In dem dieser Arbeit vorausgegangenen Seminar wurde sich - abgesehen von einem kurzen, einführenden Abstecher zu Augustinus - ausschließlich mit Überlegungen von Philosophen des 20. Jh. zum Thema ‘Zeit’ beschäftigt. So lasen wir u.a. Texte von Hans Reichenbach, John und Ellis McTaggart, Michael Dummett, William James und John N. Findlay und versuchten anhand ihrer die allgemeine Problematik des ‘Sprechens über die Zeit’ und die besonderen Schwierigkeiten der Umsetzung umgangssprachlicher Aussagen in formalen Sprachen, wenn dabei die Vor- und Nachzeitigkeit ausgedrückt werden muß, zu verstehen und die grundsätzlichen Argumente der Diskussionen über das Sein bzw. die Irrealität der Zeit, mitsamt den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Zeitmessung, nach zu vollziehen. Niemals hinterfragten wir jedoch, auf welcher historisch gewachsenen Basis die behandelten Autoren standen und welche geistesgeschichtlichen Entwicklungen ihren Überlegungen vorausgegangen waren.
Die Theorien der sich mit dem Thema Zeit beschäftigenden heutigen Philosophen sind jedoch meines Erachtens eindeutig durch die in unserer Kultur allgemeine Vorstellung von der Zeit beeinflußt. So setzen
z.B. alle herangezogenen Autoren voraus, daß es einen Übergang von der Vergangenheit über die Gegenwart zu einer Zukunft gibt und streiten nur über die begriffliche Fassung und physikalische
Ausdehnung dieser Aspekte, ohne den Zeitstrang ansich in Frage zu stellen. Ich möchte mit dieser Arbeit ebenfalls nicht die Linearität der Zeit widerlegen, halte es jedoch für notwendig, die geschichtliche
Entwicklung unserer Zeitskala zu reflektieren, um die allzu oft als selbstverständlich genommene Skalierung der Zeit in ihrer Willkürlichkeit deutlich zu machen. Nur durch das Bewußtsein dieser historischen Gewachsenheit kann verhindert werden, daß modernen Überlegungen einfach
unausgesproche Voraussetzungen als a priori gegeben zu Grunde gelegt werden, die nicht Ergebnis physikalischer oder psychologischer Untersuchungen sind, sondern einem gesellschaftlich bedingten
Bedürfnis nach Synchronisation von astronomischen Gegebenheiten, religiösen Vorstellungen, historischer Ereignisse und individuellen Verhaltens entsprangen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Synchronisation von Kalender und Astronomie
- Zyklische Himmelserscheinungen als Grundlage des Kalenders
- Der Tag
- Der Monat
- Das Jahr
- Belege für die Orientierung an den Himmelskörpern
- Abweichung des Kalenderjahres vom astronomischen Jahr
- Problem der nichtganzzahligen Tagesanzahl des Sonnenjahres
- Problem der nicht ganzzahligen Anzahl von Mondumläufen des Sonnenjahres
- Kalender als Näherungsproblem
- Annäherungenmöglichkeiten des Kalenderjahres an das astronomische Jahr
- Orientierung am Mond (Lunare Kalender)
- Orientierung an Sonne und Mond (Lunisolare Kalender)
- Orientierung an der Sonne (Solare Kalender)
- Festigkeit des tradierten Kalendersystems
- Historische Entwicklung unseres Kalenders
- In der Tradition des römischen Kalenders
- Bis heute gültige gregorianische Kalenderreform
- Kalenderverwirrungen in der Folge der gregorianischen Reform
- Aussichtslose Reformvorschläge
- Bessere Lösung: Neuer Orthodoxer Kirchenkalender
- Anregungen zu Reformen aus der Wirtschaft
- Entwicklung einer langfristigen Jahreszählung
- Auffassung vom skalar-linearen Verlauf der Zeit
- Entstehende Distanz zur Vergangenheit beim Übergang von mündlich zu schriftlich geprägten Kulturen
- Von der zyklischen zur linearen Zeit
- Willkür unserer Datierung
- Festlegung der Epoche
- Historisch-chronologische Fixierung von Christi Geburt
- Unsicherheit unserer Zeitachse
- Fazit
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Willkürlichkeit historisch gewachsener Zeitvorstellungen, insbesondere im Kontext moderner Zeitphilosophie. Sie hinterfragt die lineare Zeitauffassung, die in unserer Kultur vorherrscht, und untersucht die historischen Entwicklungen, die zu dieser Vorstellung führten.
- Die Synchronisation von Kalender und Astronomie
- Die historische Entwicklung unseres Kalendersystems
- Die Entstehung der linearen Zeitauffassung
- Die Willkürlichkeit der Epochenwahl und der Datierung
- Die Bedeutung der historischen Gewachsenheit für unsere Zeitvorstellungen
Zusammenfassung der Kapitel
Im ersten Kapitel wird die Einleitung zur Arbeit gegeben, wobei der Fokus auf die allgemeine Problematik des Sprechens über Zeit liegt. Es wird auf die Vor- und Nachzeitigkeit eingegangen und die grundsätzlichen Argumente der Diskussionen über das Sein bzw. die Irrealität der Zeit betrachtet.
Im zweiten Kapitel geht es um die Synchronisation von Kalender und Astronomie. Es werden die zyklischen Himmelserscheinungen, die die Grundlage jedes Kalenders bilden, erläutert. Der Tag, der Monat und das Jahr als symbolische Einheiten werden in Bezug zu den natürlichen Vorbildern Erdrotation, Mondphasen und Sonnenumlauf gesetzt.
Das dritte Kapitel behandelt die Festigkeit des tradierten Kalendersystems. Die historische Entwicklung unseres Kalenders wird nachgezeichnet, wobei die Tradition des römischen Kalenders und die gregorianische Kalenderreform im Mittelpunkt stehen.
Im vierten Kapitel wird sich mit der häufig als zwingend erachteten Auffassung des skalar-linearen Zeitablaufs auseinandergesetzt. Es werden unterschiedliche Zeitverständnisse, die in verschiedenen Kulturen vorherrschen, verglichen und die Gründe für den Übergang von einem zirkulären zu einem linearen Zeitablauf untersucht.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit Themen wie Kalender, Astronomie, Zeitmessung, Zeitphilosophie, historische Entwicklung, lineare Zeit, Zeitvorstellungen, Synchronisation, Willkürlichkeit, Epoche, Datierung.
- Arbeit zitieren
- Andrea Dittert (Autor:in), 1998, Zur Zweifelhaftigkeit der Voraussetzung willkürlich gewählter und historisch gewachsener Zeitvorstellungen in den Arbeiten der modernen Zeitphilosophie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24407