Goethes "Stella" und Schlegels "Düval und Charmille" sind wichtige Werke im Hinblick auf die Gender Studies. Nicht nur, dass beide Werke von weiblicher Emanzipation und Selbstbestimmung handeln. Christiane Caroline Schlegel hat nämlich außerdem insofern als besonders emanzipiert zu gelten, als sie in einer Zeit, in der die meisten Frauen sie mit Tee trinken und sticken begnügen, selbst schriftstellerisch tätig wird. Die Abhandlung liefert einen Vergleich beider Werke.
Inhaltsverzeichnis
1) Charakterisierungen der weiblichen Protagonisten
2) Unterschiedliche Handhabung des Verlustes des Partners, charakterliche Voraussetzungen für Akzeptanz und Rezeption
3) Die Verhältnisse der Frauengestalten in den Stücken zueinander
4) Vergleich der beiden männlichen Protagonisten
5) Veranschaulichung des Umgangs der Protagonisten miteinander an ausgewählten Szenen
6) Der veränderte Schluss bei „Stella“ und die theoretische Möglichkeit einer Übertragung auf „Düval und Charmille“
7) Die Symbolik der Schauplätze bei „Stella“ und „Düval und Charmille“
8) Die Beziehungen der Protagonisten zu Gott, ihre religiösen Empfindungen
9) Die geschlechtsspezifische Rollenzuweisung der Protagonisten
10) Subjektive Beurteilung der Verhaltensweisen der weiblichen Protagonisten
11) Literaturnachweis
In meiner Hausarbeit möchte ich mich mit einem Vergleich der beiden Bürgerlichen Trauerspiele „Düval und Charmille“ von Christiane Caroline Schlegel und Goethes „Stella“ beschäftigen. Beide Stücke beruhen auf authentischen Fällen. Sowohl in „Düval und Charmille“ als auch in „Stella“ werden die aristotelischen Formprinzipien weitgehend erfüllt, beide Stücke sind fünfaktig, die Handlung passiert innerhalb von 24 Stunden und ist final auf den Schluss hin angelegt. Eine kleine Abweichung bildet lediglich die Tatsache, dass „Stella“ an zwei Schauplätzen spielt, nämlich im Posthaus und auf Stellas Anwesen, während bei „Düval und Charmille“ auch dieses Merkmal streng gehandhabt wird, laut Regieanweisung spielt sich das gesamte Stück in gleichbleibenden Räumlichkeiten ab.
Ich möchte anmerken, dass Goethe sein Stück zunächst mit „Ein Schauspiel für Liebende“ untertitelt hatte, dies jedoch später, aufgrund des veränderten Schlusses, in „Bürgerliches Trauerspiel“ umwandelte. Auf die Gründe hierzu möchte ich später noch eingehen.
1) Charakterisierungen der weiblichen Protagonisten
Auffällig ist die Parallelität der beiden Stücke in vielerlei Hinsichten, weniger in der Struktur der Handlung als in der Anlage der unterschiedlichen Charaktere. So könnte man die Stella ohne weiteres Amalie gleichsetzen, denn beide dringen in eine bestehende Ehe ein. Jedoch ergibt sich hier schon der erste Unterschied, denn Stella wähnt sich als einzige Frau im Leben Fernandos (bis zur Seite 431 ), während Amalie weiß, dass ihr Geliebter Düval mit Mariane verheiratet ist. Was Stella und Amalie jedoch wiederum eint, ist die wahre, reine Liebe zu ihren Geliebten, die ihr Verhalten gewissermaßen rechtfertigt.
Ebenso könnte man natürlich die Cäcilie mit Mariane vergleichen, die – rein äußerlich betrachtet - die Funktion als Ehefrau gemeinsam haben. Dennoch sind die beiden eher voneinander abgrenzbar als Amalie und Stella. Während Mariane zwar eine treusorgende Mutter ist, sich in ihr Schicksal fügt und gegen den sie physisch und psychisch misshandelnden Düval nicht aufbegehrt, wirkt Cäcilie unverwüstlicher, zum Leben entschlossen, auch nach durchlebten Schicksalsschlägen und gravierenden finanziellen Rückschlägen. Auch begegnet sie Fernando, obwohl sie ihn noch liebt, zunächst gleichgültiger, um sich selbst keine Blöße zu geben, was sie als starke Frau ausweist.
Zu erwähnen wäre da noch Lucie, die Tochter Cäcilies und Fernandos. Die Tatsache, dass das Kind der rechtmäßigen Ehe wohlauf ist, während Stellas Tochter Mina kurz nach der Geburt starb, könnte als Anspielung auf den fehlenden Segen Gottes in einer wilden Ehe angesehen werden.
2) Unterschiedliche Handhabung des Verlustes des Partners,
charakterliche Voraussetzungen für Akzeptanz und
Rezeption
Von den vier relevanten weiblichen Protagonisten der Stücke sind eigentlich nur drei mit dem vorübergehenden oder bleibenden Verlust des Partners konfrontiert. Die Ausnahme bildet hier Amalie, der Düval das ganze Stück über zugetan ist.
Im folgenden möchte ich einen Vergleich zwischen den Reaktionen der Figuren Stella, Cäcilie und Mariane anstellen. Der Veranschaulichung wegen werde ich meine Ausführungen um die Person der Postmeisterin erweitern.
Ebendiese nämlich geht mit dem Verlust ihres Mannes (sie ist Witwe) eher nüchtern und sachlich um. Auf Cäcilies Anspielung hin, sie scheine doch ziemlich getröstet (Seite 8[1] ) antwortet sie:
Postmeisterin. O Madame! Unsereins hat so wenig Zeit zu weinen, als
leider zu beten! Das geht Sonntage und Werkeltage. Wenn
der Pfarrer nicht manchmal auf den Text kommt oder man
ein Sterbelied singen hört – Karl, ein paar Servietten! deck
hier am Ende auf.
Besonders einschneidend wirkt hier der abrupte Übergang zwischen der Erinnerung an den verstorbenen Mann und so alltäglichen Dingen wie Servietten.
Auch mit der Aussage auf Seite 51 „Wenn ich wieder heiraten möchte, so wär’s nur darum; einer Frau fällt’s gar zu schwer, das Pack in Ordnung zu halten.“ , gibt die Postmeisterin Einblick in ihre Vorstellung vom Nutzen einer Ehe, die so gar nichts vom romantisch - verklärten Ehebild etwa der Stella oder der jungen Cäcilie (vgl. Seite 321) hat. Dadurch charakterisiert sie sich selbst als wenig emanzipiert, zumal ihre Vorstellung von Ehe auch durchaus den damaligen gesellschaftlichen Normen entspricht, nämlich Ehe primär zur Zeugung von Kindern, weniger um der Liebe willen. Man kann aber auch annehmen, dass die Postmeisterin sich eine Ehe aus Liebe als bürgerliche Frau aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen gar nicht leisten kann.[2]
Weiterhin nimmt die Postmeisterin die Stelle einer Vermittlerin ein, die die beiden neuen Gäste sogleich über die familiären Verhältnisse der Baronesse Stella informiert (S. 101 ). Auffällig sind dabei die typischen „Klatsch – und – Tratsch- einleitenden Floskeln“, die sie als, nun ja, eher kommunikative Persönlichkeit ausweisen, wie „Wenn Sie mich nicht verraten wollen, kann ich’s Ihnen wohl vertrauen“ (S. 101)[3] Die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wird, scheint sie zu genießen, denn beim Erzählen ist sie voll in ihrem Element, kommentiert reichhaltig und schmückt aus („Aber wie’s geht“, „man sagt“, „man zischelte einander in die Ohren“, „Sie war damals blutjung, nicht älter als sechzehn Jahr und schön wie ein Engel.“, Seite 9/101). Die Postmeisterin ist es auch, die Fernando über die Treue Stellas während der acht Jahre seiner Abwesenheit informiert („sie lebt wie eine Nonne“, S. 141).
Über Stellas Verlust weiß das ganze Dorf Bescheid, was zwar sicher an ihrer gesellschaftlichen Stellung liegt, jedoch glaube ich, dass, selbst, wenn Stella eine Bürgerliche wäre, das Dorf informiert wäre. Das lässt sich vielleicht damit erklären, dass Stella allen sofort vertraut. Dies wird vor allem deutlich am Beispiel Cäcilies: obwohl Stella Cäcilie und Lucie erst seit kurzem kennt, erzählt sie ihre gesamte Liebes – und Leidensgeschichte mit Fernando. Es weist Stella als naive, kindliche Natur aus, dass sie, damit nicht genug, den wildfremden Besuchern auch noch von ihrem Kind erzählt: „Und dann, auf einmal, das Grab meines Kindes zu meinen Füßen.“. Darauf meint Cäcilie bedauernd: „Sie hatten ein Kind?“ Stella scheint diese Anteilnahme zu brauchen, ja zu genießen, denn auf diese kleine Frage hin bricht ein Schwall von Gefühlen in ihr los. Diese Passagen sind stockend, und, was sie als besonders ausweist, durch Spiegelstriche untergliedert, was selbst dem Leser, der die theatralische Umsetzung nicht sieht, eine Ahnung von den Gefühlsregungen Stellas gibt. Der melancholische, gefühlsmäßig beinahe masochistische Eindruck Stellas beim Leser wird noch verstärkt, als Cäcilie sie auffordert, ihre „Gedanken von den traurigen Szenen [zu d. Vf.] wenden“, und Stella darauf antwortet:
Stella. Nein! Wohl, sehr wohl ist mir’s, dass mein Herz sich wieder
öffnen, dass ich alles losschwätzen kann, was mich so drängt! –
Ja wenn ich euch einmal anfange, von ihm zu erzählen, der mir
alles war! – der – Ihr sollt sein Porträt sehn! – sein Porträt –
O mich dünkt immer, die Gestalt des Menschen ist der beste Text
zu allem, was sich über ihn empfinden und sagen lässt.
Im weiteren Verlauf des Stückes wird deutlich, dass das Portrait Fernandos Stella quasi zu einer permanenten Präsenz Fernandos verhilft. Als Stella nämlich alles verloren glaubt und fliehen will, will sie Fernandos Portrait mitnehmen. Ihr Enthusiasmus für Fernando wird auch in der Tatsache deutlich, dass Stella Cäcilie, ihrer neuen Freundin, sofort das Portrait Fernandos zeigt.
Überhaupt nahm und nimmt Fernando in Stellas Leben einen derart hohen Stellenwert ein, dass Goethe es für angebracht hält, sie, sobald der Bediente sie allein gelassen hat, einen Monolog über den Verlust Fernandos halten zu lassen, der von wehmütigen Erinnerungen[4] geprägt ist („mein Herz an dem seinen glühte und ich mit bebenden Lippen seine große Seele in mich trank“, „mit „Wonnetränen“, S. 181).
Auch Cäcilie vermisst Fernando, jedoch ist sie reif genug, um nicht jedem Fremden ihre Lebensgeschichte zu erzählen, was an ihrem Alter (hier kommt der sprechende Name „Madame Sommer“ zum Tragen, Stella steht entsprechend für den Frühling), hauptsächlich jedoch, und an dieser Stelle möchte ich diese These Schulzes[5] ergänzen, an ihrer Persönlichkeit liegt. Aus Cäcilies Gespräch mit ihrer Tochter Lucie ist jedoch zu entnehmen, dass sie im Grund ähnlich empfindet wie Stella und auch gefühlsmäßig ähnlich veranlagt ist:
Lucie. Wo fänden Sie auch nicht Stoff, sich zu quälen?
Madame Sommer. Und wo nicht Ursache dazu? Meine Liebe, wie ganz
anders war’s damals, da dein Vater noch mit mir reiste; da wir die
schönste Zeit unseres Lebens in freier Welt genossen; die ersten
Jahre unserer Ehe!
Ein weiteres Indiz für Cäcilies ausgereifte Persönlichkeit findet sich in einer kleinen Regieanweisung. Als nämlich die Postmeisterin von Stellas Schicksal berichtet, äußert Cäcilie: „Ein Bild meines ganzen Schicksals!“, allerdings nur „vor sich“, also leise, um nichts von ihrer Geschichte preis zu geben. Stella an ihrer Stelle hätte der Postmeisterin sofort die ganze Geschichte erzählt. „Haltung bewahren“, so könnte, salopp ausgedrückt, Cäcilies Devise lauten. Dies zeigt sich vor allem an der Lüge, die Lucie, auf die Frage nach ihrem Vater hin, auftischen soll.
Madame Sommer. Lucie, ein Wort! (Die Postmeisterin entfernt sich.) Daß
du nichts verrätst! Nicht unsern Stand, nicht unser Schicksal.
Begegne ihr [Stell, d. Vf.] ehrerbietig.
Lucie. Lassen Sie mich nur! Mein Vater war ein Kaufmann, ist nach
Amerika, ist tot; und dadurch sind unsere Umstände – Lassen Sie
mich nur; ich hab das Märchen ja schon oft genug erzählt.
Bei Georg – Michael Schulz[6] wird folgende These aufgestellt: „Dieser Versuch, ihre Lebensumstände zu verheimlichen, soll wohl als Schwäche gelten.“ Ich würde dabei jedoch nicht unbedingt an Schwäche denken, zwar handelt es sich um mehr oder weniger rühmlichen Stolz, der aber durch das Bedürfnis nach Würde eines jeden Menschen gerechtfertigt wird. Auch aus der weiteren Anlage der Figur Cäcilie wird klar, dass Cäcilie als starke Frau beschrieben wird und dieser Stolz somit Teil ihres Charakters ist.
Wie sehr Cäcilie Fernando eigentlich braucht, ist aus dem Vergleich zweier Gesprächsteile ersichtlich, nämlich zum einen aus Fernandos Gespräch mit ihr auf Seite 501 und zum andern aus Cäcilies Äußerungen Lucie gegenüber auf Seite 24/251.
Cäcilie. [zu Fernando, d. Vf] Sie [Stella, d. Vf.] würde mich immer für unglücklicher
halten, wenn ich dich verließ’, als ich wäre; denn sie berechnete
mich nach sich.
Madame Sommer. Und der ist hier! Wird in ihre Arme sinken, in wenig
Minuten! – Und wir? - Lucie, wir müssen fort!
Die beiden Aussagen widersprechen sich teilweise, so mimt Cäcilie vor Fernando die Starke, leidet in Wahrheit aber genauso wir Stella, da sie es nicht ertragen könnte, Fernando in den Armen einer Anderen (nämlich Stella) zu sehen, und daher zuerst einer Begegnung mit Fernando zu entgehen sucht.
[...]
[1] Seitenangaben zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe. Stella. Ein Trauerspiel, hg. Phillip Reclam jun., Stuttgart 1998
[2] vgl. Pikulik, Lothar: Stella. Ein Schauspiel für Liebende. In: Goethes Dramen, hg. Walter Hinderer, Stuttgart 1992, Seite 101 sowie 103 („Erotische Freizügigkeit war ein Privileg des Adels“).
[3] Schulz, Georg Michael: Stella. In: Goethe Handbuch in 4 Bänden, Bd. 2, hg. Theo Buck, Stuttgart, Weimar 1997, Seite 128
[4] Seitenangaben zitiert nach: Schlegel, Christiane Caroline: Düval und Charmille. Ein bürgerlich Trauerspiel in fünf Aufzügen. Von einem Frauenzimmer, hg. Weigmanns Erben und Reich, Leipzig 1778.
[5] vgl. Schulz, Seite 128
[6] vgl. Schulz, Seite 128
- Arbeit zitieren
- Wildis Streng (Autor:in), 2000, "Düval und Charmille" und "Stella" - ein Vergleich. Betrachtung und Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/24482
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