Narrative Verfahren zur Entfaltung von Milieu und Atmosphäre in Zolas L'Assomoir


Seminararbeit, 2003

15 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Theorien zum Chronotopos-Begriff
2.1 Chronotopos nach Lotman
2.1 Chronotopos nach Bachtin

3 Überblick über die narrativen Verfahren

4 Wichtige Chronotopoi
4.1 Der Chronotopos Paris und seine Straßen – Vereinnahmender Moloch
4.2 Der Chronotopos Mietshaus – Das Leben der Arbeiter in Armut
4.3 Der Chronotopos Laden – Spiegelbild von Gervaises Entwicklung
4.4 Der Chronotopos L’Assomoir – Alkohol als Bedrohung

5 Schlußbetrachtung

Bibliographie

1 Einleitung

Emile Zolas L’Assomoir ist der erste Roman des Zyklus Les Rougon-Macquart, der ausschließlich in einem proletarischen Milieu spielt. Er handelt von der Wäscherin Gervaise, die in Paris mit ihrem Ehemann ein kurzes Glück erlebt. Als Coupeau jedoch nach einem Arbeitsunfall alkoholabhängig wird, zerbricht die Protagonistin an ihrem Schicksal und stirbt schließlich vollkommen verarmt unter einer Treppe.

Der Autor verwendet in seinem Werk zahlreiche narrative Verfahren zur Entfaltung von Milieu und Atmosphäre. Ziel der Hausarbeit ist es, diese Verfahren herauszuarbeiten und zu untersuchen, wie Zola mit ihrer Hilfe unterschiedliche Atmosphären erzeugt. Eine wichtige Rolle spielen hierbei die verschiedenen Räume, die Chronotopoi, die mehrere Funktionen haben. Daher werde ich zu Beginn meiner Hausarbeit zwei Theorien zum Chronotopos-Begriff vorstellen, nämlich die von Lotman und die von Bachtin. Anschließend möchte ich einen Überblick über die wichtigsten narrativen Verfahren geben, die der Autor in seinem Roman L’Assomoir verwendet. Ich werde danach zeigen, wie mit ihrer Hilfe Atmosphäre erzeugt wird, und zwar anhand von vier Räumen. Hierfür habe ich zunächst Paris und seine Straßen ausgewählt. Die Stadt ist das übergreifende Milieu, in das die Handlung eingebettet ist und das die Figuren prägt. Desweiteren werde ich das Mietshaus beschreiben, in dem die Hauptperson Gervaise die meiste Zeit wohnt. Hier werden die schlechten Lebensbedingungen der Arbeiter im 19. Jahrhundert besonders deutlich. Als nächstes stelle ich den Laden von Madame Coupeau vor, der sich im Laufe des Buches ändert. Ich habe ihn ausgewählt, weil er, zumindest zu Beginn, einer der wenigen positiv beschriebenen Chronotopoi ist. Als letztes möchte ich noch auf die Kneipe L’Assomoir eingehen. Man sieht schon daran, dass sie gleichnamig mit dem Titel ist, dass sie eine zentrale Rolle spielt. Sie steht symbolisch für den Alkohol und stellt dessen Bedrohung dar. Zum Schluss werde ich die Thematik behandeln, welche Auswirkungen es hat, dass Zola in jedem Raum mit den gleichen Verfahren arbeitet. Es stellt sich die Frage, ob dadurch nicht die Gefahr besteht, dass der Roman für den Leser langweilig wird.

2 Theorien zum Chronotopos-Begriff

2.1 Chronotopos nach Lotman

Raum ist: die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u dgl). (Lotman, 1993: 312)

Das wichtigste Merkmal eines Raumes ist nach Lotman die Grenze. Ein Raum wird in zwei disjunkte Teilräume geteilt. Die Grenze, die die beiden Räume teilt, ist grundsätzlich unüberwindbar, es gibt jedoch in der Regel mindestens eine Figur, der es möglich ist sie zu überschreiten (der „Held“). Lotman vertritt die These, dass ein Roman erst dadurch wertvoll wird, dass die Figuren Grenzen überschreiten. Gemäß seiner Theorie können in der Kunst und Literatur räumliche Relationen genutzt werden, um andere, nicht räumliche, zum Beispiel moralische Dinge, darzustellen. Die Räume haben für Lotman also auch eine wertende Funktion. So steht beispielsweise ein Redner nicht nur räumlich erhöht auf einem Podium, sondern auch wertbezogen, da er in dem Moment, in dem er spricht und die anderen zuhören, die zentrale Rolle einnimmt.

2.1 Chronotopos nach Bachtin

Laut Bachtin ist ein Chronotopos ein bedeutungsvolles Raum-Zeit-Gefüge in literarischen und künstlerischen Texten. Raum und Zeit verschmelzen zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen: Durch die Beschreibung des Raums wird die Zeit deutlich. Der Chronotopos ist kulturspezifisch, genrespezifisch und kulturhistorisch wandelbar. Er hat immer einen emotional wertmäßigen Aspekt. Der Chronotopos ermöglicht es, Szenen lebendig werden zu lassen. Er ist die Grundlage, auf der die Ereignisse sich entwickeln. Die gestalterischen Mittel bekommen eine große Bedeutung. Durch den Chronotopos können wichtige Charakteristika der historischen Wirklichkeit gezeigt und künstlerisch dargestellt werden. Reale und dargestellte Welt sind voneinander zu trennen, allerdings gibt es auch eine Verbindung zwischen den beiden: Der Autor, der aus der realen Welt kommt, lässt diese in sein Werk einfließen und wertet sie dadurch. Sowohl Bachtin, als auch Lotman betonen also die wertende Funktion des Raumes.

3 Überblick über die narrativen Verfahren

- Wiederkehrende semantische Wortfelder
- Schmutz, Dreck
- Zerfall
- Tod/Krankheit
- Enge/Gefangensein
- Farben
- Metapher
- Vergleich
- Synästhesie
- Personifizierung
- Animalisierung, Verdinglichung

4 Wichtige Chronotopoi

4.1 Der Chronotopos Paris und seine Straßen – Vereinnahmender Moloch

Paris ist ein sehr wichtiger Chronotopos, der in vielen von Zolas Romanen eine große Rolle spielt. Die Stadt ist ein übergreifendes Milieu, das die Protagonisten prägt. Außerdem steht sie für die Industrialisierung und stellt somit den Rahmen des ganzen Romanzyklus dar.

Im Roman L’Assomoir werden Paris und seine Straßen an mehreren Stellen beschrieben. Zum ersten Mal gleich in Kapitel eins, als Gervaise aus dem Fenster des Hotel Boncœur schaut, um nach Lantier Ausschau zu halten, der in der Nacht nicht heimgekommen ist. Der Leser erhält einen ersten Eindruck von „Zolas Paris“. Dieser erste Eindruck ist durch und durch negativ. Die Motive, beziehungsweise Wortfelder Tod/Krankheit sind stark vertreten und erzeugen eine düstere Atmosphäre: tabliers sanglants; bêtes massacrées; des cris d’assassinés. Vom Fenster aus sieht Gervaise direkt auf ein Schlachthaus und auf ein Hospital. Diese stehen für den Tod von Tieren beziehungsweise für den Tod/das Leid von Menschen. Das verstärkte Auftreten dieses Themas weckt beim Leser eine ungute Vorahnung bezüglich des Schicksals der Hauptperson.

Es werden verschiedene Sinne angesprochen. Neben dem Sehsinn auch der Geruchssinn (Le vent apportait une puanteur par moment, une odeur fauve de bêtes massacrées) und das Gehör (Elle entendait parfois des cris d’assassinés). Aufgrund der Synästhesie nimmt der Leser mit allen Sinnen am Pariser Morgen Teil. Durch das indirekte Ansprechen entsteht die unangenehme Atmosphäre nicht nur als Bild, sondern sie wird riech- und hörbar und somit verstärkt.

Zola verwendet viele Begriffe aus der Wortgruppe Schmutz: Er erwähnt finstere, durch Feuchtigkeit und Schmutz schwarze Ecken (les coins sombres, noirs d’humidité et d’ordure) und Unrat in den Gossen. Das häufige Auftreten dieser Wortfelder verstärkt die Trübsinnigkeit der Szene.

Gervaise sieht Arbeiter durch die Straßen ziehen. Diese werden animalisiert, sie werden gleichgesetzt mit Tieren: le flot ininterrompu d’hommes, de bêtes, de charrettes. Weiterhin werden sie als Herde beschrieben: un piétinement de troupeau. Hiermit verdeutlicht Zola, wie wenig Wert ein Arbeiter im 19. Jahrhundert hatte. Auch auf die schlechten Lebensbedingungen dieser Gesellschaftsschicht wird angespielt. Häufig mussten sie menschenunwürdig und wie Tiere leben. Zudem werden sie verdinglicht: Sie werden mit Karren und mit einem Fluss gleichgesetzt (le flot ininterrompu d’hommes, de bêtes, de charrettes). und immer als Masse beschrieben: la cohue; le troupeau; la foule. Sie bekommen sogar eine einheitliche Farbgebung: Cette foule, de loin, gardait un effacement plâtreux, un ton neutre, où dominaient le bleu déteint et le gris sa le. Nur der, der aus der Masse heraustritt, kann einzeln auffallen: par moments, un ouvrier s`arrêtait… Zola verwendet als weiteres Stilmittel das Verfahren Pars pro Toto: Die Arbeiter werden besonders durch ihre Kleidung beschrieben: On reconnaissait les serruriers à leurs bourgerons bleus, les maçons à leurs cottes blanches, les peintres à leurs paletots; le flot des blouses descendant des hauteurs avait cessé. Hiermit wird erneut ihre Wertlosigkeit betont. Zu Zeiten der Industrialisierung sollte der Mensch nur noch zum Arbeiten existieren. Er wurde funktionalisiert; in Zolas Beschreibung erkennt man an der Arbeitskleidung, welche Funktion ein Mensch ausübt. Man merkt aber auch, dass dieses der Arbeit gewidmete Leben die Menschen krank macht: Es werden schmächtige junge Leute mit Rändern unter den Augen erwähnt und kleine alte Männer mit bleichen, von den langen Bürostunden verbrauchten Gesichtern. Beim Leser wird Mitleid ausgelöst.

Paris wird antropomorphisiert, es wird wie ein Monster dargestellt, das die Arbeiter verschlingt: Le grondement matinal de Paris; la face tendue vers Paris, qui, un à un, les dévorait. Hierdurch wirkt die Stadt stark bedrohlich. Der Autor verdeutlicht, dass sie ein schlechter Ort zum Leben ist und den Menschen schadet. Außerdem zeigt er den Untergang der Menschlichkeit in der Industrialisierung, da Paris als Symbol der Industrialisierung die Menschen „verschlingt“.

Dieser erste Eindruck von der Stadt führt den Leser in Zolas diskursive Art der Erzeugung von Atmosphäre ein. Er verdeutlicht das Menschenbild dieser Zeit und erweckt böse Vorahnungen beim Leser.

Im fünften Kapitel steht Gervaise auf der Schwelle ihres Ladens und schaut hinaus. Die Rue de la Goutte-d’Or wird an dieser Stelle ambivalent beschrieben. Als die Wäscherin nach links schaut, sieht sie die friedliche, menschenleere Straße, wo sich Frauen leise an ihren Türen unterhalten. Zola zeichnet hier ein friedvolles, idyllisches Bild. Rechts jedoch sind viele Wagen und Menschen zu sehen. Letztere werden wieder verdinglicht, als Masse bezeichnet und damit entwertet: Un continuel piétinement de foule, qui refluait et faisait de ce bout un carrefour de cohue populaire. Dieses Bild wirkt nun gar nicht mehr friedvoll. Gervaise jedoch nimmt nur die positiven Dinge war: Gervaise aimait la rue; des chats superbes et tranquilles ronronnaient. Der Leser allerdings spürt deutlich, dass das Viertel auch negativ beschrieben wird: Die Straßen haben grobes, holpriges Pflaster und sind voller Löcher. Auf den schmalen Bürgersteigen, die von abschüssigen Schotterstellen unterbrochen werden, drängen sich Menschenmengen (les cahots de camions dans les trous du gros pavé bossué, les bousculades des gens le long des minces trottoirs, interrompus par des cailloutis en pente raide). An dieser Stelle wird wieder Gervaise’ Naivität ausgedrückt: Sie sieht nur die positiven Seiten und ist blind für die Armseligkeit der Straße. Besonders deutlich wird die Ambivalenz in folgendem Satz: Un fleuve étrange et vivant, dont la teinturerie de la maison colorait les eaux des caprices les plus tendres au milieu de la boue noire. Diese Art der Beschreibung der Rue de la Goutte-d’Or steht symbolisch für die Ambivalenz ihrer Bewohner, das heißt die Ambivalenz des sozialen Umfeldes von Gervaise. Die Boche oder die Lorilleux beispielsweise tun freundlich und zuvorkommend, aber in Wahrheit sind sie missgünstig, intrigant und nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Der Schlusssatz dieses beschreibenden Abschnitts weckt beim Leser ein unangenehmes Gefühl und eine ungute Vorahnung: Les balanciers de deux ou trois dizaines de coucous tout petits battaient à la fois, dans la misère noire de la rue et le vacarme cadencé de la maréchalerie. Das Ticken der Uhren und der Takt der Hufschmiede sind Zeichen dafür, dass die gute Zeit von Gervaise bald abgelaufen sein wird.

Zum letzten Mal wird Paris mit seinen Straßen in Kapitel zwölf erwähnt. Gervaise ist am Ende: Sie hat kein Geld, nichts zu essen und ist alkoholabhängig. Verzweifelt irrt sie durch die Straßen und versucht, sich zu prostituieren. Im Gegensatz zu ihr, mit der es immer weiter bergab geht, hat sich das Viertel verschönert: Ce quartier, où elle éprouvait une honte, tant il embellissait. Durch diese Opposition erscheint der Niedergang von Gervaise noch deutlicher und schlimmer. Allerdings wird Paris auch hier wieder ambivalent beschrieben. Neben den Verschönerungen ist viel Elend zu sehen: Viele alte Häuser, an deren Fenster Lumpen trocknen, stehen noch (... des masures branlantes restaient debout; entre les façades sculptées, des enfoncements noirs se creusaient, des chenils bâillaient, étalant les loques de leurs fenêtres). Hierdurch macht Zola klar, dass es nur Wenige sind, die von der Industrialisierung profitieren, nämlich die Reichen. Für alle anderen vergrößert sich das Elend. Er sagt explizit: Sous le luxe montant de Paris, la misère du faubourg crevait et salissait ce chantier d’une ville nouvelle, si hâtivement bâtie.

Die Stadt wird wieder sehr bedrohlich und düster dargestellt. Sie erscheint unendlich groß: C`était un carrefour immense débouchant au loin sur l`horizon, par des voies sans fin, grouillantes de foule, se noyant dans le chaos perdu des construction. Der Autor vergleicht die Straßen mit düsteren Gedärmen (des boyaux sombres); sie werden personalisiert. Paris wirkt dadurch montrös und angsteinflössend.

Durch Begriffe aus den Wortfeldern Schmutz und Tod schafft Zola eine unangenehme Atmosphäre: Die Farbe der Dämmerung nennt er schmutziggelb (sale couleur jaune), er schreibt, diese Farbe mache einem Lust zu sterben (une couleur qui donne envie de mourir). Der Leser empfindet eine trostlose und trübe Stimmung. Ein Trompeter spielt ein trauriges Lied und auch Gervaise fühlt sich einsam und verlassen. Der Autor macht wieder deutlich, dass das Arbeiterleben in der Stadt den Menschen nicht gut tut und sogar menschenunwürdig ist (La vie des rues semble laide). Die Arbeiter werden nur als Masse (foule, cohue) und durch ihre Arbeitskleidung (Pars pro toto) beschrieben: Un pullulement toujours croissant de blouses et de bourgerons couvrait la chaussée. Sie werden animalisiert: La triste musique qui semblait accompagner le piétinement du troupeau, les bêtes de somme se traînant, éreintée. Zola zeigt hier erneut, wie wenig diese Menschen wert waren.

Gervaise erblickt schließlich das Hotel Boncœur. Es ist jetzt verlassen und total zerfallen: Die Laterne ist zerbrochen, die Fensterläden hängen losgerissen herunter und alles verfault und zerbröckelt. Die Wäscherin erinnert sich an die Zeit vor 20 Jahren, als sie noch jung und unbeschwert war. Zu Beginn ihrer Beziehung zu Coupeau lebte sie in diesem Haus; damals hatte sie noch Träume und Wünsche, war ehrgeizig und zuversichtlich. Doch genauso wie das Hotel jetzt zerfallen ist, sind auch ihre Träume nicht in Erfüllung gegangen. So wie es mit dem Haus bergab gegangen ist, ist es auch mit ihr bergab gegangen. Diesen Gedanken kann Gervaise nicht ertragen: La vue de l’hôtel lui fit mal, elle remonta le boulevard du côté de Montmartre.

Sie geht weiter und erreicht die Schlachthäuser und das Hospital. Hier dominiert wieder das Motiv des Todes: Die Höfe sind feucht von Blut, die Fassaden werden als aufgeschlitzt (eventrée) bezeichnet. Das Tor des Hospitals wird als Totentür (la porte des morts) und mit einem Grabstein (pierre tombale) verglichen.

Bei der Beschreibung der Straßen von Paris werden neben dem Sehsinn auch wieder der Geruchssinn (La façade éventrée montrait des cours sombres, puantes) und der Hörsinn (la triste musique) angesprochen. Der Leser kann sich dadurch besonders gut in die Situation von Gervaise hineinversetzen, die durch das nächtliche Viertel läuft.

Schließlich hört sie einen Zug vorbeifahren. Sie ahnt, dass er auf das Land fährt. Die Wäscherin wünscht sich, mitfahren zu können, sie möchte auf dem Land ein neues Leben beginnen, möchte raus aus dem Elend (en dehors de ces maisons de misère et de souffrance). Der Autor will hier erneut zeigen, dass die Stadt Paris, als Symbol für die Industrialisierung, den Menschen schadet (im Gegensatz zum Land).

Gervaise wandert weiter durch die Straßen. Wieder taucht das Thema Tod auf, was die Atmosphäre noch mehr verdüstert: Et la nuit était très sombre, morte et glacée. Auf den Bürgersteigen stirbt das fröhliche Treiben: Sur ce large trottoir sombe et désert, où venaient mourir les gaietés des chaussées voisines, des femmes, debout, attendaient. Die Prostituierten werden mit Gespenstern verglichen (... avec une lenteur vague d’apparition), es ist von ihren fahlen Masken die Rede (leur masque blafard).

Da Madame Coupeau keinen Freier findet, läuft sie weiter und sieht plötzlich wieder die Schlachthäuser und das Krankenhaus vor sich. Die Beschreibungen an dieser Stelle ähneln denen im ersten Kapitel. Damals hatte Gervaise, obwohl sie auch unglücklich war, ihr ganzes Leben noch vor sich. Sie hatte noch Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Jetzt wird der Protagonistin klar, dass ihr Leben zu Ende ist, dass ihre Hoffnungen sich nicht erfüllt haben. Sa vie avait tenu là. Ihr Leben hat sich zwischen Schlachthöfen und Hospital abgespielt. Diese beiden unangenehmen Orte stehen symbolisch für alles Unglück, das der Hauptperson widerfahren ist.

4.2 Der Chronotopos Mietshaus – Das Leben der Arbeiter in Armut

Das Mietshaus der Rue de la Goutte-d’Or, in dem Gervaise den größten Teil des Romans lebt, wird an mehreren Stellen beschrieben.

Zum ersten Mal taucht es auf im zweiten Kapitel. Gervaise, die auf Coupeau wartet, steht vor dem Haus und betrachtet es. Es wird als ungewöhnlich groß beschrieben: Grand comme une caserne; immense pan de muraille; La maison paraissait d’autant plus colossale qu’elle s’élevait entre deux petites constructions basses, chétives, collées contre elle. Zur Straße hin hat das Mietshaus fünf Stockwerke mit je 15 Fenstern, im Erdgeschoss befinden sich vier Läden. Überall sind Zeichen des Verfalls und der Vernachlässigung zu sehen. So sind zum Beispiel die Leisten der Jalousien zerbrochen (... les persiennes noires, aux lames cassées...).

Es kommen Begriffe aus dem Wortfeld Schmutz vor: une gargote graisseuse; ses flancs non crépis, couleur de boue. Zola vergleicht das Haus mit einem Block Mörtel, der im Regen verfault und abbröckelt (..., pareille à un bloc de mortier gâché grossièrement, se pourrissant et s’émietant sous la pluie) und seine Seiten mit Gefängnismauern (..., ses flancs,..., d’une nudité interminable de murs de prison). Die Beschreibung der Vorderfront des Hauses hat auf den Leser eine abstoßende Wirkung. Man empfindet das Haus als hässlich und durch seine enorme Größe auch bedrohlich. Dieses Gefühl verstärkt sich durch den Vergleich mit einem Gefängnis.

Gervaise betritt dann den Innenhof und betrachtet das Haus von dieser Stelle aus. Hier gibt es sechs Stockwerke; die vier Fassaden umschließen den Innenhof: ... Quatres façades régulières enfermant le vaste carré de la cour. Durch das Verb enfermer verstärkt Zola seinen Vergleich mit einem Gefängnis. Dem Leser wird klar, dass in dem Mietshaus arme Leute unter schlechten Bedingungen leben: Aus den Fenstern hängen Matratzen und Kleider zum Trocknen, und es wird auch explizit gesagt, dass die Wohnungen viel zu klein sind: Les logements trop petits crevaient au-dehors, lâchaient des bouts de leur misère par toutes les fentes. Dieser Eindruck des Elends wird hervorgehoben durch die sichtbaren Zeichen des Verfalls und der Armut: fonte rouillée; les fenétres sans persiennes montraient des vitres nues, d’un vert glauque d’eau trouble. Auch der Wortbereich Schmutz ist vertreten: des vitrages noirs de poussière; (la cour) salie de flaques d’eau teintée, de copeaux, d’escarbilles de charbon. Der Leser kann erkennen, dass das Mietshaus ein Haus von Arbeitern ist; das Schmiedefeuer eines Schlossers ist zu sehen, und man hört das Hobeln eines Tischlers. Zola verwendet zur Beschreibung des Hauses viele Farbadjektive, vor allem düstere und dunkle Farben: les persiennes noires; des murailles grises; lèpre jaune; vert glauque d’eau trouble. Diese Farben, zusammen mit den Wortfeldern Schmutz und Verfall, erzeugen eine unangehme, bedrückende Atmosphäre.

Das Haus wird in dieser ersten Beschreibung personifiziert: Gervaise fühlt sich, als sie im Hof steht, wie mitten in einem lebenden Organ (Gervaise...se sentant au milieu d’un organe vivant), und sie kommt sich vor, als würde eine riesige Gestalt vor ihr stehen (... comme si elle avait eu devant elle une personne géante). Diese Antropomorphisierungen lassen das Gebäude auf den Leser noch bedrohlicher wirken.

Es werden verschiedene Sinne angesprochen (Synästhesie). Neben dem Sehsinn auch der Geruchssinn (elle respirait cette odeur fade des logis pauvres, une odeur de poussière ancienne, de saleté rance) und der Hörsinn (on entendait plus loin des coups de rabot d‘un menuisier). Mit Hilfe dieses Verfahrens kann sich der Leser besonders gut in die Situation der jungen Frau, die den Mietblock betrachtet, hineinversetzen.

Im Gegensatz zu dem Leser findet Gervaise das Haus nicht hässlich. Sie sieht Stellen voller Fröhlichkeit, beispielsweise einen Vogelkäfig oder Blumen. Die junge Frau sucht sich sogar ein Fenster aus, hinter dem sie gerne wohnen würde. Dies zeigt ihre Naivität. Sie lässt sich von ein paar Blumen blenden und sieht nicht die Zeichen des Verfalls und die Armut der Bewohner.

Das Mietshaus kommt noch einmal vor im Kapitel zwei, als Gervaise und Coupeau, die mittlerweile verlobt sind, auf dem Weg zu den Lorilleux sind. Sie treten in das Haus ein und laufen durch das Treppenhaus nach oben. Auch hier dominieren Begriffe aus dem Wortfeld Schmutz: l’escalier B, gris, sale; la rampe et les marches graisseuses; des portes...noircies à la serrure par la crasse des mains. Der Leser fühlt sich durch diese Beschreibungen unangenehm berührt und abgestoßen.

Es werden wieder verschiedene Sinne angesprochen: Der Geruch von Zwiebeln mischt sich mit dem Gestank aus den Abflussbecken, man kann das Klappern von Geschirr, Kinderweinen und Stimmen aus den Wohnungen hören. Durch die Synästhesie kann sich der Leser noch besser in die Situation von Gervaise, die durch das Treppenhaus geht, hineinversetzen. Auch das Innere des Hauses wird negativ beschrieben. Von Fröhlichkeit ist nichts mehr zu sehen, man hört kein Lachen mehr, sondern Kinderweinen und Streitereien. Durch die offenen Türen sieht die Protagonistin die Armut der Menschen und auf welch engem Raum sie leben. Auf den Leser macht das Treppenhaus einen bedrückenden und düsteren Eindruck. Auch von Gervaise’ Begeisterung ist nichts mehr zu spüren. Durch die vielen Treppen gerät sie schnell außer Atem, und sie fühlt sich, als würde ihr Kopf platzen (Ce mur qui tournait toujours, ces logements entrevus qui défilaient, lui cassaient la tête). Im sechsten Stock beugt sich die Wäscherin über das Geländer und schaut nach unten. Da dringen ihr die Gerüche und das ungeheure Leben des Hauses in einem einzigen Atemzug entgegen, als stünde sie am Rande eines Abgrundes (...les odeurs, la vie énorme et grondante de la maison, lui arrivaient dans une seule haleine, battaient d’un coup de chaleur son visage inquiet, se hasardent là comme au bord d’un gouffre). Das Haus wird an dieser Stelle wieder personifiziert, es hat ein Leben und einen Atem, und es wirkt dadurch sehr bedrohlich. Auch der Vergleich mit dem Abgrund wirkt erschreckend. Er antizipiert ein schlimmes Schicksal. Der Leser ahnt, dass Gervaise in einen Abgrund stürzen wird.

[...]

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Narrative Verfahren zur Entfaltung von Milieu und Atmosphäre in Zolas L'Assomoir
Hochschule
Universität Mannheim  (Romanisches Seminar)
Note
2,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
15
Katalognummer
V24375
ISBN (eBook)
9783638272643
Dateigröße
538 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Narrative, Verfahren, Entfaltung, Milieu, Atmosphäre, Zolas, Assomoir
Arbeit zitieren
Christina Döpfert (Autor:in), 2003, Narrative Verfahren zur Entfaltung von Milieu und Atmosphäre in Zolas L'Assomoir, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24375

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