Mani Matter - ein politischer Chansonnier?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

33 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

1. Unterscheidung politischer und apolitischer Chansons bei Mani Matter
1.1 Matter, Chanson, Politik – Differenzierung einer Fragestellung
1.2 Erste Differenzierungsschwierigkeiten – das Unpolitische am Politischen
1.3 Politischer Kontext

2. Ebenen der Politisierung
2.1 Chansons mit konkreten Realitätsverweisen
2.2 Allegorische und parabelhafte Chansons
2.3 Chansons mit abstrakten Analysen gesellschaftspolitischer Problematiken

3. Thematische Gewichtungen der politischen Chansons
3.1 Matter und die Moral

4. Sprache, Stil und Form
4.1 Politischer Inhalt in sprachvirtuoser Verpackung

5. Einige Schlussgedanken: Mani Matter – ein politischer Chansonnier?

6. Literaturverzeichnis
6.1 Quellen
6.2 Literatur

Einleitung

Ich arbeite einerseits am Funktionieren der Zivilisation, andrerseits unterhalte ich die Leute mit Liedern. Irgendwie habe ich das Gefühl, es sollte noch etwas Drittes geben. Aber ich kann mir nicht einreden, dass das im politischen Radikalismus wäre, obschon dies vielleicht nahe dabei ist.

Mani Matter, Sudelhefte

Die Niederschrift dieser Seminararbeit kann augenzwinkernd als schicksalshaft bezeichnet werden. Sie fällt in einen Zeitraum, in dem der verstorbene Chansonnier Mani Matter ein grandioses Revival feiert. Wie von Elvis «The King» Presley jährt sich heuer auch der Todestag des grossen Berner «’värslischmid’ der ein Poet war»[1] auf runde Weise. Vor 30 Jahren starb Matter auf der Autobahn. Diesen Herbst feiert man in Bern (und gewiss auch in anderen Orten) den «Matter Herbst» so, als wäre Mani Matter noch immer da. Ist er ja auch.

Ungebrochen populär sind all seine Lieder und neuerdings ist der Mundartpoet auch vermehrt Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen, wovon die Monographie von Christine Wirz und die umfassende Dissertation von Stephan Hammer hervorzuheben sind. Beide Arbeiten geben eine fundierte Analyse von Leben und Werk des Chansonniers. In beiden Arbeiten fehlt indes ein gebührender Fokus auf die politische Rhetorik und Aussagekraft seiner Chansons – keinesfalls Marginalitäten in Mani Matters Werk. Diese Arbeit soll einen Anstoss geben, mit literaturwissenschaftlichen Fühlern den politischen Gehalt der Chansontexte zu erfassen.

Nach der einführenden Klärung der Anwendbarkeit eines rhetorischen Politikbegriffs auf Matters Chansons versuche ich, eine dreiteilige Kategorisierung der Lieder anhand der ‚genera dicendi’, der unterschiedlichen Arten des Vermittelns politischer Inhalte (zum Beispiel durch bestimmte Stilzüge und charakteristische Aussageverknüpfungen) zu erarbeiten. Darauf folgen eine textanalytisch fundierte Auflistung gesellschaftspolitischer Themenschwerpunkte sowie eine stilistische und formale Betrachtung. Mit einigen Schlussgedanken werde ich der Frage nachgehen, inwiefern Mani Matter ein politischer Chansonnier war und ist.

Methodisch sei angemerkt, dass meine Analysen der Chansons, welche ja «sprachlich-musikalische Einheitsgebilde»[2] sind, nur literaturwissenschaftlicher und nicht musikwissenschaftlicher Natur sind. Nebenbei: In Erwartung eines für den Leser verwirrenden Begriffsalats durch scheinbar inkongruente Fachbegriffe (vor allem in den Literaturzitaten), möchte ich gleich vorweg mögliche Missverständnisse entkräften: Mani Matters Chansons, beziehungsweise seine Chansontexte, sind lyrische Texte und damit Lyrik, Poesie, Dichtung.

1. Unterscheidung politischer und apolitischer Chansons bei Mani Matter

1.1 Matter, Chanson, Politik – Differenzierung einer Fragestellung

Politisch ist, was zu dem allgemeinen Wohl etwas beiträgt oder beitragen soll: quod bonum publicum promovet.

Johann Gottfried Seume: Mein Sommer

Was ist unter einer politischen Aussage in den Chansons von Mani Matter zu verstehen? Was ist überhaupt unter einer literarischen politischen Aussage zu verstehen? Was ist schliesslich unter Politik zu verstehen? Bevor ich mit Thesen und Argumenten um Mani Matter einen politischen Bau errichten kann, muss zuerst das Fundament stabil sein. Da Politik in der Literaturwissenschaft ein ‚Fremdkörper’ ist, scheint eine vorangehende Erörterung des Begriffs nützlich. Über den Begriff der Politik gibt es in etwa gleich viele Auslegungen, wie es politische Theorien, Regierungs- und Gesellschaftssysteme gibt. Das Universallexikon versteht unter Politik die wenig differenzierte «Gemeinschaftsgestaltung, die auf die Durchsetzung von Vorstellungen zur Ordnung sozialer Gemeinwesen und auf die Verwirklichung von Zielen und Werten gerichtet ist»[3]. Fachlexika definieren Politik als «Teilsystem der Gesellschaft, in dem die kollektiv verbindlichen Entscheidungen gefällt werden»[4]. Gesellschaftliche Adressierung ist offenbar ein wichtiger Aspekt von Politik. Wie die Definition weiter zeigt, sind auch Öffentlichkeit, Kommunikation und Zusammenleben in der Gesellschaft, sowie Gerechtigkeit wichtige Aspekte des Politikbegriffs:

Politik ist folglich öffentlicher Konflikt unter den Bedingungen von Macht und Konsensbedarf. Dabei geht es insbesondere um die Verständigung über solche prozeduralen, aber auch inhaltlichen Grundprämissen, die zumindest den Diskurs über Weiterexistenz, Handlungsfähigkeit und Zusammenleben der Menschen ermöglichen – individuell, gemeinschaftlich, weltweit und unter Bedingungen, die die unveräusserlichen Rechte des Menschen garantieren.[5]

Mani Matter lebte als Schweizer in einer traditionsreichen direkten Demokratie. Sein Verständnis des politischen Alltags wurde folglich von gesellschaftlichen Herausforderungen wie Gleichberechtigung, Zusammenleben und sozialer Verantwortung geleitet. Diese gesellschaftspolitische Relevanz findet man auch in den Chansons von Matter. Ziel dieser Arbeit ist es nun, mit literaturwissenschaftlicher Methodik das Politische dieser Lieder herauszuarbeiten und zu kategorisieren.

Zur Kategorisierung von Matters Chansons bezüglich ihrer politischen Aussagekraft bedarf es jedoch zuerst der Bestimmung eines literaturkompatiblen Politikbegriffs. Ich halte mich dabei an Urs Meyers Unterscheidung zwischen dem «semantisch enge[n], ‚etatistische[n]' Politikbegriff»[6] und dem «semantisch ausgeweitete[n] Politikbegriff»[7]. Gemäss Meyer ist Dichtung im engeren Sinne dann und nur dann politisch,

wenn sie sich direkt oder auch indirekt auf eine legislative oder auch judikative oder auch exekutive Staatsgewalt bezieht, die über eine 1) explizit geltende (kodifizierte) oder auch 2) implizit geltende (mehrheitlich akzeptierte) oder auch 3) gewaltsam behauptete Sanktionsmacht verfügt und auch die Funktion hat, Ordnungsbeziehungen a) innerhalb einer räumlich determinierten Gesellschaft (‚Innenpolitik’) bzw. b) zwischen zwei oder mehreren räumlich determinierten Gesellschaften (‚Aussenpolitik’) herzustellen.[8]

Auch ohne eine vorhergehende Textinterpretation von Matters Chansons scheint jetzt schon offensichtlich, dass auf den ersten Blick die wenigsten seiner politischen Liedtexte thematisch, das heisst bezüglich der Bevorzugung bestimmter Inhaltselemente, diesem eng gefassten Politikbegriff standzuhalten vermögen. Weitgehend sind die Bedingungen von Meyers Politikbegriff für die Chansons von Matter zu konkret auf staatspolitische Institutionen bezogen und zu wenig auf eine moral-, wie gesellschaftsorientierte Politik. Auch ist gemäss diesem semantisch engen Politikbegriff politische Dichtung als ideologische und Stellung beziehende (regierungsfreundliche oder oppositionelle) Dichtung zu verstehen. In den politischen Chansons von Matter finden sich jedoch weder ideologische Schlagwortrhetorik noch Stellungnahmen zu konkreten Politikthemen[9]. Seine Chansons orientieren sich nicht am Machtkampf von Regierung und Opposition, wie dies zum Beispiel in den Liedern Wolf Biermanns der Fall ist. Matter will ideologiefrei aufklären und politische Sachverhalte zwar humanistisch, jedoch weitgehend unparteiisch vermitteln.

Folglich ist für die Herausarbeitung des Politischen in den Chansons von Mani Matter ein breiter gefasster Begriff von politischer Dichtung notwendig. Aufbauend auf Jürgen Habermas’ Begriff der ‚Öffentlichkeitsstruktur’ weitet Meyer den Politikbegriff auf «nichtstaatliche Handlungen und Äusserungsformen»[10] aus. Er bezieht zusätzlich zum,

durch den engen Politikbegriff erfassten Bereich der Staatsorganisation auch eine Fülle weiterer öffentlichkeitswirksamer Handlungen oder Äusserungen von Individuen, Gruppen oder auch Institutionen wie [...] Vereine, [...] Familie usw. als ‚politische’ mit ein.[11]

Auch bei Inge Stephan ist die politische Dichtung «auf eine Breitenwirkung im Sinne eines herbeizuführenden Wandels der öffentlichen Meinung und der politischen und sozialen Zustände»[12] ausgerichtet. Der alternativ von Meyer gewählte Ausdruck der «littérature engagée»[13], welcher literarische Werke von allgemein gesellschaftlicher Relevanz bezeichnet, erscheint mir jedoch zu beliebig für die Untersuchung des Politischen in den Chansons von Matter, da dieser Begriff im weitesten Sinne ja auch Liebeslyrik und pseudopolitische Bereiche mit einbezieht.[14]

Ein ausgeweiteter Politikbegriff lässt nun nicht mehr nur literarische Aussagen über staatliche Institutionen zu, sondern er öffnet sich auch für gesellschafts- und sozialpolitische Themen. Entgegen der universelleren Anwendbarkeit von Meyers semantisch enger gefasstem, ‚etatistischem’ Politikbegriff auf historisch unterschiedliche politische Kontexte, ist nun dieser auf die Gesellschaft ausgedehnte Politikbegriff vornehmlich an politische Thematiken innerhalb einer demokratischen Regierungsform geknüpft.

Neben dem literarischen Politikbegriff dürfte zudem Hammers Einteilung zwischen Polit-Lied und Moral-Lied von Relevanz sein.[15] Das Polit-Lied bezieht sich auf institutionalisierte Machtstrukturen. Wichtigstes Kriterium ist die «Vorspiegelung von institutionalisierten Sichtweisen bezüglich politischer Mechanismen», wovon «meist explizit [oder aber implizit] ein Appell abgeleitet»[16] wird. Das Moral-Lied spiegelt dagegen «institutionalisierte Sichtweisen vor, die das zwischenmenschliche Handeln betreffen. Gesellschaftliche Normen werden entlarvt.»[17] Die Schwierigkeit dürfte nun wohl in der gegenseitigen Abgrenzung dieser Typen liegen, da sich die beiden Gegenstandsbereiche überschneiden. Man kann sogar mit Vorbehalt das Polit-Lied als dem Moral-Lied zugehörig bezeichnen.

Mit den wenig differenzierten Grenzen zwischen diesen zwei Liedtypen sei die Problematik umschrieben, die sich bei der Einteilung von Matters Chansons in politische und unpolitische stellt. Allein mit einem ausgeweiteten Politikbegriff lassen sich die Chansons von Mani Matter beurteilen, denn wie die spätere Analyse noch zeigen wird, befassen sich viele Texte Matters mit gesellschaftspolitischen Problematiken. Das Zusammenleben, dann auch die soziale Frage, die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und vor allem die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen der Demokratie bilden thematische Schwerpunkte. Diese sind folglich trotz ihrer verschiedenartigen Ausprägungen einem ausgedehnten Politikbegriff subsumierbar.

Der semantisch ausgeweitete, auf literarische Äusserungen bezogene Politikbegriff bildet in der vorliegenden Arbeit nun nicht nur ein geeignetes Instrument, Matters Chansontexte auf ihre politischen Aussagen hin zu überprüfen, sondern erlaubt zugleich schon jetzt eine erste Einschätzung Matters als politischem Poet.

1.2 Erste Differenzierungsschwierigkeiten – das Unpolitische am Politischen

Da nun das Fundament aus Theorie und Definition steht, stellt sich die Frage, wie die Baustoffe auszuwählen sind, um für Mani Matter ein politisches Dichterhaus zu bauen. Die Crux dieser Frage ist schnell erkannt: Welche Chansons von Mani Matter politische Inhalte transportieren, ist ein Stück weit Sache der Interpretation.

Dabei wird die Freiheit der Deutung vor allem durch die unkonkrete Thematisierung des Politischen in den Chansons bestimmt. In «hemmige» (UlG, 16f.)[18] zum Beispiel fehlt jegliche Konkretisierung. Die figuralen Subjekte dieses Chansons könnten unpersönlicher (und damit allgemeingültiger) nicht sein: «s’git lüt» sagt Matter und meint damit die «mönschheit». Auch die moralische Intention der Schlussstrophe ist in ihrer Offenheit klar:

und wenn me gseht was hütt dr mönschheit droht

so gseht me würklech schwarz nid nume rot

und was me no cha hoffen isch alei

dass sie hemmige hei

Die Botschaft liegt in Form der Kritik an gesellschaftlich ‚enthemmter’ Rücksichtslosigkeit ausgebreitet da, jedoch kann deren Anwendung auf ganz verschiedene gesellschaftliche Kontexte (z.B. ökonomische, politische, soziale) hinauslaufen. Anders als das Gros der politischen Protestsänger und Liedermacher stützt sich Matter in seinen Liedtexten in keinem Fall explizit auf politische Ereignisse der Realität und der Geschichte ab. Dies mag auch daran liegen, dass sich Matter, obwohl der Partei «Junges Bern» angehörig, weder als Politiker noch als Künstler einer politischen Ideologie verpflichtet fühlte, sondern einzig und allein dem Menschen. Stellung bezog er in seinen Chansons nicht auf tagespolitische Themen, sondern auf gesellschaftliche und moralische Grundkonflikte. Dazu mussten deren Texte inhaltlich möglichst allgemeingültig verständlich und möglichst vielseitig interpretierbar sein. Mani Matter war kein «absolute[r] Dogmatiker», sondern er war sich der «Relativität der Ansichten»[19] bewusst. Franz Hohler nennt ihn daher einen Skeptiker.

Der nahtlose Übergang von politischen und unpolitischen Interpretationsmöglichkeiten ist also der Grund für die schwierige Fassbarkeit des Politischen in Matters Liedern. Er erschwert es

dem Rezipienten, ein Chanson eindeutig als politisch oder unpolitisch zu klassifizieren. In «hemmige» (UlG, 16f.) zeigt sich das an der Wahl des Interpretationskontextes: Die Offenheit des Beginns der Schlussstrophe «und wenn me gseht was hütt dr mönschheit droht»[20] erlaubt es dem Rezipienten, die Bedrohung und vor allem deren Verursacher selbst zu bestimmen. Darunter können aber sowohl eine politische Macht als auch eine ökonomische oder ökosystemische usw. verstanden werden – und nicht zuletzt auch die fatalen Auswirkungen zunehmend individueller Rücksichtslosigkeit. Die zwei Schlussverse «und was me no cha hoffen isch alei / dass sie hemmige hei» lassen erahnen, dass sich die Hoffnungen eines Jemand, eines Jedermann/Jederfrau auf die Gesellschaft, die Menschheit an sich beziehen. Doch erlaubt dieser Schluss damit nicht ein weites Feld an Projektionsmöglichkeiten? Jeder, für einen ‚menschheitsbedrohenden’ Konflikt Verantwortliche kann an die Stelle des «sie» gerückt werden.

Der Übergang von der politischen zur unpolitischen Rezeption verschwimmt dadurch häufig aufgrund der parabolischen Bilder in Matters Liedtexten, die relativ offene Deutungen der analogisch gemeinten Sachverhalte zulassen. So ‚funktionieren’ einige Chansons wie zum Beispiel «dr hansjakobli und ds babettli», «dr alpeflug» und «ir ysebahn». Sie lassen neben einer explizit politischen auch gleichberechtigte andere Interpretationsmöglichkeiten zu. Ihnen gemeinsam ist zwar, dass sie in einer exemplarischen Situation durch dialogische Interaktion einen dialektischen Konflikt thematisieren. Auf der übergeordneten Erkenntnisebene kann dieser Konflikt indes genauso gut immer noch zwischen zwei Individuen stattfinden, oder aber zwischen zwei politischen Machtträgern, oder zwischen zwei beliebigen Parteien.

Die Chansons haben dadurch eine vielschichtige Interpretierbarkeit. Dies macht die Abgrenzung zwischen politischen und unpolitischen Chansons bei Mani Matter schliesslich zur Ermessensfrage, was sich noch verstärkt durch die in Kapitel 1.1 definierte Toleranz eines semantisch ausgedehnten, literaturbezogenen Politikbegriffs. Alle diese nun aufgezeigten Merkmale, die einerseits eine explizite Kategorisierung der Chansons erschweren, sind andererseits zugleich auch Kriterien für die Hochwertigkeit der politischen Ausprägung. Denn gemäss Hinderers differenzierten Begriffsbestimmung von politischer Dichtung hat Mani Matter mit vielen seiner Chansons

authentische politische Lyrik [produziert, die sich] mit dem Hinweis auf den poetischen Mehrwert, die den ‚Hervorbringungszweck überdauernde Form’, die kritische Einstellung und die pragmatische Stilhaltung, die sich an die Reflexion des Adressaten wendet [von Werken abgrenzt,] die es nur zur Stufe der Propaganda, Gebrauchslyrik, schlechter Tendenzdichtung, des Agitprop bringen.[21]

Zusammenfassend kann der Schluss gezogen werden, dass es wenig Sinn macht und bisweilen ein schwammiges Unterfangen ist, eine fixe Schublade für Matter-Chansons einzurichten, auf der allein das Wort «politisch» steht. Vieles fände sich nicht nur dort, sondern müsste auch in anderen Schubladen angelegt sein. In Kapitel 2 versuche ich anhand der Ebenen der Politisierung dennoch eine Auflistung politischer Chansons zu geben, deren Auswahl schliesslich neben handfesten Kriterien politischer Dichtung auch aufgrund eigenen Ermessens entstanden ist.

1.3 Politischer Kontext

Diese Arbeit setzt sich nicht mit der Person Mani Matter auseinander, die sich in vielfältiger Weise in der Politik betätigte. So war er neben seiner Arbeit als Rechtskonsulent der Stadt Bern ein Mitglied der kleinen Partei «Junges Bern». Er war massgeblich mitverantwortlich für die Gründung der «Gruppe Olten» und er äusserte sich in der Öffentlichkeit häufig und kompetent zu politischen Fragen. Meine Arbeit stellt dagegen den politischen Liedermacher Mani Matter ins Zentrum. Um jedoch den politischen Gehalt seiner Chansons beurteilen zu können, bedarf es grundsätzlich einer wirkungsgeschichtlichen Analyse:

Gerade im Hinblick auf politische Lyrik kann man deshalb nicht eigentlich vom Text, sondern nur von verschiedenen Textrealisaten sprechen, was der Interpretation die Aufgabe stellt, das synchrone historisch-soziale System zu rekonstruieren, in dem der jeweilige Informationsaustausch stattfindet.[22]

Die meisten Chansons von Matter stammen aus den Sechziger Jahren und dem Beginn der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Eine Zeit, die sogar die Schweiz in Bewegung versetzte und schliesslich zu einem umgreifenden gesellschaftlichen Wandel führte. Mani Matters politische Chansons mussten folglich anders auf sein damaliges Publikum wirken, als sie es auf eine heutige Zuhörerschaft tun. Ist das so? Mit dem Blick auf die Chansontexte und ohne dies mit historischen Quellen zu belegen, behaupte ich nein.

Die vielfältige Interpretierbarkeit und die Verwendung von ‚zeitüberdauernd’ politischen Stoffen tragen dazu bei, dass Matters Chansons nicht ‚Gefangene ihrer Zeit’ blieben und somit auch im heutigen gesellschaftspolitischen Kontext der Schweiz noch Aktualität – vor allem: dieselbe Aktualität – besitzen und ungebrochen rezipiert werden. Ungerechtigkeit und Zusammenleben in der Gesellschaft, Prinzipien der Demokratie, kurz die Grundkonflikte, die sich der Schweizer Bevölkerung stellen, blieben und bleiben, wenn auch in wechselnden Outfits, in ihrem Kern dieselben. Matter hat sich diesen zeitlosen Themen auf adäquate Weise angenommen und Geschichten erfunden, die sich durch klare moralische Intentionen, aber relativ offene Projektionsmöglichkeiten auszeichnen. Seine politischen Chansons sind weder zeitlich, örtlich, noch durch die Figuren determiniert und damit von einer historischen Transzendenz. Dabei ist Matters Vorgehensweise der politischen Demaskierung eine argumentativ analysierende und keine emotional-pathetisch propagierende. Nach Hinderer ist dies ein Kriterium, welches politischer Dichtung eine zeitüberdauernde Rezeption ermöglicht:

Es versteht sich von selbst, dass gerade solche Exempel, die die emotionalen Strategien wählen, später seltener das ‚abstandhaltende Zuhören’ vertragen als Texte, welche kritisch und rational Sachverhalte analysieren.[23]

[...]


[1] So der Untertitel der Monographie «Mani Matter» von Christine Wirz (2002).

[2] Hammer (1991), S. 15.

[3] Das grosse Bertelsmann Lexikon 2001. München: Bertelsmann Lexikon Verlag, 2000. (CD-Rom)

[4] Lexikon der Politik (1998), S.488.

[5] Ebd., S.489. Hervorhebungen von mir, M.Z.

[6] Meyer (2002), S. 29.

[7] Ebd., S. 32.

[8] Ebd., S. 30.

[9] Bis auf eine einzige Ausnahme: Die «ballade vom nationalrat hugo sanders» ist nachweislich als eine Auftragsarbeit ausgehend vom Komitee für das Frauenstimmrecht belegt. Matter wurde gebeten, für die bevorstehende Abstimmung über das Frauenstimmrecht (1971) seine Meinung zum Thema in einem Chanson kundzutun. Herausgekommen ist die «ballade vom nationalrat hugo sanders», welche zwar vordergründig nichts mit der Frauenstimmrechtsdebatte zu tun hat, aber implizit eine scharfsinnige Stellungnahme des Autors zum Thema beinhaltet. Mehr dazu in Kapitel 1.3.

[10] Meyer (2002), S. 32.

[11] Ebd.

[12] Stephan, Inge: Johann Gottfried Seume. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Spätaufklärung. Stuttgart: 1973. S. 2; zit. n. Meyer (2002), S. 33.

[13] Meyer (2002), S. 24.

[14] Vgl. Meyer (2002), S.33f.

[15] Hammer (1991), S. 109ff.

[16] Ebd., S. 110.

[17] Ebd.

[18] Erste Anm. des Autors: In dieser Seminararbeit wird bei den Chansontiteln die Quelle der Chansontexte angegeben. Zitierte Textstellen werden daher – mit Vermerk auf den Quellennachweis bei der vorhergehenden Nennung des Chansontitels – nicht mehr mit einem separaten Quellennachweis versehen. Die Quellennachweise benutzen folgende Sigle:

- Matter, Mani: Us emene lääre Gygechaschte. Berndeutsche Chansons. 26. Aufl. Düsseldorf u. Zürich: Benziger, 2001. [= Sigle: UlG]
- Matter, Mani: Warum syt dir so truurig? Berndeutsche Chansons. 15. Aufl. Düsseldorf u. Zürich: Benziger, 2000. [= Sigle: Wst]
- Matter, Mani: Einisch nach emne grosse Gwitter. Berndeutsche Chansons. 4. Aufl. Düsseldorf u. Zürich: Benziger, 2001. [= Sigle: EgG]

Zweite Anm. des Autors: Um mir beim Aufzeigen der Klassifizierungsschwierigkeiten von Matters Chansons in politische und unpolitische nicht schon beim ersten problematischen Textbeispiel die Finger zu verbrennen, habe ich mit «hemmige» ein Lied gewählt, das Mani Matter selber als eindeutig politisch deklariert hat. Vgl. Hohler (1992), S. 90.

[19] Hohler (1992), S. 36.

[20] Hervorhebung von mir, M.Z.

[21] Hinderer (1978), S. 17.

[22] Hinderer (1978), S. 25.

[23] Ebd., S. 28.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Mani Matter - ein politischer Chansonnier?
Hochschule
Université de Fribourg - Universität Freiburg (Schweiz)  (Seminar für Neue Deutsche Literatur)
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
33
Katalognummer
V23939
ISBN (eBook)
9783638269407
Dateigröße
534 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Mani, Matter, Chansonnier
Arbeit zitieren
Markus Züger (Autor:in), 2002, Mani Matter - ein politischer Chansonnier?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/23939

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