In der folgenden Hausarbeit möchte ich versuchen, historische (insbesondere sich auf den Nationalsozialismus beziehende) Vergleiche, die in der öffentlichen Kontroverse um das sogenannte Kruzifixurteil mit unterschiedlichen Zielen von unterschiedlichsten Seiten benutzt wurden, näher zu beleuchten.
Ich habe hierzu ausschliesslich Artikel, Leserbriefe und Interviews aus dem SPIEGEL aus der Zeit nach der Urteilsbegründung vor dem Hintergrund von möglichen Vergleichen des Urteils mit Ereignissen aus der Geschichte durchgearbeitet und Textpassagen, in denen sich auf das Thema bezogene Äußerungen finden ließen, herausgeschrieben, um sie zu bearbeiten.
Das Thema hat mich insofern interessiert, als ich glaube, daß es sehr spannend sein kann zu untersuchen, inwiefern öffentliche Debatten sich immer weiter vom eigentlichen Ausgangspunkt (hier der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichtes) entfernen können und zu einer Diskussion über die Diskussion werden, in der historische Vergleiche, insbesondere mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, dem Nationalsozialismus, dazu benutzt werden, den eigenen Standpunkt zu rechtfertigen und sich selbst als Opfer darzustellen, während konträre Meinungen aber mit den selben Mitteln verurteilt und die Vertreter dieser anderen Meinungen indirekt als Täter bezeichnet werden.
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INHALT
1. Einleitung
2. Zeitleiste historischer Vergleiche in Kommentaren zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
3. Analyse ausgewählter Textstellen
3.1.Zitat des Landeskomitees der Katholiken in Bayern vom 14.8.1995
3.2. Leserbrief von Fabian Hage aus Denkendorf in Bayern vom 28.8.1995
3.3. Zitate Kardinal Wetters aus einem Artikel vom 2.10.1995
4. Resümee
5. Quellen
1. Einleitung
In der folgenden Hausarbeit möchte ich versuchen, historische (insbesondere sich auf den Nationalsozialismus beziehende) Vergleiche, die in der öffentlichen Kontroverse um das sogenannte Kruzifixurteil mit unterschiedlichen Zielen von unterschiedlichsten Seiten benutzt wurden, näher zu beleuchten.
Ich habe hierzu ausschliesslich Artikel, Leserbriefe und Interviews aus dem SPIEGEL aus der Zeit nach der Urteilsbegründung vor dem Hintergrund von möglichen Vergleichen des Urteils mit Ereignissen aus der Geschichte durchgearbeitet und Textpassagen, in denen sich auf das Thema bezogene Äußerungen finden ließen, herausgeschrieben, um sie zu bearbeiten.
Das Thema hat mich insofern interessiert, als ich glaube, daß es sehr spannend sein kann zu untersuchen, inwiefern öffentliche Debatten sich immer weiter vom eigentlichen Ausgangspunkt (hier der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichtes) entfernen können und zu einer Diskussion über die Diskussion werden, in der historische Vergleiche, insbesondere mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte, dem Nationalsozialismus, dazu benutzt werden, den eigenen Standpunkt zu rechtfertigen und sich selbst als Opfer darzustellen, während konträre Meinungen aber mit den selben Mitteln verurteilt und die Vertreter dieser anderen Meinungen indirekt als Täter bezeichnet werden.
2. Zeitleiste historischer Vergleiche in Kommentaren zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Am 10.8.1995 wurde das Urteil des Bundesverfassungsgerichts veröffentlicht, das sich mit dem in der bayerischen Schulordnung verankerten Zwang auseinandersetzt, daß in jedem Klassenzimmer einer bayerischen Schule ein Kruzifix zu hängen hat. Nach einer Klage eines anthroposophischen Elternpaares, das seinem Kind nicht zumuten wollte, unter dem Symbol eines ihrer weltanschaulichen Überzeugung nicht entsprechenden Glaubens lernen zu müssen, befanden die Richter, daß der Zwang zum Aufhängen eines Kruzifixes die negative Glaubensfreiheit beeinflußt und insofern nicht mit den Artikeln 4 und 6 des Grundgesetzes zu vereinbaren ist.
In der Urteilsbegründung lassen sich sowohl hierzu als auch zum Punkt der staatlichen Neutralität in Glaubensfragen, die ja letztendlich den Schutz der negativen Glaubensfreiheit gewährleistet, klare Aussagen des BVerfG finden:
,, Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist [nach 1. Art. 4 Abs. 1 GG] Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben oder eine Religion weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört aber nicht nur die Freiheit, einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit die Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Diese Freiheit bezieht sich ebenfalls auf die Symbole, in denen ein Glaube oder eine Religion sich darstellt."1
Nach dieser Definition von negativer Glaubensfreiheit vor dem Hintergrund des Vergleichs zur positiven Glaubensfreiheit (der offensiven Ausübung des eigenen Glaubens) und der Gleichsetzung beider gehen die Autoren der Urteilsbegründung in der Folge näher auf den hier vorliegenden Fall ein, indem sie sagen, daß zwar niemand ,, in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, [das] Recht darauf [hat], von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben [...], aber eine vom Staat geschaffene Lage2, in der der Einzelne ohne Ausweichmöglichkeiten dem Einfluß eines bestimmten Glaubens, den Handlungen, in denen sich dieser manifestiert, und den Symbolen, in denen er sich darstellt, ausgesetzt ist3, davon zu unterscheiden ist.
Es wird also deutlich, daß das BverfG die positive Glaubensfreiheit nicht höher bewertet als die negative, wie die Mehrheit der Bevölkerung es wohl erwartet hatte, sondern beide gleichsetzt und somit den Zwang zum Aufhängen der Kruzifixe angreifen kann, der in der bayerischen Schulordnung, also staatlich verordnet, verankert ist und in den Augen der Richter quasi eine von der Obrigkeit verordnete Diskriminierung Andersdenkender darstellt.
Das Bundesverfassungsgericht meint also, daß es zwar nicht vermeidbar ist, in einer multikulturell geprägten Gesellschaft mit Symbolen Andersdenkender konfrontiert zu werden, jedoch sollte dies nicht mit staatlich gebilligter Unterstützung erzwungen werden.
Das Urteil des ersten Senats wurde mit einer 5:3-Mehrheit gefällt und in der gesamten deutschen Bevölkerung, nicht nur in Bayern, kontrovers diskutiert.
Ich möchte zunächst anhand der nun folgenden tabellarischen Auflistung exemplarisch verdeutlichen, wie viele Kommentare, Artikel und Leserbriefe im SPIEGEL veröffentlicht wurden, die historische Vergleiche bemühen und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema haben. Ich bin hierbei chronologisch vorgegangen, um die Entwicklung der Debatte zu verdeutlichen:
10.8.1995: Veröffentlichung der Urteilsbegründung
14.8.1995: Landeskomitee der Katholiken in Bayern im SPIEGEL-Artikel: ,,Das Kreuz ist der Nerv": ,, Das Urteil weckt ungute Erinnerungen an die Entfernung von Kreuzen aus Schulen in der Nazi-Zeit."
Rudolf Augstein in einem SPIEGEL-Kommentar: ,,Gott ohne Kreuz": ,,Es war das Einschmelzen der Kirchenglocken, das die armen Leute auf dem Dorfe gegen die Französische Revolution aufbrachte."
21.8.1995: Leserbriefe im SPIEGEL:
Thies Poppendieck aus Flensburg: ,,Wer heutzutage für das Symbol einer Institution kämpft, in deren Namen von jeher menschenverachtende Politik betrieben wird, tut mir ehrlich leid."
Götz Wefelmann aus Hamburg: ,,Für die katholischen Stalinisten ist es wohl die einzige Form, die Botschaft der Liebe in die Kinder zu pflanzen, indem sie ihnen -ungefragt- täglich das Bild einer Folterung zumuten."
Fabian Hage (15) aus Denkendorf(Bayern): ,,Wenn die Kirche auch nur halb so viel Widerstand im Dritten Reich geübt hätte, wie jetzt beim Kruzifix-Urteil ..."
Dr. Thomas Tosse aus München: ,,500 Jahre reichen anscheinend nicht aus, um den Gedanken der Aufklärung auch dem deutschen Gemüt näher zu bringen."
28.8.1995: Der SPIEGEL in einer Frage eines Interviews mit Jutta Limbach (Präsidentin des BverfG): ,,Den Nazis sei es nicht gelungen, das Kreuz aus der Schule zu entfernen, so lauten Stimmen aus der CSU. Das dürfe auch einem Gericht nicht gelingen."
2.10.1995: SPIEGEL-Artikel: ,,Heiliger Edmund, bitt´ für uns" über Kardinal Wetter: ,,Was Toleranz ist, das soll bitte nicht das Verfassungsgericht definieren: Dessen Urteil habe ,,Unzufriedenheit und Unfrieden" gestiftet (...). Er erinnert an die NS-Diktatur, die schon einmal die Kreuze aus den Schulen verbannt hat. Dieser Richterspruch (...) sei ein ,,Intoleranzedikt".
[...]
1 FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 15.8.1995, S.16
2 hier der Zwang zum Kruzifix in der bayerischen Schulordnung
3 FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 15.8.1995, S.16
- Arbeit zitieren
- Oliver Buchholz (Autor:in), 2000, Die Funktion historischer Vergleiche in der Debatte um das sogenannte Kruzifixurteil im SPIEGEL, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/2486