Angriffs- und Eroberungskrieg oder Präventivkrieg? Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Geschichtsforschung der Bundesrepublik seit der Fischer-Kontroverse


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

21 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Fragestellung
1.2. Quellenlage und Forschungsstand

2. Die Fischer-Kontroverse
2.1. Das deutsche Geschichtsbild bis 1960
2.1.1. Weimarer Republik und Drittes Reich
2.1.2. Nachkriegszeit
2.2. Der "Griff nach der Weltmacht"
2.2.1. Fischers Thesen zum Kriegsausbruch
2.2.2. Die Kritiker
2.2.3. Die Kontroverse in den 60er Jahren
2.3. Die Fischer-Kontroverse in der Öffentlichkeit
2.4. Zusammenfassung

3. Die bundesdeutsche Geschichtsforschung nach Fischer
3.1. Geschichte und Sozialwissenschaft
3.2. Die "neue Generation"

4. Zusammenfassung: Die Kontroverse und ihre Folgen

Literatur

1. Einleitung

"In den zwanziger Jahren war fast die ganze deutsche Zeitgeschichtsschreibung damit beschäftigt, den Beweis zu versuchen, daß Deutschland am Kriegsausbruch unschuldig gewesen sei; und noch in den frühen sechziger Jahren war es eine mutige Leistung des Hamburger Historikers Fritz Fischer, diese These zu erschüttern. Heute kann man dank der 'Fischer-Kontroverse' etwas freier über diese Dinge reden." (Sebastian Haffner)[1]

1.1. Fragestellung

Dieser Arbeit liegt eine Streitfrage zugrunde, die schon während des Ersten Weltkrieges aufkam und bis zum Zweiten aktuell blieb: die Frage nämlich, wer die Verantwortung für diese Katastrophe trage. Aufgrund des §231 des Versailler Vertrages, welcher dem Deutschen Reich die alleinige Verantwortung am Ausbruch des Krieges zuschob, besaß diese Frage in der deutschen Öffentlichkeit einen bedeutenden Stellenwert, der sich erst mit den durch den Zweiten Weltkrieg hervorgerufenen Probleme verminderte. In der Zeit nach 1945, als die Aufarbeitung des Hitlerregimes oberste Priorität in der Geschichtswissenschaft genoß, wurde die "Suche nach dem Schuldigen" in gegenseitigem Einvernehmen mit den ehemaligen Kriegsgegnern quasi zu den Akten gelegt.

Fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsbeginn veröffentlichte der Hamburger Historiker Fritz Fischer in einem Aufsatz die vorläufigen Ergebnisse seiner lang-jährigen Studien zu den deutschen Kriegszielen im Osten[2], dem er 1961 ein umfangreiches Werk zu der deutschen "Kriegszielpolitik" während des Krieges folgen ließ[3]. Dieses Werk schlug in der etablierten Historikerzunft ein wie eine Bombe, und die nächsten Jahre der deutschen Geschichtsforschung waren geprägt von der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern und den Gegnern von Fischers Thesen (Kap.2).

Wenngleich in der Geschichtsforschung noch keine Einigung in der Frage der Kriegsschuld erzielt worden ist, hat die Kontroverse - obwohl dies nicht in Fischers Absicht lag - einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Geschichtswissenschaft hervorgerufen. Die Kritik an Fischers neuer Theorie offenbarte gleichzeitig die Schwächen der überkommenen Geschichtsschreibung: die Betrachtung der Geschichte als vornehmlich politischer Geschichte, die durch die individuellen Handelsmustern der maßgeblich beteiligten Personen bestimmt wird, wich allmählich der Erkenntnis, welche Rolle soziale, ökonomische und andere Faktoren für das Verständnis von Geschichte spielen. Eine führende Rolle in dieser Entwicklung spielte etwa Hans-Ulrich Wehler[4]. Diese Entwicklung wird in Kap.3 näher beleuchtet. Im Schlußkapitel soll der Versuch unternommen werden, unter Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse der Kontoverse der Frage nachzugehen, inwieweit die Problematik der tieferen Kriegsursachen und der Rolle Deutschlands an der Kriegsauslösung in der Forschung beantwortet bzw. überhaupt beantwort bar ist.

1.2. Quellenlage und Forschungsstand

Die Kontroverse wurde zum größten Teil in den geschichtswissenschaftlichen Fachzeitschriften geführt, vor allem durch Aufsätze in der "Historischen Zeitschrift" zu Beginn der 60er Jahre. Die Argumentationen verschiedener Beteiligter der Kontroverse wurden z.T. auch in Aufsatzsammlungen zusammengefaßt[5]. Im Verlauf der Kontoverse wurden die bekannten Quellen zur Geschichte des Krieges größtenteils einer Neuüberprüfung unterzogen (s. Kap.2), während andere Quellen, wie etwa das von Fischer so genannte "Septemberprogramm" Bethmann-Hollwegs erst durch die Debatte einen höheren Stellenwert bekamen.

Etwa 10 Jahre nach dem Erscheinen von "Griff nach der Weltmacht" konstatierten Wolfgang Schieder und John C.G. Röhl eine allgemeine Rezeption der Ergebnisse Fischers in der internationalen Forschung[6]. In einem Aufsatz von 1980 überprüfte Volker Berghahn diese These, stellte eine "zumindest indirekte" Präsenz von Fischers Werk fest, kommt jedoch zu dem Schluß: "Die Substanz der Argumentationsführung wird dadurch allenfalls marginal berührt. [...] Die Analyse wandert in eine rational nicht faßbare Begriffswelt ab und weicht einer Beantwortung des Verursachungs- und Verantwortungsproblems aus. So haben wir´s auch vor Fischer schon gehabt." Er ssah dabei auch für die nähere Zukunft keine große Umwälzung nahen[7]. Wie in Kap.4 näher beschrieben werden wird, fand diese in gewissem Maße doch statt - allerdings begleitet von einer "Historisierung der Kontroverse selbst", wie Gregor Schöllgen zum "Jubiläum" der Kontroverse 1986 schrieb und dabei einen "Rückgriff auf bewährte Deutungsmuster" wahrnahm[8].

2. Die Fischer-Kontroverse

2.1. Das deutsche Geschichtsbild bis 1960

Um den tiefen Einschnitt, den Fischers Forschungsergebnisse der deutschen Geschichtswissenschaft zufügten, besser zu verstehen, erscheint es angebracht, einen kurzen Blick auf die Vorgeschichte zu werfen. Das Jahr 1945 stellt dabei auch in der historiologischen Betrachtung des Ersten Weltkrieges einen zentralen Wendepunkt dar.

2.1.1. Weimarer Republik und Drittes Reich

Wenngleich die Frage nach der Verantwortung für den Kriegsausbruch schon während des Krieges aufgestellt worden ist, so beruhte sie zu jener Zeit hauptsächlich auf propagandistischen Zielen, nämlich der Schuldzuweisung an das feindliche Ausland und der Unschuldsbeteuerung der eigenen Regierung. Diese bediente sich dabei kräftig der Unterstützung von Historikern und Intellektuellen[9]. Mit dem Ende des Krieges fand diese Frage ihren Weg in die Öffentlichkeit und wurde Gegenstand leidenschaftlicher Debatten, wobei sie allerdings im wesentlichen auf den einen Aspekt reduziert wurde, ob Deutschland die von den Alliierten im §231 des Versailler Vertrages ausgesprochene Alleinschuld Deutschlands am Kriege zurückweisen oder eingestehen sollte. Letztere Auffassung wurde vor allem von Vertretern der Linken wie z.B. Kurt Eisner eingenommen, die sich davon in Verbindung mit dem offenen Bruch mit dem alten System eine allgemeine Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner sowie eine bessere Position Deutschlands in den Friedensverhandlungen versprachen, während insbesondere Kreise der neuen Regierung befürchteten, durch ein Schuldeingeständnis gleichzeitig auch die territorialen Einbußen und die Reparationslasten zu akzeptieren[10]. Die Schuldfrage wurde somit zu einem Politikum, dem sich die eigentliche Grundlage der Kriegsschuldfrage jedoch - die moralische Schuld für das Leid von Millionen Menschen - unterzuordnen hatte[11]. Diese Leitlinie galt auch in den folgenden Jahren der Republik, als der "Kampf gegen Versailles" der politische Dreh- und Angelpunkt jeder deutschen Regierung war und der "Kriegsschuldparagraph" seinen Symbolwert als hervorstechendster Ausdruck der "Ungerechtigkeit" gewann. An diesem Kampf nahm auch die deutsche Geschichtswissenschaft regen Anteil, indem sie (trotz teilweise vorhandener kritischer Ansätze) die deutsche Unschuld niemals in Frage stellte[12]. Wer von dieser Leitlinie abwich wie z.B. Eckart Kehr, hatte kaum noch eine Chance auf eine akademische Karriere in Deutschland[13].

Nach der Machtübernahme der NSDAP war eine kritische Forschung zum Kriegsausbruch 1914 aus naheliegenden Gründen nicht mehr möglich. Zu sehr hatte sich die deutsche Geschichtswissenschaft der NS-Ideologie unterzuordnen, was sie auch – zum größten Teil aus eigenem Antrieb – bereitwillig tat[14]. Unter dem Gesichtspunkt, daß die Ursachen des Verlustes des Krieges in den Vordergrund traten ("Dolchstoßlegende"), setzte in der Frage der Kriegsverursachung eine "gewisse Ermattung"[15] ein. Wichtigstes Arbeitsfeld für Historiker während des National-sozialismus wurde die historische Legitimation der aktuellen NS-Politik.

2.1.2. Nachkriegszeit

Mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches konnte die freie Forschung wieder aufgenommen werden; die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen waren allerdings vorerst das Hauptarbeitsfeld in der Nachkriegszeit. Was den Ersten Weltkrieg betraf, so wich die Schuldfrage allmählich der Suche nach den Zusammenhängen zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg. Der größte Teil der bundesdeutschen Historiker legte den Schwerpunkt dabei auf einen Nachweis der Diskontinuität zwischen Kaiserreich und Republik einerseits und dem Nationalsozialismus andererseits[16]. Wie in der Weimarer Zeit sahen viele führende Historiker eine vornehmliche Aufgabe darin, eine „Nichtalleinschuld“ Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkrieg nachzuweisen, wenn auch von der These der alleinigen Unschuld abgerückt wurde. Nicht zuletzt Gerhard Ritter führte den Kriegsausbruch auf den allgemein vorherrschenden Militarismus zurück, welcher jedoch eine europäische und keine spezifisch deutsche Erscheinung gewesen sei, während Erwin Hölzle, wenn denn schon eine Großmacht besonders viel Schuld auf sich geladen haben sollte, diese dem zaristischen Rußland zuschob[17]. Theoretische Ansätze wie z.B. von Ludwig Dehio, der in der Politik des Reiches schon in Friedenszeiten nach Hegemonie strebende Tendenzen zu erkennen glaubte, stießen auf Ablehnung[18]. In diesem Sinne erfolgte eine mehr oder weniger stillschweigende Einigung auf den Ausspruch Lloyd Georges, daß alle Mächte in den Krieg "hineingeschlittert" seien, demzufolge keine Macht ihn wollte oder gar in voller Absicht herbeigeführt habe. Auch eine deutsch-französische Historikerkommission einigte sich 1952 auf diese Formel[19]. Bis 1960 fand keine grundlegende Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft in bezug auf die Weltkriegsforschung statt, sie blieb eine „konservative Domäne“[20].

[...]


[1] Sebastian Haffner, Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick, München 1987, S.113.

[2] Fritz Fischer, Deutsche Kriegsziele. Revolutionierung und Seperatfrieden im Osten 1914-18, in: HZ188, 1959, S.249ff.

[3] ders., Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914 /18, Düsseldorf 1961.

[4] Hans-Ulrich Wehler, Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung, Göttingen 1980.

[5] z.B.: Ernst Wilhelm Graf Lynar (Hrsg.), Deutsche Kriegsziele 1914 -1918, Frankfurt a.M. 1964; Wolfgang Schieder (Hrsg.), Erster Weltkrieg. Ursachen, Entstehung und Kriegsziele, Köln 1969.

[6] Volker R. Berghahn, Die Fischer-Kontroverse - 15 Jahre danach, in: Geschichte und Gesellschaft, 6.Jg. 1980, S.403.

[7] ebd., S.418.

[8] Gregor Schöllgen, Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse, in: HJb 106 (1986), S.401.

[9] Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland, Göttingen 1984, S.14.

[10] ebd., S.22ff.

[11] In dieser Situation wurde der Ausspruch Lloyd Georges vom "hineinschlittern" der Mächte in den Krieg dankbar aufgenommen, verneinte er doch die moralische Alleinschuld Deutschlands.

[12] ebd., S.44ff.

[13] Helmut Böhme, "Primat" und "Paradigma". Zur Entwicklung einer bundesdeutschen Zeitgeschichtsschreibung am Beispiel des Ersten Weltkrieges, in: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Historikerkontroversen, Göttingen 2000, S. 108f.

[14] Wehler, Sozialwissenschaft, S.16f.

[15] So Hans Herzfeld, zit. nach Jäger, S.66.

[16] Ebd., S.204.

[17] Ebd., S.110.

[18] Ebd., S.114ff.; Wehler, Sozialwissenschaft, S.19f.

[19] Deutsch-französische Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte, in: GWU, Bd.3, 1952, S.288-299.

[20] Wehler, Sozialwissenschaft, S.21.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Angriffs- und Eroberungskrieg oder Präventivkrieg? Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Geschichtsforschung der Bundesrepublik seit der Fischer-Kontroverse
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Fakultät IV)
Veranstaltung
HS: Von der Weltpolitik zum Ersten Weltkrieg. Deutsche Außenpolitik im Zeitalter des Imperialismus 1896 - 1914
Note
2
Autor
Jahr
2003
Seiten
21
Katalognummer
V25914
ISBN (eBook)
9783638284110
Dateigröße
570 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Der Erste Weltkrieg wurde sowohl in der Weimarer Republik als auch in den 50er Jahren in der Regel als kaum vermeidbares Unglück angesehen, an dem alle Beteiligten mitschuldig gewesen seien. Erst in den 60er Jahren gab Fritz Fischer der Weltkriegsforschung durch seine provokanten Thesen neue Impulse, die schließlich zu einer geradezu revolutionären Umgestaltung der gesamten Geschichtswissenschaft in vor allem in den 70er Jahren führte.
Schlagworte
Angriffs-, Eroberungskrieg, Präventivkrieg, Ausbruch, Ersten, Weltkrieges, Geschichtsforschung, Bundesrepublik, Fischer-Kontroverse, Weltpolitik, Ersten, Weltkrieg, Deutsche, Außenpolitik, Zeitalter, Imperialismus
Arbeit zitieren
Maik Nolte (Autor:in), 2003, Angriffs- und Eroberungskrieg oder Präventivkrieg? Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in der Geschichtsforschung der Bundesrepublik seit der Fischer-Kontroverse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/25914

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