Heilpädagogische Diagnostik


Diplomarbeit, 2004

53 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Was ist eine heilpädagogische Diagnose? – Abgrenzung und Begriffsbestimmung

3 Ziele der heilpädagogischen Diagnostik

4 Der Prozess der heilpädagogischen Diagnostik
4.1 Die Vorinformation
4.1.1 Die Anamnese
4.1.2 Die Exploration
4.2 Die Befunderhebung
4.2.1 Die Beobachtung
4.2.2 Tests
4.3 Das Gutachten und Übergang zur Therapie

5 Diagnostik in der anthroposophischen Heilpädagogik
5.1 Geisteswissenschaftliche Grundlagen
5.2 Die Befunderhebung
5.2.1 Die Beobachtung
5.2.2 Das Einordnen der Beobachtungen
5.3 Die Diagnose
5.4 Die Therapie
5.5 Ein Beispiel: Die Kinderkonferenz

6 Der diagnostische Prozess an einem Beispiel aus der Einzelförderung
6.1 Die Vorinformation
6.1.1 Der Anlass der Diagnoseerstellung
6.1.2 Ruths häusliches Umfeld
6.1.3 Ruths Anamnese
6.2 Die Befunderhebung bei Ruth
6.2.1 Eine Beschreibung
6.2.2 Die Diagnosestunden
6.3 Ruths Diagnose mit Ausblick auf die Therapie

7 Schlussbetrachtung

Zusammenfassung

Literatur

1 Einleitung

„Es ist einmal so, dass auf jedem Gebiete die Diagnostik und Pathologie zu einer wirklichen Therapie führt, wenn die Diagnostik auf das Wesen der Sache eingehen kann.“

Rudolf Steiner[1]

Im Rahmen des Einzelförderprojektes am Heilpädagogischen Seminar in Bad Boll betreute ich über ein dreiviertel Jahr hinweg ein Mädchen aus einer Waldorfschule. Sie kommt einmal die Woche zu einer heilpädagogischen Förderstunde ans Seminar.

Zu Beginn war es nötig, erst einmal Diagnosestunden durchzuführen, um zu wissen, in welche Richtung ich das Mädchen fördern muss.

In diesem Zusammenhang begann mich der ganze Themenbereich der heilpädagogischen Diagnostik immer stärker zu interessieren. Ich wollte wissen, wie die „herkömmliche“ heilpädagogische Diagnostik funktioniert und inwiefern sich eine anthroposophisch orientierte Diagnostik unterscheidet, wenn es überhaupt Unterschiede gibt. Dies galt es herauszufinden.

Aus diesem Grunde habe ich mich mit diesen beiden großen Bereichen der heilpädagogischen Diagnostik näher beschäftigt. In der nun folgenden Arbeit wird es in einem ersten Teil eher um den theoretischen Hintergrund der heilpädagogischen Diagnostik aus der so genannten „herkömmlichen“ Sicht gehen. Der daran anschließende Bereich über die anthroposophisch orientierte heilpädagogische Diagnostik ist praxisnäher gestaltet und versucht, Methoden nahe zu bringen, die für eine heilpädagogische Diagnostik nützlich sein können.

In einem dritten Teil meiner Arbeit versuche ich, den diagnostischen Prozess anhand eines Beispiels aus der Einzelförderung durchzuführen. Den Namen des Kindes habe ich zu diesem Zweck geändert.

Die menschenkundlichen Grundlagen, die zu Beginn des zweiten Teils kurz vorgestellt werden, beschränken sich nur auf das nötigste. Es stellte sich gegen Ende der Arbeit heraus, dass es schön gewesen wäre, auch auf die normale Entwicklung in den Jahrsiebten und auf die Sinnesentwicklung einzugehen. Dies hätte jedoch den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Aus diesem Grunde werden diese Grundlagen als bekannt vorausgesetzt.

2 Was ist eine heilpädagogische Diagnose? – Abgrenzung und Begriffsbestimmung

Der Begriff „Diagnose“ wird im Brockhaus mit „Feststellen, Prüfen und Klassifizieren von Merkmalen mit dem Ziel der Einordnung zur Gewinnung eines Gesamtbildes“[2] beschrieben. Ursprünglich kommt „Diagnose“ aus dem griechischen und meint die Unterscheidung.

Bei weiterem Suchen nach Definitionen zum Begriff Diagnostik ist festzustellen, dass hier in der Regel vor allem die medizinische oder die psychologische Diagnostik gemeint ist, die sich jedoch voneinander unterscheidet. So wird eine Abgrenzung und Unterscheidung der heilpädagogischen Diagnostik von der medizinischen und psychologischen Diagnostik nötig. Dies leistet beispielsweise Karl König in seinem Buch „Heilpädagogische Diagnostik“.

Bei der medizinischen Diagnose steht die Krankheit, nicht der Patient im Vordergrund. Es geht um das „Erkennen einer Krankheit aufgrund der durch Anamnese, Beobachtung und Untersuchung festgestellten Krankheitszeichen und Befunde. Die Diagnose dient der Festlegung der bestmöglichen Behandlung.“[3] Paul Moor äußert sich über die medizinische Diagnose im Zusammenhang mit der Heilpädagogik: "Die ärztliche Diagnose ist noch nicht die pädagogische oder heilpädagogische Diagnose; sie ist vielmehr nur eines der Materialien für die heilpädagogische Erfassung des Kindes."[4]

Die psychologische Diagnose dagegen dient der Feststellung von Eigenschaften und emotionalen Zuständen ebenso wie der Beurteilung von Art und Ausmaß von Symptomen, um einen Rückschluss auf mögliche Handlungen ziehen zu können. Oder mit Karl Königs Worten: es geht „gar nicht mehr um Krankheiten. ... In der psychologischen Diagnostik geht es einzig und allein darum, dass wir uns ein Bild von dem machen, was wir das Verhalten eines Menschen nennen können.“[5]

Was aber ist eine so genannte heilpädagogische Diagnostik? Auch bei intensiverer Literaturbefragung finden sich nur wenige Definitionen einer heilpädagischen Diagnostik. Viel öfter ist von den Grundkompetenzen die Rede, die ein Heilpädagoge braucht, um eine Diagnose erstellen zu können. So heißt es schon 1934 im Enzyklopädischen Handbuch der Heilpädagogik: „Der Heilpädagoge muss ein klares Bild von der Leistungsfähigkeit der einzelnen psychischen Funktionen bzw. ihren Störungen und Abweichungen gewinnen, dass es ihm möglich wird, zweckmäßige, heilpädagogische Maßnahmen zu treffen.“[6] Karl König spricht von einem „Durch-und-durch-Wissen“[7]. Darüber hinaus ist er davon überzeugt, dass eine Diagnose nur möglich ist auf dem Hintergrund einer „umfassenden Anthropologie des Kindes“[8]

Dieter Lotz sieht Heilpädagogische Diagnostik eher als Erkenntnisprozess, als einen Weg zur Erkenntnis der Person des Anderen. Er sagt: “Erkennen sucht nach dem Wesentlichen einer Person und seiner Entwicklungsbestimmung“[9]

Hinzu kommt, dass eine heilpädagogische Diagnose immer verschiedene Teilbereiche beinhaltet. Dies bedeutet, dass der Heilpädagoge, der eine heilpädagogische Diagnose erarbeitet, Hintergrundwissen aus verschiedenen Teilbereichen wie etwa der Medizin, der Psychologie oder der Heilpädagogik braucht.

Gleichzeitig ist der Heilpädagoge gefordert, wenn nötig, verschiedene Menschen zu befragen oder aber gemeinsam an einen Tisch zu bringen. So ist der Kontakt zu den Eltern des Kindes, dem Lehrer oder/und Erzieher immer wichtig. Hinzu kann eventuell auch der Kontakt zum Arzt kommen.

Je nachdem, in welchem Bereich heilpädagogische Diagnostik eingesetzt wird, bleibt abzuklären, wie eine heilpädagogische Diagnose auszusehen hat, denn hier gibt es verschiedene mögliche Schwerpunkte.

Die Gebiete, in denen heilpädagogische Diagnostik zur Anwendung kommt, sind vielfältig: In der Frühförderung, in Schulen – in der Regelschule, aber noch häufiger in der Sonderschule.

Das Spektrum der diagnostisch einzuordnenden Menschen ist sehr breit gefächert: vom Säugling bis hin zum Erwachsenen, von minimalen Störungen bis hin zu augenfälligen Störungen. In sehr vielen Bereichen ist heute eine heilpädagogische Diagnostik gefordert, die helfen soll, den richtigen Weg für den entsprechenden Menschen zu finden.

3 Ziele der heilpädagogischen Diagnostik

Gerade in der heilpädagogischen Diagnostik gibt es viele verschiedene Zielsetzungen. In den letzten Jahren fand eine Wandlung von einer an die medizinische und psychologische Diagnostik angelehnten Diagnoseerstellung hin zu einer prozessorientierten am Kinde orientierten Diagnostik statt. So wird heute zwischen traditionell-herkömmlichen und eher alternativen Ansätzen unterschieden.

Nach Kobi gibt es unter anderem folgende diagnostische Richtungen mit ihren unterschiedlichen Zielsetzungen:

- die deskriptive Diagnostik, ist eine beschreibende ist. Es geht um eine möglichst umfassende und genaue Darstellung eines Problems, so dass man dadurch zu einer Definition gelangt, die die Grundlage einer gemeinsamen Verständigung bildet.
Bei dieser Methode steht im Vordergrund, dass „verschiedene Beobachter dieselben Phänomene als problemzugehörig („wesentlich“) ins Auge fassen und in etwa vom selben Erscheinungsbild sprechen.“[10]
- die Klassifizierungs-Diagnostik. Im Mittelpunkt steht das Ziel, in die vielen beobachteten Erscheinungsbilder eine Ordnung zu bringen und zuzuordnen. Die Klassifizierungs-Diagnostik wird hauptsächlich in der Differentialdiagnostik angewandt. Eine Klassifizierungs-Diagnostik kann unter verschiedenen Gesichtspunkten verwendet werden. (phänomenologisch, chronologisch, kausal...)
- die funktionale Diagnostik, bei der Bezüge zwischen verschiedenen Erscheinungsformen aufgedeckt werden sollen. Es soll beispielsweise herausgefunden werden, unter welchen Umständen eine bestimmte Verhaltensweise besonders häufig auftritt. Im Vordergrund stehen Zusammenhänge und Beziehungen, jedoch nicht so genannte Kausal-Erklärungen. In der Heilpädagogischen Praxis ist die funktionale Diagnostik vor allem wichtig bei Fragen nach den optimalen Bedingungen, die ein Kind braucht, um sich weiterentwickeln zu können.
- die Kausal-Diagnostik versucht, Ursachen herauszufinden. Es handelt sich meist um Ursachen-Komplexe oder Kausal-Ketten. Eine Kausal-Diagnostik versucht nicht, bei der Ursache stehenzubleiben, sondern hat sich als Ziel gesetzt, die aufgedeckten Faktoren so in den Griff zu bekommen, „dass sie manipulierbar werden, um damit einen Schlüssel ... zu besitzen, die es einem ermöglicht, bestimmte Wirkungen „beliebig“ ... eintreten zu lassen.“[11]
- die Selektions- bzw. Plazierungsdiagnostik. Zielsetzung ist hier die Zuordnung einer Person in ein vorgegebenes Anforderungsprofil. Es geht darum, zu einem Gebiet die aufgrund ihrer Eigenschaften geeignete Person zu finden. Die Selektionsdiagnostik folgt einen Entweder-Oder-System: Passt / passt nicht oder tauglich / untauglich usw.
Häufig angewendet wird dieses Diagnostische System in der Heilpädagogik, wenn es beispielsweise darum geht, die geeignete Schule für ein Kind zu finden.
- die Typisierungs-Diagnostik ist verwandt mit der Selektions- und der Klassifizierungs-Diagnostik. Im Vordergrund steht das Ziel, „hinsichtlich der erzieherischen, unterrichtlichen und organisatorischen Zielsetzungen homogene Gruppen zusammenzustellen und letztlich möglichst lange „Entsprechungsreihen“ zu bilden: vom ätiologischen bis in den methodischen und institutionellen Bereich hinein: -

Beispiel: frühkindliche Hirnschädigung ’ Psycho-organisches Syndrom ’ entsprechende Entwicklung ’ entsprechende Therapie und Schulung ’ spezielle Heime und Schulen ’ entsprechend ausgebildete Lehrer ’ entsprechende Schulgesetzgebung.“[12]

- die Förderdiagnostik. Die Aufgabe der Förderdiagnostik besteht darin, sich, als Ergänzung zu den bisher genannten Diagnoseverfahren, Klarheit zu verschaffen über Bildungsmöglichkeiten und den damit einhergehenden erzieherischen und unterrichtlichen Notwendigkeiten und Zielsetzungen. Die Förderdiagnostik ist somit eine Bildbarkeitsdiagnostik. „Es geht um die veränderungsnotwendigen und veränderbaren Entwicklungs- und Lerndefizite in den verschiedenen Fähigkeitsbereichen eines behinderten Kindes. Ihre Zielsetzungen sind daher ausgesprochen subjektorientiert, sowohl was das Kind, wie auch was dessen Bezugsperson anbetrifft. Aus einer konkreten Behinderungssituation heraus werden fassbare, kurz- und mittelfristige Bildungsziele und Förderungspläne entwickelt.“[13]

Förderdiagnostik bemüht sich um das Kind, das in der optimalen Entfaltung seine Möglichkeiten im geistigen, sozialen, emotionalen oder physischen Bereich gefährdet, bedroht, gestört oder behindert ist. Aber nicht nur das Kind, sondern auch die vielfältigen Bedingungen in der Umwelt müssen in diesen Prozess miteinbezogen werden.

- und die Normalisierungs- oder Integrations-Diagnostik. Es steht nicht mehr die Analyse eines Problems im Vordergrund – mit dem man in der Regel auch den Begriff „Lösung“ in Verbindung bringt, sondern es geht nun um „die Gestaltung dessen, was als Schicksal bleibt, wenn alle für uns lösbaren Probleme gelöst, das Heilbare geheilt, das Förderbare gefördert, kurz: das Veränderbare verändert worden ist.“[14] Normalisierung heißt also, das „anders“ bleibende in die so genannt normalen Lebensverhältnisse zu integrieren – den Behinderten am Leben teilnehmen lassen und es gemeinsam mit gestalten.

Normalisierung findet dort statt, wo die Behinderung ein grundlegender Bestandteil der Identität wird und der Betroffene oder die Familie sagt: Ohne meine Behinderung wäre ich nicht Ich / Ohne diesen behinderten Menschen wäre unsere Familie nicht unsere Familie.

Unter diesen Zielsetzungen von Kobi finden sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Ansätze wieder, so auch mit der deskriptiven und der Klassifikations-Diagnostik ein eher medizinischer Ansatz und beispielsweise in der Kausal-Diagnostik oder der Selektions-Diagnostik der eher psychologische Ansatz.

Die heilpädagogische Diagnostik, so wie sie sich heute immer mehr durchsetzt, findet sich vor allem in der Förderdiagnostik und der Integrationsdiagnostik wieder. Auch die anthroposophisch orientierte heilpädagogische Diagnostik kann man als Förderdiagnostik beschreiben. Die folgende Darstellung des diagnostischen Vorgehens bezieht sich auf die Förderdiagnostik.

4 Der Prozess der heilpädagogischen Diagnostik

Um eine gute Diagnose erstellen zu können, sind im Vorfeld einige Voraussetzungen zu erfüllen. Zum einen braucht der Diagnostiker ein fundiertes Hintergrundwissen, um überhaupt aus den gesammelten Informationen die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Darüber hinaus ist es von Vorteil, wenn alle an der Diagnose beteiligten Menschen gut zusammenarbeiten und so der funktionierende Informationsfluss gewährleistet ist.

Gerade wenn es darum geht, beispielsweise eine Entwicklungsverzögerung festzustellen, ist es wichtig, die Kriterien zu kennen, woran diese zu erkennen ist. Der Heilpädagoge muss also über die motorische Entwicklung, die Sprachentwicklung, die Entwicklung der Wahrnehmung und viele weitere Bereiche Bescheid wissen. Nicht nur die normale Entwicklung, sondern auch Besonderheiten bei der Abweichung sind wichtig, denn ohne diese Grundkenntnisse kann im Grunde keine Diagnose erstellt werden.

An einer Diagnose können unter Umständen recht viele Menschen beteiligt sein: Vom Heilpädagogen über den Arzt und den Erzieher bis hin zu den Eltern. Nicht zu vergessen das Kind selbst. Es bedeutet eine enorme Arbeitserleichterung, wenn dieser Personenkreis um ein Kind herum möglichst reibungslos zusammenarbeitet. Mögliche Vorurteile können hier sehr hinderlich sein.

Die Diagnoseerstellung erfolgt in der Regel in mehreren Schritten, aus denen sich am Ende ein Therapieansatz ergibt.

Am Anfang steht die Information über das Kind bestehend aus Anamnese und evtl. einer Exploration. Darauf folgt die eigentliche Befunderhebung, bei der die Fähigkeiten des Heilpädagogen gefragt sind, aber auch Einsicht in eventuell bestehende ärztliche und schulische Berichte genommen wird.

Anschließend wird – basierend auf Vorinformation und Befunderhebung – eine heilpädagogische Diagnose erstellt, aus der sich dann im optimalen Falle die Prognose und der Therapieansatz ergeben sollten.

In einem Schema von Kobi finden sich folgende formale Bestandteile, die in jeder heilpädagogischen Diagnose enthalten sein sollten:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Formale Bestandteile einer Diagnose

4.1 Die Vorinformation

4.1.1 Die Anamnese

Der Begriff Anamnese (griech. Anamnesis – die Wiedererinnerung) stammt ursprünglich von Platon ab und bedeutet bei ihm die Deutung der Erkenntnis als Wiedererinnerung an Ideen, die die Seele vorgeburtlich geschaut hat. Für Platon, wie auch seinen Lehrer Sokrates bedeutete Erkenntnis Wiedererinnerung an etwas, was schon verborgen im Menschen vorhanden ist.

Heute wird die Anamnese als eine Erhebung der Vorgeschichte angesehen. Der Inhalt einer Anamneseerhebung variiert beträchtlich und ist vor allem abhängig von der Problemstellung zur Zeit der Anamnese.

Es gibt Eigenanamnesen und Fremdanamnesen. Bei der Eigenanamnese wird die betroffene Person selbst, bei einer Fremdanamnese Bezugspersonen wie Eltern, Pflegeeltern befragt. Die Fremdanamnese kommt vor allem in Frage, wenn anamnestische Daten nicht herausgefunden werden können, weil es sich beispielsweise um jüngere oder verbal beeinträchtige Menschen handelt. Oder aber die Informationen der Bezugspersonen sind umfassender und zuverlässiger.

Von Grund auf ist eine Anamnese – wenn sie sich auf die Lebensdaten des Kindes beschränkt – objektiv. Sobald die Befragung jedoch über diese Grunddaten hinausgeht und auch solche Inhalte wie etwa Familienverhältnisse mit hineinkommen, wird eine Befragung sofort subjektiv.

Eine heilpädagogische Anamnese unterscheidet sich „sowohl von der ärztlichen als auch von der psychologischen (insbesondere von der analytischen) Anamnese, die in der Regel bereits vor der heilpädagogischen Anamnese erhoben wurden. (...) Dabei wird zumindest die Kenntnis der ärztlichen Anamnese vorausgesetzt.“[15] Es kann jedoch nie schaden bezüglich schon bestehender Anamnesen selbst noch einmal nachzufragen.

Ziel einer heilpädagogischen Anamnese ist es, Daten für eine heilpädagogische Behandlung zu erheben. So sind also Daten über die motorische und sprachliche Entwicklung des Kindes wichtig, aber auch bezüglich des Spielverhaltens und der sozialen Integration. Je genauer eine Anamnese ist, desto mehr kann man für eine spätere Behandlung herauslesen.

Aber auch der phylogenetische – stammesgeschichtliche – Aspekt kann wichtig sein, so verhilft ein Genogramm manchmal zu unverhofften Einsichten in Familienzusammenhänge, aus denen heraus sich eventuell eine Problemstellung verstehen lassen kann.

In der Literatur sind viele schon fertige Anamnesebögen zu finden und wohl jede Einrichtung hat einen eigenen Bogen erstellt, es ist jedoch ratsam, die Fragen zur Anamnese nicht standardisiert immer wieder zu fragen, sondern sie an die Situation anzupassen.

4.1.2 Die Exploration

Die Exploration (lat. Erforschung, Erkundung) ist rein inhaltlich gesehen nicht sehr weit weg von der Anamnese. Von ihrem Ablauf her ist eine Exploration jedoch ein Gespräch, das einer Vertiefung schon gewonnener Erkenntnisse dient. Ein Explorationsgespräch kann ebenso gut mit der Erstellung der Anamnese verbunden sein. Ein Explorationsgespräch kann mit jeder Person aus dem Umkreis des zu diagnostizierenden geführt werden, in erster Linie sollte es jedoch erst einmal mit dem Betroffenen selbst geführt werden. Zu den aus dem Umkreis zählenden Personen, die bei einer Diagnose eventuell miteinbezogen werden können, zählen unter anderem Eltern, Geschwister Erzieher, Lehrer, aber auch eventuell Sozialarbeiter.

Bei einem solchen Gespräch bietet es sich vor allem an, weitere Ansatzpunkte zu einer persönlichen Kontaktaufnahme zwischen dem Diagnostiker und Eltern und Kind zu finden. Aus diesem Grunde sollte der Gesprächsleiter eine freundliche, wohlwollende, vor allem aber partnerschaftliche Haltung einnehmen und die Aspekte einer guten Gesprächsführung beachten.

Mögliche Gesprächsthemen sind hier nach Bundschuh:

- das Kind und sein Problem
- die Eltern und das Problem des Kindes
- die frühkindliche Entwicklung
- die Erziehungssituation
- die Schulsituation
- die Spielsituation und Freizeit.

4.2 Die Befunderhebung

4.2.1 Die Beobachtung

1. Definition

Beobachtung ist nach Köhne „die aufmerksame Wahrnehmung und Registrierung von Ereignissen, Personen oder Sachen vor dem Hintergrund jeweils bestimmter Situationen“[16]

Man könnte es auch als ein Grundprinzip der Beobachtung ansehen, ein Kind in unterschiedlichen Situationen zu beobachten, um so möglichst viele Informationen über das Verhalten und das es umgebende Interaktionsfeld zu sammeln. Gerade längerfristige Beobachtung erlaubt es, auch Aussagen über Fortschritte des Kindes machen zu können.

Eine häufig vorzufindende Form der Beobachtung ist die teilnehmende Beobachtung. Hier ist in einer Person vereinigt derjenige, der pädagogische Prozesse anlegt, steuert und variiert und sie gleichzeitig beobachtet. Hier wird der Beobachter selbst aktiver Teil des Geschehens. Der Beobachter wird nicht als Fremder angesehen, da er keine Testfragen stellt, sondern das Verhalten des Kindes beispielsweise in Lernsituationen beobachtet.

Eine andere Form der Beobachtung ist die so genannte periphere Beobachtung, bei der sich der Beobachter am Rande des Geschehens befindet, eventuell sogar verdeckt beobachtet.

Es gibt verschiedene Beobachtungsschemata:

- „die unsystematische Beobachtung, bei der es darum geht, einen ersten Eindruck über einen Schüler einzuholen.
- Die systematische Beobachtung, bei welcher es um das Erfassen und Auswerten der Verhaltensdaten und die geplante Festlegung der Bereiche und Personen geht, die beobachtet werden sollen
- Die standardisierte Beobachtung, bei welcher die Beobachtungssituation im Voraus festgelegt wird. Dabei soll darauf geachtet werden, dass die Beobachtungen in Situationen durchgeführt werden, die dem Zu-Beobachtenden vertraut sind und sinnigerweise im Spiel oder im offenen Unterricht vollzogen werden.“[17]
- Die freie Beobachtung, bei der es dem Beobachter überlassen bleibt, auf welche Verhaltensweisen er sein Augenmerk richtet. Es gibt keine Einschränkungen hinsichtlich der zu erfassenden Merkmalsbereiche.

Darüber hinaus sind bei der Beobachtung drei Grundregeln zu beachten, die immer gewandt werden sollten, egal welche Form der Beobachtung gerade im Vordergrund steht:

[...]


[1] Steiner, Rudolf: Heilpädagogischer Kurs, S. 75

[2] Brockhaus multimedial 2004

[3] Brockhaus multimedial 2004

[4] Paul Moor: Heilpädagogik, S. 339

[5] König, Karl: Heilpädagogische Diagnostik, S. 17

[6] zitiert nach: Lotz, Dieter: „Brauchen wir eine heilpädagogische Diagnostik?“ Online im Internet

[7] König, Karl: ebd., S. 15

[8] König, Karl: ebd., S. 15

[9] Lotz, Dieter; ebd. Online im Internet

[10] Kobi, Emil E.: Diagnostik in der heilpädagogischen Arbeit, S. 47

[11] Kobi, Emil E.: ebd., S. 49

[12] Kobi, Emil E.: ebd., S. 52

[13] Kobi, Emil E.: ebd., S. 55

[14] Kobi, Emil E.: ebd., S. 58

[15] von Oy, Sagi: Lehrbuch der heilpädagogischen Übungsbehandlung, S. 54

[16] zitiert nach: Bundschuh, K.: Einführung in die sonderpädagogische Diagnostik, S. 118

[17] Bertrand, L.: Förderdiagnostik bei Schülern mit speziellem Förderbedarf. Online im Internet

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Heilpädagogische Diagnostik
Hochschule
Rudolf-Steiner-Seminar  (Fachschule für Sozialberufe; Lehranstalt für Heilpädagogische Berufe)
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
53
Katalognummer
V25004
ISBN (eBook)
9783638277457
ISBN (Buch)
9783638702010
Dateigröße
1727 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heilpädagogische, Diagnostik
Arbeit zitieren
Bettina Grimm (Autor:in), 2004, Heilpädagogische Diagnostik, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25004

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