exemplarische Untersuchung der Fielding'schen Romane fungieren, aber auch auf andere Romane mit Kapitelüberschriften appliziert werden können.
Ein weiteres Ziel der Arbeit besteht darin zu zeigen, daß das Wirkungspotential der Kapitelüberschrift weit über konventionelle Verständnisweisen hinausragt und sich vorrangig auf rezeptionsästhetischer Ebene manifestiert. Die rezeptionslenkenden Funktionen der Kapitelüberschriften systematisch zu erfassen gilt hier als eine Aufgabe, die darauf zielt, Bedingungen für das Verstandenwerden, wie sie im fiktionalen Text gegeben sind, herauszuarbeiten.
Die Interpretation der Romane Fieldings soll anschließend eine diachrone Veränderung des Gebrauchs von Formen und Funktionen der Kapitelüberschriften herausstellen und so die These untermauern, daß Überschriften sich nicht in ihren Aufgaben als Ruhepause und Gedächtnisstütze erschöpfen, sondern werkspezifische Merkmale enthalten, die den Leser zu bestimmten Rezeptionshandlungen motivieren können.
Im Zeitraum des 18. Jahrhunderts findet die Gattung Roman ihre volle Gestaltung und Prägung. Das Spektrum unterschiedlicher Erscheinungsformen von Überschriften in dieser Epoche ist sehr groß. Es ist deshalb im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, eine umfassende und lückenlose Darstellung von Entwicklungen der Kapitelüberschriften innerhalb der gesamten Epoche zu leisten. Die Berücksichtigung eines einzelnen Autors erweist sich als sinnvoller. Mit den Werken Henry Fieldings kann das vollständige Romanwerk eines Autors untersucht werden, der all seine Romane in Bücher und Kapitel gliedert und diesen synoptische Kapitelüberschriften voransetzt. Zudem umfaßt der Zeitraum seines literarischen Schaffens eine Periode, die den Übergang von Aufklärung, bzw. Klassizismus, zu Empfindsamkeit bildet und deshalb eine diachrone Veränderung der Romane bezüglich ihres Gebrauchs von Kapitelüberschriften vermuten läßt. Ausgehend von einer textimmanenten Analyse seiner Romane sollen Formen und Leistungen der Kapitelüberschriften schließlich im historischen und gattungsspezifischen Kontext erfaßt werden. Weiterhin werden bestimmte Bedingungen ermittelt, denen die Überschriften bezüglich der Gestaltung des Gesamtwerks unterliegen. Hauptziel der Arbeit ist es, kein weiteres Paradigma einer ephemeren textuellen Erscheinung zu offerieren, sondern zu zeigen, daß Kapitelüberschriften gattungskonstituierende Phänomene sind, die die Rezeption eines Textes ebenso beeinflussen können wie konventionelle textuelle Gestaltungsmittel.
Abschließend sei an dieser Stelle der terminologische Gebrauch erläutert. Der Terminus Titel verweist in der vorliegenden Arbeit stets auf die Benennung des epischen Gesamtwerks eines Autors. Ist das Werk in einzelne große Textabschnitte gegliedert, so sind dies die Bücher oder Volumina. Die Volumina können durch typographische oder numerale Trennungen markiert werden, ihnen kann aber auch eine Überschrift vorangehen, die hier als Buchüberschrift bezeichnet wird. Sind die Bücher in kleinere Textabschnitte, in Kapitel, untergliedert, so ist die primäre Voraussetzung für das Auftreten von Kapitelüberschriften gegeben. Diese können aus Zahlen, Mottos, Sentenzen, Einworttiteln oder Summaren bestehen, wobei letztere als synoptische Kapitelüberschriften bezeichnet werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie aus mehr als einem Wort bestehen und per definitionem den Inhalt des ihnen folgenden Kapitels kurz resümieren.[4] Dieses Kapitel ist ihr Bezugstext oder Folgetext, da Überschrift und Kapitel in einer "syntagmatischen Beziehung" (Tschauder 1991: 295) zueinander stehen.[5] Da in der vorliegenden Arbeit synoptische Kapitelüberschriften im Zentrum der Untersuchung stehen, wird diese ausführliche Bezeichnung nur dann gewählt, wenn eine Abgrenzung zu anderen Formen von Überschriften erforderlich scheint, sonst beschränkt sich die Terminologie auf 'Überschrift' oder 'Kapitelüberschrift'.
2. Theoretischer Referenzrahmen und methodische Vorüberlegungen
Da es zu den Forschungsdesideraten dieser Arbeit zählt, die Relevanz der synoptischen Kapitelüberschrift für den Roman hervorzuheben, muß gezeigt werden, daß diese Form von Überschrift ein echter Teil des Gesamttextes und nicht bloß ein Gliederungsmittel ist. Um zu demonstrieren, daß ihr ein anderer Status als Titel, Inhaltsangabe oder Kapitelnumerierung zukommt, werden Aspekte und Kriterien der Textlinguistik und der Erzähltheorie als theoretischer Referenzrahmen hinzugezogen.
Die Klassifizierung von Erscheinungsformen der Überschrift erfolgt nach inhaltsbezogenen Aspekten, wobei die Gliederung in Dominanzverhältnisse des Textreferens auf Erkenntnissen der Narratologie und der Kommunikationstheorie basiert. Rezeptionsästhetische Einsichten bilden die Grundlage für eine Typologie der potentiell rezeptionslenkenden Funktionen der Kapitelüberschrift. Nach Link (1976: 38-43) gilt dies als der Bereich der Rezeptionsforschung, der nicht am realen Leser, sondern an einem fiktiven, impliziten Leser interessiert ist. Stierles Konzept (1975: 347) der formalen Rezeptionstheorie, deren Aufgabe er in der Formulierung eines Rezeptionspotentials sieht, das unabhängig von seiner partikulären Einlösung zu sehen ist, bildet außerdem eine adäquate Basis für die Erstellung der Funktionstypologie.
Aufgrund der uneinheitlichen Terminologie in der Rezeptionsästhetik bezüglich der Mannigfaltigkeit von Leserkonzepten ist es erforderlich, an dieser Stelle den Bezugsrahmen zu disambiguieren. Wilson (1981) liefert einen aufschlußreichen Überblick über die variantenreichen Konzepte von Leserfiguren und deren Positionen im Kommunikationsmodell. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen einem "characterised fictive reader" und einem "intended fictive reader". Letzteren setzt er mit Isers (1972c) "implizitem Leser" gleich und stellt fest, daß jeder Text an einen impliziten Leser gerichtet ist, "whose attitudes and judgements demanded by the text, cannot be deduced from specific textual references, unless he is identical to the characterised reader" (Wilson 1981: 856). Ein fiktiver, charakterisierter Leser existiert nach Wilson jedoch nur in partikulären Texten und manifestiert sich entweder durch direkte Charakterisierungen oder "by uncovering implicit assumptions" (ebd.).
Die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Differenzierung an, jedoch muß eine Einschränkung hinsichtlich Wilsons Ausführung zur Fiktionalität von "characterised" und "intended reader" gemacht werden. Wilson gewährt beiden Leserkonzepten den Status der Fiktionalität, dies widerspricht jedoch Nünnings (1989: 25-40) intersubjektiv nachvollziehbarer Darstellung des Kommunikationsmodells. Ihmzufolge ist allein der charakterisierte Leser ein fiktiver Bestandteil des inneren Kommunikationssystems, während der implizite oder intendierte Leser als abstrakter Empfänger des Werkganzen ein hypothetisches Konstrukt darstellt, das auf einer höheren Abstraktionsebene des Textes anzusiedeln ist. Es wurde bereits festgestellt, daß die vorliegende Arbeit sich nicht mit tatsächlichen Reaktionen empirisch faßbarer Leser beschäftigt, sondern potentielle Rezeptionsweisen realer Leser aufzeigt. Je größer die Identifikation eines realen Lesers mit dem fiktiven, charakterisierten Adressaten ist, desto größer ist demnach auch die Wirkung rezeptionslenkender Strategien.
Die Arbeit gliedert sich gemäß ihrer Zielsetzung in vier Teile: Zunächst erfolgt ein historischer Überblick über die Entstehung und Entwicklung der synoptischen Kapitelüberschrift, der sich aufgrund des Defizits in der bisherigen Forschung besonders auf den englischen Roman des 18. Jahrhunderts konzentriert.
Zum Hintergrundwissen über Anwendung und Nutzen der Kapitelüberschrift gehört auch eine erzähl- und texttheoretische Einordnung. Diese soll erste Einblicke darüber geben, bis zu welchem Grad die synoptische Kapitelüberschrift relevant für den Gesamttext ist und inwiefern sie von anderen Textphänomenen wie Titel oder Inhaltsangabe abgegrenzt werden muß.
Anschließend wird eine erste Typologie von Erscheinungsformen der synoptischen Kapitelüberschrift erstellt, deren Kriterien in Hinblick auf die Applikabilität und Nützlichkeit für die zu untersuchenden Romane gewählt werden. Mit Hilfe der gewonnenen Typen soll die Beobachtung einer diachronen Veränderung im Gebrauch von Überschriften erleichtert werden.
In einer zweiten Typologie soll das Wirkungspotential von Kapitelüberschriften hinsichtlich ihres Einflusses auf die Rezeptionslenkung innerhalb eines Romans ermittelt werden. Dieser deskriptive Teil schließt mit einer Relationsabschätzung von Formen und Funktionen der Überschrift. Hier soll erarbeitet werden, ob diese in binärer Opposition zueinander stehen, sich wechselseitig bedingen, oder ob graduelle Skalierungen die Beziehungen zwischen Formen und Funktionen von Kapitelüberschriften bestimmen. Die Typologien von Erscheinungsformen und Funktionen werden möglichst allgemein formuliert, um Analysekategorien für alle narrativen Texte mit Kapitelüberschriften bereitzustellen. Daher wird auf Beispiele im deskriptiven Teil der Arbeit weitgehend verzichtet.
Exemplifiziert wird der theoretische Teil dann anhand der fünf Romane Henry Fieldings. Besonderheiten und diachrone Veränderungen von Formen und Funktionen der synoptischen Kapitelüberschrift können so paradigmatisch herausgearbeitet werden. Es wird das Ziel verfolgt zu zeigen, daß die Leistungen dieses Phänomens weit über konventionelle Aufgaben hinausreichen. Desweiteren soll demonstriert werden, daß die synoptische Kapitelüberschrift integrativer Bestandteil der Handlung sowie der erzählerischen Vermittlung ist. Somit unterliegt sie bestimmten Veränderungen in Form und Funktion, die wiederum von der jeweiligen Erzählsituation, Wirkungsintention, sowie außertextuellen Rahmenbedingungen der Romane abhängig sind. Um diese Annahmen zu belegen, ist es erforderlich, die Einzelanalysen in den Gesamtkontext der Werke zu stellen und die Romane wiederum in Relation zu ihrer literaturhistorischen Situation zu fassen. Somit sollen über die Analyse der synoptischen Kapitelüberschriften interpretatorisch nutzbare Ergebnisse für das Romanwerk Fieldings und den Roman im 18. Jahrhundert geliefert werden.
3. Forschungsbericht zu den Formen und Funktionen synoptischer
Kapitelüberschriften
Das Phänomen der synoptischen Kapitelüberschrift ist in der Forschung bislang mehr als stiefmütterlich behandelt worden. Punktuelle Beschäftigungen mit diesem Gestaltungsmittel sind vorwiegend in narratologischen Studien zu finden, die an passender Stelle in der vorliegenden Arbeit verwertet werden. Speziell zu den Überschriften in Fieldings Romanen liegt keine umfassende Untersuchung vor. Deshalb kann hier nur ein kurzer Überblick darüber gegeben werden, was bisher generell zur Analyse von Überschriften geleistet wurde. Obgleich neuere literatur- und textwissenschaftliche Untersuchungen erkennen, daß Überschriften nicht nur aus dem Grund der Übersichtlichkeit und Ordnung von den Autoren eingesetzt werden, sondern auch textimmanente und rezeptionsästhetische Aufgaben erfüllen können, belaufen sich die bisherigen Forschungsarbeiten zu Grundfunktionen und Formen von Kapitelüberschriften auf eine relativ spärliche Anzahl.
Für den deutschen Roman hat Wieckenberg (1969) die bislang aufschlußreichste und ausführlichste Studie geliefert. Er beschränkt sich allerdings auf die Darstellung der historischen Entwicklung der Überschrift bis zum Ende des Barockzeitalters und auf eine knappe formale Typologie. Seine Feststellung, daß es bis zum Erscheinen seiner Studie an einer größeren Untersuchung des Kapitelüberschriftengebrauchs ganz fehlt (ebd.: 9), gilt auch noch zum heutigen Zeitpunkt. Seinem Aufruf zu einer umfassenderen Beschäftigung mit dem Phänomen der Kapitelüberschrift ist bislang nur Schnitzler (1983) in ihrer Untersuchung der Überschriften im französischen Roman des 19. Jahrhunderts gefolgt. Dort wird zum ersten Mal auch der Versuch unternommen, ein systematisches Raster von Funktionen zu erstellen, das dann auf andere Nationalliteraturen angewendet werden kann. Da in ihrer Arbeit allerdings die Grundfunktionen induktiv aus Einzelanalysen erschlossen werden, ist es denkbar, daß funktionale Leistungen von Überschriften, die nicht in den untersuchten Romanen ausgeschöpft werden, nicht berücksichtigt wurden. Dem Wirkungspotential von Kapitelüberschriften könnten so Grenzen gesetzt worden sein, die in anderen Werken durchbrochen werden. Außer diesen epochenspezifischen Untersuchungen ist bislang nur eine Arbeit bekannt (Lohmann 1990), die sich mit dem Gebrauch der Kapitelüberschriften eines einzelnen Autors - Jean Paul - befaßt, aber allgemeingültige Kriterien oder Modelle außer Acht läßt. Ayrenschmalz (1962: 200-213) hat in seiner Studie zum Abenteuerroman eine Typologie von Kapitelüberschriften erstellt, die aber aufgrund einer mangelnden Differenzierung von Formen und Funktionen oberflächlich und unsystematisch angelegt ist.
Stanzel (1995: 58-66) weist in seiner Analyse der Erzählsituationen und der Mittelbarkeit des Erzählens auf den textuellen Status von Überschriften hin und gliedert sie in die von Weinrich (1971) geprägten Kategorien "erzählende" und "besprechende" Texte. Er konzentriert sich als erster auf die Darstellung der synoptischen Kapitelüberschrift, der er mit einer eng gefaßten Definition jedoch kaum Raum für rezeptionslenkende Funktionen läßt.[6]
Die Stellung der Überschrift bezüglich ihrer Zugehörigkeit zum Haupttext und der Modus ihrer erzählerischen Vermittlung sind Aspekte, mit denen sich die Forschung hauptsächlich beschäftigt. Die Unklarheiten und Uneinigkeiten darüber, ob die Kapitelüberschrift zum Ganzen des Werks oder getrennt davon betrachtet werden muß, sind sicherlich ein Grund dafür, warum zur rezeptionslenkenden Funktion derselben bislang wenig gesagt wurde.[7] Problematisch bei der textlinguistischen Determination der Kapitelüberschrift ist die uneinheitliche Terminologie in den bisherigen Forschungsarbeiten zu diesem Thema.
Harweg (1984: 78-90) subsumiert in seiner Darstellung von Aufgaben der Initialsätze des Romans sowohl Werktitel als auch Kapitelüberschrift unter dem Begriff "Überschrift" und berücksichtigt nicht die notwendigen Abgrenzungskriterien für diese - nicht nur in funktionaler Hinsicht - divergierenden Phänomene. Ein Problem ergibt sich auch aus der Tatsache, daß er bemüht ist, strukturelle Unterschiede zwischen den Titeln fiktionaler und nichtfiktionaler Texte herauszuarbeiten. Er wählt den Terminus "Überschrift", da kurzen, nichtfiktionalen Texten der communis opinio nach keine Titel, sondern Überschriften vorangehen. Die Betrachtung des Untertitels eines Romans bringt ihn dann aber dazu, die Terminologie übergangslos zu wechseln, da ihm selbst die Bezeichnung "Unterüberschrift" (ebd.: 87) nicht beschreibungsadäquat erscheint. So verstärkt sich der Eindruck einer grobmaschigen, undifferenzierten Darstellungsweise.
Tschauder (1991: 310ff.) übernimmt teilweise Harwegs ungenaue Terminologie. Er bezieht sich auf die synoptische Kapitelüberschrift mit dem Terminus "Kurztext" und sieht in einem Roman einen hierarchischen Aufbau aus Überschrift, Kurztext und Haupttext. Die vorliegende Arbeit wird jedoch zeigen, daß die synoptische Überschrift dem 'Haupttext' nicht übergeordnet ist, sondern sich auf der gleichen, textuellen Ebene befindet. Mit der Differenzierung von syntagmatischer und paradigmatischer Rezeption des fiktionalen und nichtfiktionalen Werktitels liefert Tschauder allerdings einen wichtigen Aspekt der Rezeptionssteuerung von Titel und Überschrift, der auch in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt wird.
Im allgemeinen sieht die Textwissenschaft die Kapitelüberschrift als ein per Konvention eingebürgertes Delimitationsmerkmal, das als Anfangs- und Schlußsignal dient, so z.B. Plett (1975: 84), der der Überschrift nicht mehr als eine pragmatische Funktion einräumt. Landwehr (1975: 135) geht einen Schritt weiter und sieht in der Überschrift ("Sekundärkodierung") eine Erleichterung der Informationsaufnahme für den Leser, definiert sie jedoch eher als Rahmenbedingung für weitere rezeptionssteuernde Maßnahmen und nicht als rezeptionslenkendes Mittel sui generis.
Auch die Narratologie vollzieht nicht immer die erforderliche Trennung von Titel und Überschrift. Ähnliche terminologische Bezeichnungen sind fast immer ein Hinweis darauf, daß auch Form, Inhalt und Funktion dieser Phänomene äquivalent behandelt werden. So bezeichnet z.B. Genette (1987: 287) in seiner Untersuchung von Paratexten Kapitelüberschriften als thematische, deskriptive Zwischentitel und liefert sonst keine Ergebnisse zu potentiellen Funktionen derselben.[8]
Im Hinblick auf die Relation zwischen Überschrift und Text geben auch einige der zahlreichen Arbeiten, die sich ausschließlich mit der Funktion des Titels befassen, über die Funktion der Überschrift Aufschluß, da mutatis mutandis Analogien aufgezeigt werden können. Darunter sind die Arbeiten von Wulff (1979) und Rothe (1986) hervorzuheben. Letzterer rückt Aspekte des Titels als polyfunktionales Sprachzeichen ins Zentrum seiner Arbeit und untersucht Funktionen, die in Schnitzlers Studie vertieft werden. Wulff hingegen konzentriert sich auf die Darstellung semiotischer Funktionen des Titels. Er geht nicht nur auf potentielle Wirkungen ein, sondern stellt auch Ergebnisse empirischer Rezeptionsforschung in seiner Arbeit vor. Die Textualität von Titeln untersucht Nord (1989) in ihrer systematischen, aber wenig tiefgründigen Analyse, in der lediglich die von de Beaugrande/Dressler (1981: 3-13) aufgestellten Textualitätskriterien abgefragt werden. Auch ihre Prüfung der kommunikativen Funktionen des Titels geht nicht über einen Vergleich mit den Funktionen des Sprachzeichens des Bühler'schen Organonmodells hinaus.[9]
Da die Studien, die sich mit Form und Wirksamkeit des Titels beschäftigen, auf eine mittlerweile kaum vollständig zu erfassende Zahl angewachsen sind,[10] überrascht es um so mehr, daß die Kapitelüberschrift bislang in der Literaturwissenschaft so wenig Beachtung fand. Historische Überblicke über die Entstehung und Entwicklung von Kapitelüberschriften sind ebenfalls in überschaubarer Anzahl vorhanden, speziell für den englischen Roman ist keine Geschichte des Gebrauchs von Überschriften bekannt. Dies ist um so verwunderlicher, da Autoren wie Fielding, Swift oder Sterne zwar nicht zu den Begründern der synoptischen Kapitelüberschrift zählen, diese aber geprägt und in ihren funktionalen Möglichkeiten genutzt haben wie kaum ein anderer Autor. Der historische Umriß in der vorliegenden Arbeit kann sich daher nur auf die wenigen Arbeiten stützen, die dieses Thema allgemein behandeln,[11] und Schlüsse aus dem begrenzten Umfang an Romanen ziehen, die eingesehen werden konnten.
II. Kapitel: Typologien von Formen und Funktionen der Kapitelüberschriften im Roman
1. Literaturgeschichtliche und erzähltheoretische Einordnung der Kapitelüberschrift
1.1 Zu Ursprung und Entwicklung der Kapitelüberschrift
In der Forschung herrscht ein Konsens über das Datieren der Ersterscheinung der Kapitelüberschrift ins 4. Jahrhundert v. Chr..[12] Sie entsprangen den lemmata, d.h. den als Überleitung dienenden Inhaltsangaben enzyklopädischer Werke, die im Laufe der Zeit vom Text getrennt und so zu äußerlich sichtbaren Kapitelüberschriften wurden.[13] Als Orientierungshilfe für den Leser waren sie dafür verantwortlich, ihm die Suche bestimmter Themen oder Textstellen zu erleichtern und somit Zeit und Aufwand zu sparen, was angesichts des Umfangs dieser Werke von gravierender Bedeutung war.[14] Die gesamte wissensvermittelnde Literatur des Mittelalters und der Antike wies Gliederungen in Bücher und Kapitel auf und verwendete die Angaben des Inhaltsverzeichnisses wieder als Kapitelüberschriften.[15] In der Spätantike existierte bereits eine festgesetzte Terminologie für die verschiedenen Teile eines Buches: das Gesamtwerk war das opus oder liber; die einzelnen Bücher innerhalb des Gesamtwerks nannte man libri oder volumina; die Kapitel waren capitula oder tituli; deren Überschriften wurden ebenfalls als tituli bezeichnet und das Inhaltsverzeichnis als capitulatio oder titulatio.[16]
Mit der Erfindung des Buchdrucks erlebte die Kapitelüberschrift dann eine Blütezeit, da sie zusammen mit der Inhaltsangabe und dem Titel des Werks einen Anreiz zum Kaufen darstellte.[17] Im 15. und 16. Jahrhundert blieben die Überschriften ihrer inhaltsresümierenden Funktion verhaftet. Fast ausschließlich bedienten sie sich stereotyper Einleitungsformeln, die den summarischen Charakter der Überschrift indizierten. Aspekte wie Spannungserzeugung oder Evozierung von Neugier waren irrelevant, die Vorwegnahme des Geschehens war konstituierend für die Romanstruktur.[18] Dadurch ermöglichten sie eine paradigmatische Rezeption, d.h. es genügte, die Kapitelüberschriften eines Romans zu lesen, um einen relativ lückenlosen Überlick über Figuren und Handlung zu erhalten.
In der Zeit bis zum 19. Jahrhundert änderten die Überschriften ihren Charakter vor allem dadurch, daß sie immer kürzer wurden und schließlich nur noch aus einem Wort bestanden. Außerdem war es nicht mehr selbstverständlich, daß Summare oder Teilsummare auch tatsächlich einlösten, was sie zu Beginn des Kapitels ankündigten.[19] Der moderne Roman verzichtet völlig auf eine Teilung des Gesamttextes und nimmt dem Erscheinen der Kapitelüberschrift dadurch ihre Grundvoraussetzung. Kapitel und Kapitelüberschriften treten allenfalls dort auf, wo sie als "parodistisch-überspitztes Mittel oder in bewußt archaisierender Manier" (Ayrenschmalz 1962: 210) gebraucht werden.
In England ist das Erscheinen der synoptischen Kapitelüberschrift am Ende des 17. Jahrhunderts in Romanen, die den spanischen Schelmenroman zum Vorbild nahmen, erstmalig zu beobachten.[20] Das folgende Schaubild bietet einen systematischen Überblick über den Gebrauch der synoptischen Kapitelüberschrift im englischen Roman des 18. Jahrhunderts.[21]
Auftreten von synoptischen Kapitelüberschriften im englischen Roman von 1660-1800*
* Es wurden insgesamt 187 Inhaltsverzeichnisse englischer Romane eingesehen. Für die Dekaden von 1700-1710, 1710-1720 und 1730-1740 sind die Angaben aufgrund nur geringen Materials unsicher.
Beim Einblick in die Romane wurde eine eindeutige Relation zwischen Genre und Gebrauch von Kapitelüberschriften festgestellt. Es konnte z.B. kein Brief- oder Tagebuchroman gefunden werden, der sich dieser Ankündigungen bedient. Synoptische Kapitelüberschriften waren vorwiegend in Romanen zu finden, die der Gattung des pikaresken Abenteuerromans angehören.[22] Eine weitere Verbindung konnte zwischen dem Erscheinen der Kapitelüberschrift und der Art der Erzählsituation beobachtet werden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen,[23] scheint die synoptische Kapitelüberschrift an die Existenz einer ausgestalteten, vermittelnden Erzählinstanz gebunden zu sein.
Diese Interdependenzen sind aufgrund der unterschiedlichen Wirklichkeitsdarstellungen der Subgattungen des Romans plausibel. Romane in Form des Briefes oder der Autobiographie sind durch kontinuierliche Faktizitätspostulate und Authentizitätsbeglaubigungen gekennzeichnet. Die erzählerische Vermittlung in der ersten Person Singular ist konstitutiver Bestandteil dieser Authentisierungsstrategien. Allein die Einteilung der Werke in Kapitel hätte den Wahrheitsanspruch dieser Gattungen durchkreuzt, da sie einen Eingriff in das Werk darstellt, der die Fiktionalität desselben betont.
An dieser Stelle können bereits Hypothesen für die Ursache des Verschwindens der Kapitelüberschrift gebildet werden. Der "Tod des epischen Erzählers" (Kayser 1954/1968: 24) im modernen Roman kann den 'Tod der Kapitelüberschrift' bedingt haben. Hinsichtlich einer Definition der synoptischen Kapitelüberschrift können folgende Zusätze gemacht werden: Grundbedingung für das Auftreten der Kapitelüberschrift ist die Einteilung des Werkes in Kapitel. Desweiteren kann man ex negativo bestimmen, daß das Auftreten der Kapitelüberschrift in Briefromanen, Tagebuchromanen oder fiktiven Autobiographien - ganz allgemein in allen Romanen, denen ein Wirklichkeitsanspruch inhärent ist - unwahrscheinlich ist. Diese Feststellung korreliert mit der Annahme, daß jede Erzählung, die durch eine explizit auftretende Erzählinstanz vermittelt wird, eine weitere Grundbedingung für das Auftreten der Überschrift bereitstellt.[24]
1.2 Relation zwischen synoptischer Kapitelüberschrift und Text:
Bedeutung und Relevanzabschätzung für den Roman
Im Überblick über die Forschungslage zur Kapitelüberschrift wurde bereits die defizitäre Differenzierung von Titel und Kapitelüberschrift festgestellt.[25] Zusammen mit Textelementen wie Inhaltsverzeichnis, Gattungsbezeichnung, Vor- oder Nachwort wird das Phänomen der Kapitelüberschrift häufig als textexterner Bestandteil behandelt, der dem Bereich der Literaturproduktion angehört, also von einem Verfasser oder Herausgeber gesetzt wird und dem Binnentext hierarchisch übergeordnet ist. Das heuristische Prinzip dieser Arbeit basiert jedoch auf einer grundlegenden Trennung von Werktitel und synoptischer Kapitelüberschrift hinsichtlich ihrer Positionen im "gesellschaftlichen Handlungsbereich LITERATUR" (Schmidt 1980).[26] Zu dieser Ausgangshypothese führt zunächst ein Vergleich der Primärfunktionen von Titeln und Überschriften und deren Bedingungen.
Formen und Wirkungen von Titeln sind seit der Entstehung von Literatur Gegenstände literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, da Titel den ersten Kontakt zum potentiellen Käufer des Buches herstellen und die Werbefunktion für alle Beteiligten der Literaturproduktion eminent wichtig ist.[27] Der Wirkungsbereich des Titels befindet sich jedoch im Gegensatz zu dem der Kapitelüberschrift außerhalb des Handlungskontextes des Werks, weshalb der Erfüllungsmodus seines Funktionspotentials vollkommen anderen Bedingungen unterliegt.[28]
Gemeinsamkeiten von Titel und Überschrift bestehen in der Erzeugung von Erwartungen und der Stimulation zur Lektüre, Unterschiede in ihrer Kontextdetermination.[29] Die Werbefunktion der Kapitelüberschrift ist der des Werktitels hierarisch untergeordnet. Letzterer muß den potentiellen Rezipienten erst dazu animieren, das Buch in die Hand zu nehmen und durchzublättern (nicht zuletzt dazu, das Buch dann zu kaufen), bevor die Kapitelüberschrift dazu beitragen kann, die Attraktivität des Werks anzupreisen. Zweifellos kann der semantische Gehalt des Titels nach der Lektüre des Romans andere Realisierungen durch den Leser erfahren,[30] die Primärfunktion des Titels steht jedoch immer außerhalb des werkinternen Kontextes.
Nichtsdestotrotz werden Kapitelüberschrift und Werktitel häufig in synonyme literaturtheoretische Kategorien eingeordnet. Unter textwissenschaftlichen Arbeiten ist ein Konsens über die Zuordnung der Überschrift zu der Gruppe der Metatexte festzustellen,[31] während neuere, narratologisch fundierte Arbeiten Titel und Überschriften als Paratexte bezeichnen.[32] Eine kurze Betrachtung der zentralen Argumente in der literaturwissenschaftlichen Diskussion soll verdeutlichen, daß die synoptische Kapitelüberschrift eine Sonderstellung innerhalb des Phänomens 'Überschrift' einnimmt und weder zur Kategorie der Metatexte noch der Paratexte eindeutig zuzuordnen ist.
Metatexte machen per definitionem Aussagen über einen Text innerhalb desselben. Genette sieht Metatextualität als "die als 'Kommentar' apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt" (1982/1993: 13). In jedem Fall können metatextuelle Beschreibungen oder Kommentare paradigmatisch, d.h. unabhängig vom Text, den sie bezeichnen oder kommentieren, gelesen und semantisiert werden. Subsumiert man nun Werktitel, Inhaltsverzeichnis, Pro- oder Epilog unter metatextuelle Erscheinungen, so trifft dies zweifellos zu; insbesondere bei Titeln und Inhaltsverzeichnissen wird die paradigmatische Rezeption zur notwendigen Bedingung. Synoptische Kapitelüberschriften unterliegen jedoch nicht der Kondition, einen unbekannten, nicht präsupponierten Kontext referieren zu müssen und enthalten daher häufig Pronomina, Deiktika o.ä., "die etwas Abwesendes, wenngleich Bekanntes darstellen" (Wulff 1979: 288f). In diesem Fall wird eine paradigmatische Rezeption zur Aporie für den Leser, der den Sinn dieser Überschriften nur im Kontext ihrer Bezugstexte entschlüsseln kann.
Wolf (1993: 262) macht die zutreffende Feststellung, daß Formen von Überschriften existieren, die metafiktionale Funktionen übernehmen können. Zu diesen zählt er Paratexte, die nicht "histoire -zentriert" sind, also das Verhältnis von Literatur und Realität thematisieren. Die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Beobachtung an, aus diesem Grund wird in der Typologie der Erscheinungsformen der synoptischen Kapitelüberschrift die dominant metafiktionsbezogene Überschrift aufgeführt. Problematisch an Wolfs Untersuchung ist jedoch, daß er Paratexte nur hinsichtlich ihrer illusionstörenden oder -affimierenden Wirkung untersucht und so letztendlich zu dem Ergebnis kommt, daß Paratexte
"zwar als wirkungsästhetisch potentiell interessante Teile eines narrativen Textes bei der Beurteilung der Illusionsbildung wie ihrer Störung zu beachten sind, aber, da sie sich eigentlich meist nur typographisch klar als solche bestimmen lassen, in systematischer Hinsicht (selbst als metafiktional funktionalisierte) nicht als konstituierende Elemente eines eigenen Charakteristikums illusionsstörender Narrativik angesehen werden können" (ebd.: 265).
Die typographische Exteriorität scheint im allgemeinen ein ausreichendes Kriterium zur Klassifikation der Überschriften als textexterne Elemente zu sein. Genette definiert Paratexte als "'zone indécise' entre la dedans et le dehors" (1987: 8) und äußert sich darüber hinaus nicht weiter zu Abgrenzungs- und Definitionskriterien. Stoltz (1990) nimmt eine kritische Gegenposition zu dieser Einordnung ein und argumentiert, daß jeder, der einen Titel liest, sich schon innerhalb des Textraumes befindet, da Titel und alle weiteren paratextuellen Erscheinungsformen vom Text untrennbar seien. Wiederum kann hier das Argument der paradigmatischen Rezeption eine Antwort auf beide Positionen geben. Zunächst muß nochmals herausgestellt werden, daß Titel oder Gattungsetikette sehr wohl getrennt vom Text existieren können und beispielsweise in der Werbung so gezielt eingesetzt werden. Auch die Kapitelüberschrift, wenn sie als Übersicht schaffendes, gliederndes Mittel eingesetzt wird, muß unabhängig vom Text ihre Funktion erfüllen können.
Die synoptische Kapitelüberschrift läßt sich jedoch weder den Meta- noch den Paratexten eindeutig und ausschließlich zuordnen. Ihr Funktionspotential liegt nicht darin, dem Rezipienten als Surrogat für Klappentext oder Inhaltsangabe zu dienen. Um diese These zu untermauern, ist ein Rückgriff auf die zu Beginn erfolgte Behauptung, die synoptische Kapitelüberschrift gehöre zum Bereich der Literaturvermittlung und nicht der Literaturproduktion, erforderlich.
Stanzel (1995: 58ff.) definiert die synoptische Kapitelüberschrift durch Satzlänge, Präsensgebrauch und fehlende Hinweise auf die Mittelbarkeit des Erzählens. Der Terminus "Satzlänge" ist per se ein sehr vages und unzureichendes Definitionskriterium. Ein grammatikalischer Satz besteht mindestens aus Subjekt und Verb, kann also im Extremfall äußerst kurz sein. Folgendes Beispiel zeigt, daß auch die weiteren Kriterien nicht immer eindeutig zu bestimmen sind:
Mr Wild with unprecedented generosity visits his friend Heartfree and the ungrateful reception he met with (Jonathan Wild, im folgenden abgekürzt als JW, III, 10).[33]
Diese Überschrift besteht aus einem Hauptsatz und einer unvollständigen Satzkonstruktion. Der Hauptsatz enthält ein Verb im Präsens, das keine Mittelbarkeit des Erzählens signalisiert. Dieser Teil der Überschrift wäre nach Stanzels Definition also der Gruppe synoptischer Kapitelüberschriften zuzuorden. Die Mittelbarkeit des Erzählens kommt jedoch in der attributiven Konstruktion "with unprecedented generosity" explizit zum Ausdruck. Es ist also eine Instanz vorhanden, die evaluative und sympathielenkende Kommentare zum Charakter Wilds und der Art seines Besuches liefert und die Überschrift als erzählenden Text klassifiziert. Die elliptische Konstruktion im zweiten Teil der Überschrift suggeriert zudem die Abwesenheit eines Mittelbarkeit gestaltenden Verbs ("Relating the ungrateful reception...") und indiziert so ebenfalls den erzählenden Charakter der Kapitelüberschrift. Eine Kopplung von besprechenden und erzählenden Elementen dieser Art ist häufig in Fieldings Überschriften auszumachen:
Allworthy visits old Nightingale; with a strange discovery that he made on that occasion (Tom Jones, im folgenden abgekürzt als TJ, XVIII, 3).
Mrs Deborah is introduced into the parish with a simile. A short account of Jenny Jones, with the difficulties and discouragements which may attend young women in the pursuit of learning (TJ, I, 6).
Zumindest in Hinblick auf die Analyse der Fielding'schen Romane ist eine Ausweitung von Stanzels Definition der synoptischen Kapitelüberschrift erforderlich. Zunächst geht die vorliegende Arbeit davon aus, daß Verben und Formulierungen, die die Mittelbarkeit des Erzählens signalisieren, den synoptischen Charakter der Überschrift nicht zwangsläufig ausschließen. Sie werden hier als stereotype und etablierte Konvention betrachtet, der Fielding insofern schon auszuweichen versucht, indem er in einem Großteil der Überschriften völlig auf Verben oder präpositionale Konstruktionen verzichtet, die explizit auf einen Erzählvorgang hinweisen.
Vielmehr wird die synoptische Kapitelüberschrift im Sinne von Stanzels Definition als eine Art 'Urform' und als paratextuelles Element betrachtet. Im Laufe der Geschichte gewinnt diese Überschrift an erzählendem Charakter und nimmt nicht mehr die Funktion von Paratextualtität wahr. Konstitutiv für die synoptische Kapitelüberschrift im englischen Roman des 18. Jahrhunderts ist der Bezug zum Inhalt des Romans, also eine immer präsente referentielle Funktion. Generalisierungen, Sentenzen, Sinnsprüche und Mottos werden hier nicht zur Kategorie synoptischer Kapitelüberschriften gezählt, da ihr Bezug zur textinternen Kommunikationsebene zu weit entfernt ist. Sie bilden eine Sondergruppe von Überschriften, die zu untersuchen im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden kann, aber lohnendes Material für weitere Arbeiten darstellt.[34] Die Möglichkeit der paradigmatischen Rezeption ist ein weiteres Charakteristikum der 'Urform' der synoptischen Überschrift und aller Phänomene, die als Paratexte bezeichnet werden können. Je schwieriger dieser Vorgang wird, desto mehr entfernt sich die synoptische Kapitelüberschrift also von ihrer traditionellen Form und Funktion und übernimmt andere Aufgaben, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen werden.
Festzuhalten ist: Die synoptische Kapitelüberschrift im Roman des 18. Jahrhunderts ist ein integrativer Bestandteil des narrativen Textes mit einer vermittelnden Erzählinstanz, die auf die Rezeptionsweise des Textes je nach Grad ihrer Ausgestaltetheit aktiv einwirken kann. Sie kann sowohl metafiktionale, als auch paratextuelle Funktionen übernehmen, ist jedoch keiner der beiden Kategorien ausschließlich zuzuordnen.
Im anwendungsbezogenen Teil dieser Arbeit wird sich zeigen, daß das rezeptionssteuernde Potential der Kapitelüberschriften nicht nur in der
Erfüllung subsidiärer Aufgaben liegt, sondern daß Kapitelüberschriften und
[...]
[1] Henry Fielding, Joseph Andrews, II,1, 123f.
[2] Vgl. zur Definition von Synopse und synoptischer Überschrift Stanzel (1995: 40-66) und Kapitel II, 1.2 dieser Arbeit.
[3] Fast jede Studie zur Erzähltheorie und Romanstruktur von JA nimmt Fieldings Einleitungskapitel als Ausgangspunkt für weitere narratologische Analysen. Ausschließlich mit diesen Kapiteln befaßt sich Chibka (1990). Vgl. dazu auch Kaplan (1973), der die Einleitungskapitel von TJ ins Zentrum seiner Betrachtung stellt.
[4] Dies entspricht der traditionellen Form der Synopse. Bei näherer Betrachtung der Formenvielfalt der synoptischen Kapitelüberschrift werden sich Abweichungen dieser Definition feststellen lassen, so z.B. der Bezug auf ein vorhergehendes Kapitel.
[5] Der von Hellwig (1984: 1) offerierte Terminus "Ko-Text" erweist sich nicht als beschreibungsadäquat, da er suggeriert, daß der Inhalt des Kapitels dem der Überschriften untergeordnet ist. Die vorliegende Arbeit geht jedoch von keinem hierarchischen Verhältnis dieser Textelemente aus.
[6] Vgl. dazu Kapitel II, 1.2 dieser Arbeit.
[7] Dies betrifft insbesondere die Kapitelüberschrift im Roman. In anderen Gattungen dagegen ist der rezeptionsästhetische Aspekt der Überschrift bereits in verschiedenen Arbeiten untersucht worden, vgl. z.B. zur Lyrik Kuhnen (1953) und Scheuermann (1982), zum Drama Bekes (1979).
[8] Zu Genettes Einordnung der Überschrift als paratextuelles Element vgl. auch Kapitel II, 1.2 dieser Arbeit.
[9] Vgl. Bühler (1965: 24-33).
[10] Volkmann weist in seiner literaturgeschichtlichen Untersuchung des deutschen Romantitels auf Titel-Poetiken hin, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen (1954: 1147).
[11] Dazu zählen: Palmer (1989), Mutschmann (1911) und wiederum die Arbeiten von Rothe (1986.), Schnitzler (1983) und Wieckenberg (1969.). Bibliographische Hinweise zu neusten Titel-Studien sind in Schnitzler (1983) und Genette (1988) zu finden.
[12] Vgl. Friderici (1911: 58), Mutschmann (1911), Wieckenberg (1969: 28) und Palmer (1989: 45).
[13] Vgl. Friderici (ebd.: 37).
[14] Vgl. Palmer (ebd.: 50).
[15] Vgl. ebd.
[16] Vgl. ebd.: 53.
[17] Vgl. Wieckenberg (1969: 42; 47).
[18] Vgl. ebd.: 58.
[19] Vgl. Schnitzler (1983: 13).
[20] Der Picaro-Roman gilt als die erste Gattung, die synoptische Kapitelüberschriften verwendete, wobei Tarr (1969) gezeigt hat, daß nicht Lazarillo de Tormes (1554) als Maßstab gesetzt werden kann, da die Überschriften erst nachträglich vom Verfasser hinzugefügt wurden, sondern Cervantes' Don Quixote (1605) der erste Roman ist, der diese Form von Überschrift dezidiert einsetzt.
[21] Anstoß zu diesem Schaubild gab Schnitzlers Tabelle der Kapitelüberschriften des französischen Romans im 19. Jahrhundert (1983: 264).
[22] Vgl. dazu auch Miller, der Kapiteleinteilung und Überschriften als "althergebrachte Mittel des Schelmenromans" bezeichnet und feststellt, daß der roman sentimental diese Zäsuren weitgehend vermeidet (1968: 72).
[23] Vgl. z.B. Tobias Smolletts Roman Roderick Random (1748), in dem ein Ich-Erzähler das Geschehen vermittelt und diese Erzählsituation auch in den Kapitelüberschriften beibehalten wird.
[24] Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Schnitzler für den französischen Roman (1983: 11f.).
[25] Vgl. dazu z.B. Kuhnen (1953), der die gleiche Beobachtung macht. Er begründet die Notwendigkeit terminologischer Differenzierungen mit der Konvention, daß Überschriften in sich abgeschlossener Werke i.d.R. "Titel" genannt werden, Kapitel jedoch nicht autonom und kontextunabhängig gelesen werden und daher "Überschriften" tragen. Inkonsequenterweise wählt er dann für seine Analyse des Gedichttitels die Bezeichnung "Gedichtüberschrift" und läßt seine Differenzierungskriterien damit unsicher und implausibel erscheinen.
[26] Für andere Formen von Überschriften wie Numeraltitel, Motto oder Einwortüberschrift mögen die gleichen Parameter zur Bestimmung von Textsorte, Funktion und Rezeptionsbeeinflussung gelten wie für den Werktitel oder die Gattungsbezeichnung, diese Typen sind jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung.
[27] Dies hat der Titel fiktionaler Texte aller Gattungen mit dem Titel nichtfiktionaler Texte gemein. Vgl. dazu auch Meyer (1987: 140): "Der Titel hat Werbefunktion; er preist eine Ware an, darin besteht seine Funktion."
[28] Vgl. Schnitzler (1983: 1-14).
[29] Vgl. Rothe (1986: 27).
[30] Vgl. dazu Hoek: "Le sens réel d'un titre n'apparaît qu'après la lecture du texte; souvent l'impression qu'on avait précédement d'un titre est complètement changé après la lecture." (1973: 3), sowie Kessler/Pilz (1990: 348), die darauf hinweisen, daß Titel literarischer Texte nicht nur voraus- sondern auch rückwirken können, da manche Titel erst nach dem Lesen des Folgetextes verständlich werden.
[31] Vgl. Hellwig (1984: 16), Nord (1989: 519) und Kühn (1992: 624).
[32] Genette inauguriert diesen Terminus in Palimpseste (1982/1993) und trennt dort Paratexte und Metatexte als verschiedene Formen von Transtextualität. Punktuell aufgegriffen wird das Phänomen des paratextuellen Elements in den Arbeiten von Stoltz (1990), Wolf (1993: 260-265) und Nünning (1995c: 153-172; 225f.).
[33] Im Verlauf dieser Arbeit beschränken sich die Angaben zu Zitaten der Kapitelüberschriften aus Fieldings Romanen auf Verweise zu Buch- und Kapitelnummer, um die Nachvollziehbarkeit beim Gebrauch anderer Werkausgaben zu erleichtern.
[34] Segermann hat diese Aufgabe am Beispiel französischer Gedichte der Romantik bereits übernommen (1977).