Deutsche Impulse in der Entstehungs- und Etablierungsphase der norwegischen Arbeiterbewegung (1870-1914)


Hausarbeit, 2004

66 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Impulse

3. Programmatische Impulse

4. Personelle Impulse
4.1 Direkte Impulse durch Deutsche in Norwegen
4.1.1 Deutsche in politischen Vereinen und Parteien
4.1.2 Deutsche in Gewerkschaften
4.2 Norweger als Vermittler deutscher Impulse
4.3 Dänen und Schweden als Vermittler deutscher Impulse

5. Zusammenfassung

Anhang 1: Parteiprogramme

Anhang 2: Biographien
Victor Max Friedrich Braune
August Hartung
Christopher Hornsrud
Marius Jantzen
Carl Jeppesen
Christian Holtermann Knudsen
Robert Kopp
J. O. Ljungdahl
Ludvig Meyer
August Paschky
Sophus Pihl
Louis Pio
Ernst Rothaupt
Otto Rudolph
Friedrich Paul Schulze
Axel (Aksel) Schultz
Franz Schultz
Hermann Stampehl
Friedrich C. Stilger

Anhang 3: Zeittafel norwegische Arbeiterbewegung

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die ersten Anfänge der norwegischen Arbeiterbewegung lagen in der Thraniterbewegung 1848-1851 und der von Eilert Sundt 1864 gegründeten „Kristiania Arbeidersamfund“.[1] Jedoch erst in den 1870er Jahren begann die eigentliche Arbeiterbewegung, als die ersten Gewerkschaften in Kristiania und Bergen gegründeten wurden. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich bereits in anderen euro­päischen Ländern v. a. in Deutschland, Frankreich und England Arbeiterbewegungen etabliert. Deutschland hatte sich durch die Schriften von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle zu einem Zentrum sozialistischen Gedankenguts entwickelt und wurde durch seine Impulse häufig richtungsweisend für die Arbeiter­bewegungen anderer Länder. Von 1890 bis zum ersten Weltkrieg 1914 verstärkte sich dieser Effekt erneut durch die Schriften von Karl Kautsky, Eduard Bernstein sowie Rosa Luxem­burg, die zu heftigen Diskussionen (Revisionismusstreit, Massen­streikdebatte) innerhalb der deutschen Sozialdemokratie führten. Sozialdemokraten in den übrigen europäischen Länder verfolgten dies meist mit großem Interesse.

Diese Entwicklungen auf dem Kontinent bis 1870 waren in Norwegen durch die Presse und sowie durch Berichte von einhei­mischen Handwerkern, die auf Wanderschaft in Europa gewesen waren, bekannt geworden. Ein Anstoß für die Entstehung der norwegischen Arbeiterbewegung in den 1870er Jahren wurde das Treffen skandinavischer Arbeiter 1870 in Stockholm, auf dem die Bildung von Gewerkschaften diskutiert wurde.[2] Begünstigt wurden diese Ideen durch eine wirtschaftliche Hochkonjunktur und Hoch­preisphase, die gute Voraussetzungen für Forderungen der Arbeiter nach höheren Löhnen schuf. Typographen gründeten daraufhin 1872 in Kristiania die erste norwegische Gewerkschaft, der in den folgenden Jahren rasch weitere Gründungen in anderen Bereichen folgten.[3]

Der dänische Sattler Marius Jantzen und der schwedische Zimmermann J. O. Ljungdahl brachten in dieser Zeit sozialistisches Gedankengut nach Norwegen. Ausgehend von der von Louis Pio 1871 gegründeten dänischen Abteilung der „Internationalen“ in Kopenhagen versuchten sie erstmals, eine überwiegend politische Arbeiterorganisation zu gründen. Das anfänglich gute Interesse an deren Ideen ebbte allerdings rasch ab. Eine Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit Ende der 1870er Jahre erschütterte die junge Arbeiterbewegung und führte schließlich zu deren Zerfall.[4] Erst in den 1880er Jahren entstanden in Kristiania und Bergen neue Gewerkschaften, die vor allem Unterstützungskassen gründeten und Bildungsarbeit betrieben.

Wie in vielen Ländern ging auch in Norwegen die Arbeiterbewe­gung zunächst von Handwerkern aus, weil deren Position durch die Industrialisierung zunehmend gefährdet wurde. Dagegen waren die Mitglieder der relativ jungen Gruppe der Industriearbeiter zunächst zufrieden, da sie mehrheitlich vom Land gekommen waren und in den Städten bessere Lebensbedingungen vorfanden als in ihren alten Stellungen.[5] Handwerker wurden daher in den großen Städten
v. a. Kristiania die Initiatoren fachlicher Organisationen zur Ver­tretung ihrer Interessen. Auf diesem Wege kamen auch deutsche Handwerker in die norwegische Arbeiterbewegung. Sie engagierten sich nicht nur stark in den jeweiligen Fachgewerkschaften, sondern auch in den sich formierenden sozialdemokratischen Arbeiterver­einen und Parteien. Dabei importierten sie ideologische und organi­satorische Ideen aus ihrer Heimat. Die in Kristiania 1898 bz. 1899 von ihnen gegründeten deutschen Arbeitervereine „Vorwärts“ und „Freiheit“ schufen durch ihre Doppelmitgliedschaft in „Det norske Arbeiderparti“ und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands eine Klammer zwischen deutscher und norwegischer Arbeiter­partei.[6]

In Bergen stellte sich die Situation anders dar als in Kristiania. Zum einen lag Bergen abseits der Wanderrouten europäischer Handwerksgesellen, zum anderen hatte dort das Zunfthandwerk eine starke Stellung. Die Industrie spielte in der alten Handelsstadt nur eine untergeordnete Rolle und gefährdete damit weniger das althergebrachte Sozialgefüge. Das starke Traditionsbewußtsein einheimischer Handwerker führte dazu, dass die Gründung von Gewerkschaften eher in den Berufszweigen mit hohen Anteilen an ungelernten oder wenig ausgebildeten Arbeitern (u. a. Bauarbeiter, Seeleute) erfolgte. Die geringe Organisationserfahrung dieser Leute war später eine Ursache für den weitestgehenden Zusammenbruch der ab 1885 entstandenen, eher philantropisch orientierten, soziali­stischen Bewegung nach dem Tod ihres Initiators, des Dänen Sophus Pihl 1888. Dieser politisch wenig vorgebildete Personen­kreis bildete die Basis für die theoretisch fundierte Agitation des deutschen Fischhändlers Victor Braune, der die politische Arbeit Sophus Pihls fortsetzte. Daraus resultierte eine sozialistischere Ausrichtung der Arbeiterbewegung in Bergen.[7]

Die Gewerkschaften schlossen sich meist zu fachlichen Landes­verbänden oder regionalen überfachlichen Vereinigungen zusammen. Organistionshöhepunkt war 1899 die Gründung des Norwegischen Gewerkschaftsbundes als Dachorganisation der gewerkschaftlichen Landesverbände, der Landesorganisasjon, LO, auf dessen Gründungskongress die Vereinigung mit der Sozial­demokratischen Partei beschlossen wurde. Dieses enge Verhältnis von Gewerkschaften und Partei war typisch für Deutschland und hatte Vorbildfunktion für die Nordischen Länder.[8]

Parallel zu den Gewerkschaftsgründungen entstanden die ersten Arbeitervereine, und dabei faßte eine Sozialdemokratie Fuß, die deutlich deutschen Ursprungs war. Aus der Gewerkschaftsbe­wegung heraus wurde in Kristiania 1885 die erste sozialistische Arbeiterpartei „Socialdemokratisk Forening“ mit dem Typogra­phen Christian Holtermann Knudsen als Vorsitzendem gegründet. Deren erstes Programm war eine Übersetzung des dänischen sozialdemokratischen Programms, das wiederum eine Kopie des deutschen Gothaer Programms von 1875 war[9] (vgl. Kap. 3)

Dänemark spielte in diesem Zeitraum überhaupt eine wichtige Vermittlerposition für organisatorische und ideologische Impulse aus Deutschland, die die lebendigen Verbindungen zwischen der dänischen und der deutschen Arbeiterbewegung widerspiegelten. Über Dänemark gelangte deutsche sozialistische Literatur u. a. von Marx, Engels und Lassalle nach Norwegen. Dänen spielten außer­dem beim Aufbau der lokalen Arbeitervereinigungen eine entscheidende Rolle. Neben Sophus Pihl in Bergen war in Kristiania der Däne Carl Jeppesen eine der treibenden Kräfte bei der Gründung der „Socialdemokratisk Forening“. Aber es gab auch direkte Kontakte zu Deutschen und nach Deutschland: In Kristiania arbeitete Christian Holtermann Knudsen eng mit dem deutschen Typographen F. P. Schulze zusammen, und Carl Jeppesen lebte und arbeitete eine Zeit lang in Deutschland.[10]

1887 wurde auf einem Kongress in Arendal v. a. durch Verei­nigung der sozialdemokratischen Bewegungen von Kristiania und Bergen die erste landesweite Arbeiterpartei „Det forende norske Arbeiderparti“ gegründet, deren Programm zunächst noch nicht sozialistisch geprägt war. Erst 1889 wurde dem Programm auf Initiative Victor Braunes eine prinzipielle sozialistische Einleitung vorangestellt. Auf der Landesversammlung von Drammen 1891 beschloß die Arbeiterpartei die Übernahme des Erfurter Programms der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands des gleichen Jahres und erhielt damit endgültig eine sozialistische Prägung.[11]

In den 1890er Jahre begann ein langsames Wachstum der Sozial­demokratie. Seit 1894 trat „Det norske Arbeiterparti“ (DNA) bei Kommunal- und Stortingswahlen an und konnte nach anfänglichen Mißerfolgen erstmals 1903 Mitglieder im Storting stellen. Die 1890er Jahre waren geprägt von parteiinternen Konflikten (z. B. Unionsstreit, Massenaktionen), die sich bis zum Ende des ersten Weltkriegs hinzogen und mit der Durchsetzung des linken Flügels unter Kyrre Grepp und Martin Tranmæl endeten.[12] Der Beginn des 1. Weltkriegs 1914 beendete zunächst den Einfluss aus Deutsch­land, der nach dem Krieg verstärkt durch die russische Revolution wieder auflebte.

In diesem kurzen Abriss der Historie der norwegischen Arbeiter­bewegung wird bereits deutlich, dass es vielfältige theoretische, programmatische und personelle Impulse aus Deutschland gegeben hat, auch wenn diese nicht immer direkt sondern auch über Dänen und Schweden nach Norwegen gelangten. Wie stark sich diese Ein­flüsse letztendlich auf die Entstehung und Etablierung der norwegi­schen Arbeiterbewegung auswirkten, wird in der Literatur von ver­schiedenen Autoren differenziert bewertet. Während Halvard Lange von einem minimalen ausländischen Einfluss ausgeht[13], schreibt Axel Zachariassen von vermehrtem Interesse am Streit zwischen Kautsky und Bernstein[14] und Einar Terjesen bezeichnt den Gedanken- und Ideenimport als umfassend.[15] Einhart Lorenz bezieht dagegen eher ein Mittelposition, wenn er von bescheidenen deutschen Einwirkungen spricht, aber dennoch die Bedeutung und das Prestige der deutschen Arbeiterbewegung in Norwegen hervor­hebt.[16]

Diese Arbeit soll für den Zeitraum der Entstehungs- und Etablie­rungsphase der norwegischen Arbeiterbewegung von 1870 bis 1914 anhand von Programmen und Biographien die Spur deutscher Impulse auf Programme und Ideologie der Arbeiterorganisationen in Norwegen verfolgen. Dazu werden die Impulse aus Deutschland nach verschiedene Kategorien betrachtet. Die theoretischen Schriften von Marx, Engels, Lassalle etc. sowie die Partei­programme der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutsch­lands“ hinterließen Spuren bei der Entwicklung der norwegischen Arbeiterbewegung. Diese Impulse gelangten nicht nur auf schrift­lichem Wege nach Norwegen, sondern auch durch Vermittlung von Deutschen, die sich in politischen Vereinen und Parteien, aber auch in den Gewerkschaften engagierten. Norweger und nicht zuletzt auch Dänen und Schweden importierten ebenfalls organisatorische und ideologische Kenntnisse.

2. Theoretische Impulse

Gemeinsame Basis aller sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen sind die theoretischen Werke von Karls Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, die in jedem Land ihre spezifische Ausprägung erfuhren. Auch die sozialdemokratische Denkweise in Norwegen wurde seit 1885 stark durch Überset­zungen deutscher Schriften beeinflußt.[17]

Nach Norwegen gelangten diese Werke im wesentlichen über Dänemark und konnten ebenso wie andere grundlegende soziali­stische Schriften in der Zigarrenhandlung des Dänen Carl Jeppesen in Kristiania gekauft werden. Das „kommunistische Manifest“ und Lassalles „Arbeiterlesebuch“ wurden 1886/87 im Feuilleton des „Social-Demokraten“[18] publiziert. Als erstes Originalwerk auf Norwegisch erschien 1904 Engels „Socialimens utvikling fra utopi til vitenskap“[19]. Karl Kautskys „Karl Marx historiske virksom­hed“[20] und August Bebels „Kvinden og socialismen“[21] wurden 1908 bzw. 1912 von J. Aass herausgegeben. August Bebels Werk war auch in Norwegen eine der meistgekauften soziali­stischen Schriften. Der Kommentar Karl Kautskys zum Erfurter Programm wurde von Olaf Scheflo ins Norwegische übersetzt („Det socialistiske programm; Erfurt programmet“) und kam 1914 heraus.[22]

Bereits die ersten Sozialdemokraten in den 1880er Jahren hatten umfassende Kenntnisse der Schriften Marx, Engels und Lassalles. In den Artikeln, die Christian Holtermann Knudsen und der schwe­dische Tischler J. O. Ljungdahl in „Vort Arbeide“ bzw. „Social-Demokraten“ veröffentlichten, wird deutlich, dass beide auf jeden Fall das 1. Kapitel von Marx „Kapital“ kannten. J. O. Ljungdahl bezieht sich außerdem 1885 in einem Artikel im „Vort Arbeide“ auf das eherne Lohngesetz von Ferdinand Lassalle. Ob diese Kenntnisse durch Lesen der entsprechenden Werke oder durch Popularisierungstexte erworben wurden, ist natürlich nicht mehr nachvollziehbar. Ausländische Zeitschriften wurden auf jeden Fall von den führenden Kreisen der Partei gelesen und die Inhalte den Mitgliedern durch Artikel im „Social-Demokraten“ oder durch Vorträge vermittelt.[23]

Durch Studien- und Schulungsarbeit - eine wichtige Aktivität in der Arbeiterbewegung - wurden diese theoretischen Arbeiten weiter verbreitet. 1890 war in Kristiania der „Klubben Karl Marx“ als erste Studiengruppe gegründet worden und 1893 die erste soziali­stische Agitationsschule, deren Basis für die Schulungsarbeit v. a „Das Kapital“ von Marx war. In der 1909 gegründeten „Den socialdemokratiske Aftenskole“ erhielt Karl Marx erstmals einen bedeutenden, wenn auch nicht einzigartigen Platz.[24] In Bergen waren für den Deutschen Victor Braune die Schriften Marx und Engels ebenfalls die Grundlage für seine intensive Schulungsarbeit, die der örtlichen sozialistischen Bewegung eine vorwiegend jugendliche Anhängerschaft zuführte.[25] Für die norwegischen Sozialdemokraten waren allerdings weniger die theoretischen Schriften von Marx von Interesse, sondern eher seine Kapita­lismus-Analysen, obwohl Elemente der marxistischen Theorie zur Propaganda und Agitation im Klassenkampf verwendet wurden und als wichtige Bausteine in die sozialdemokratische Denkweise eingingen. Auch wenn diese Elemente nicht für den politischen Kurs bestimmend waren, trugen sie doch zur Förderung der Arbeiterbefreiung bei, indem sie den örtlichen Arbeitskampf als Teil eines internationalen Kampfes erscheinen ließen.[26]

Es war selbstverständlich, sich auf Marx zu berufen, und Christian Holtermann Knudsen brachte dies auf den Punkt in seiner Aussage: „Wenn man sich nicht zu Karl Marx Doktrinen bekennt, kann man sich nicht Sozialdemokrat nennen“.[27] Aber intensive theoretische Auseinandersetzungen wie in Deutschland üblich fanden in Norwegen nicht statt. Die einzige theoretische Debatte vor 1900 führten 1888 Victor Braune und Carl Jeppesen im „Social-Demo­kraten“ über die Landwirtschaftsfrage, ein Thema, das zu diesem Zeitpunkt keine praktische Relevanz für die Organisationsfrage der Arbeiterbewegung hatte. Die Rede Ludwig Meyers auf dem Herbstfest anläßlich Lassalles Todestags[28] 1896 macht deutlich, dass in Norwegen Marx und Lassalle nicht im Gegensatz zuein­ander standen, sondern sich ergänzten. Beide erfüllten für die Norweger eher die Funktion als Helden und Symbole. Sie wurden bei passenden Gelegenheiten zitiert, wobei die Zitate allerdings nicht immer korrekt zugeordnet wurden.[29]

Die meisten nach Norwegen übertragenen sozialdemokratischen Ideen stammten allerdings von Ferdinand Lassalle. Sein ehernes Lohngesetz wurde z. B. explizit übernommen und als Begründung
für die politische Organisation verwendet. Im Gegensatz zu den Aussagen Lassalles engagierte sich die Arbeiterpartei auch auf gewerkschaftlichem Gebiet, v. a. nach der Gründung der Landes­organisation 1899, als die DNA auch als gewerkschaftliches Koor­dinationsorgan fungierte.[30]

Die Bedeutung von Marx und Lassalle dokumentierte auch das von Andreas Paulson 1914 herausgegebene Heft mit Leseempfehlungen für Arbeiter („Hvad skal arbeiderne læse?“). Darin verwies er nicht nur auf englische Schriften, sondern auch auf die Klassiker von Karl Marx („Lønarbeid og kapital“) und Ferdinand Lassalle („Arbeidsprogram“).[31]

Neben den Originalwerken waren Artikel im „Social-Demokraten“ wesentliche Quelle für die Kenntnisse über die deutsche Sozialde­mokratie. Die Zeitung brachte in unregelmäßigen Abständen Artikel, die aus deutschen Blättern wie „Vorwärts“, „Neue Zeit“ oder „Sozialistische Monatshefte“ stammten. Ob es sich dabei um direkte Übersetzungen aus dem Deutschen handelte, oder um Übertragungen aus dem Dänischen oder Schwedischen, ist nicht bekannt.[32]

Die in Deutschland ab 1890 geführten Grundsatzdiskussionen wurden in Norwegen differenziert zur Kenntnis genommen. Häufig spielten sie außerhalb der ausländischen Quellen des „Social-Demokraten“ nur eine geringe Rolle.[33]

Der Skandinavische Arbeiterkongress von 1890 in Kristiania spiegelte allerdings einen Streit innerhalb der meisten soziali­stischen Arbeiterbewegungen wider, der von Deutschland ausge­gangen war, als es zu Differenzen zwischen den „Jungen“ auf der einen und August Bebel und Wilhelm Liebknecht auf der anderen Seite kam. Der „Social-Demokrat“ stellte sich auf die Seite von Bebel und Liebknecht, publizierte Artikel zu dem deutschen Parteien­streit.[34]

Die Revisionismusdebatte[35] dagegen, die sich in den meisten euro­päischen sozialistischen Parteien niederschlug, fand in Norwegen nur geringes Interesse und wirkte sich nach Aussage der führenden Männer in der norwegischen Arbeiterpartei (Carl Jeppesen, Ludvig Meyer, Gjøstein, Christopher Hornsrud und Magnus Nilssen) nicht auf die Programmbesprechung oder die praktische Politik aus. Außer Ludvig Meyer hatte kein führender norwegischer Politiker persönliche Eindrücke vom Revisionismusstreit[36] (vgl. Kap. 4.2). Der „Social-Demokrat“ veröffentlichte Artikel zur Diskussion innerhalb der deutschen Partei, stellte sich aber auf die Seite von August Bebel und Karl Kautsky und drückte 1897 sogar seine Freude über den Sieg Bebels aus. 1898 erschienen dazu im „Social-Demokraten“ zwei unkommentierte Artikel von Bernstein. Die im gleichen Jahr auf dem Stuttgarter Kongress stattfindende große Debatte wurde dagegen in einem Leitartikel des „Social-Demo­kraten“ kommentiert und die Notwendigkeit zur Einführung bürgerlicher Elemente in die Anschauung aufgezeigt.[37] 1899 nahm die Zeitung erstmals eine Einschätzung der Gesichtspunkte des Revisionismus vor, als Eduard Bernsteins Buch „Sosialismens forutsetninger og sosialdemokratiets opgaver“[38] herauskam. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte bereits eine Neuorientierung innerhalb „Det norske arbeiderparti“ stattgefunden, die ihren Ausdruck in den auf der Versammlung in Fredrikstad 1898 beschlossenen dem Refor­mismus verwandten prinzipiellen Gesichtspunkten sowie die Programmrevisionen von 1901/02 fand. Bestimmend dafür waren allerdings nicht theoretische Diskussionen, sondern praktische Erfahrungen im eigenen Land, obwohl hier die gleichen ökono­mischen und politischen Ursachen wie bei Bernsteins Revisionis­mus ein Rolle spielten. Die eigentliche Debatte zwischen Bernstein und Kautsky wurde in Norwegen erst nach der Neuorientierung der Arbeiterpartei und Gründung der Jugendzeitschrift „Det tyvende Aarhundrede“ 1900 diskutiert.[39]

[...]


[1] Edvard Bull, Norwegische Gewerkschaftsbewegung, Köln 1960, S. 26-29.
Edvard Bull, Arbeiderklassen blir til (1850 - 1900), Arbeiderbevegelsens historie i Norge, Bd. 1, Oslo 1985, S. 204-236. Einhart Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie. Norsk sosialisme i internasjonalt perskpektiv, 1. del 1789-1930, Oslo 1972, S. 21-38. Aksel Zachariassen, Fra Marcus Thrane til Martin Tranmæl, Oslo 1962, S. 1-47.

[2] T. K. Derry, A History of Modern Norway 1814 - 1972, Oxford 1973, S. 134.

[3] Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie, S. 62. Bull, Gewerkschaftsbewegung, S. 31

[4] Bull, Gewerkschaftsbewegung, S. 30, 31. Arne Ording, Arbeiderbevegelsen fram til 1887, in Halvdan Koht (Hrsg.), Det Norske Arbeiderpartis historie 1887-1937, Bd. 1, Oslo 1937, S. 40, 45.
Edvard Bull, Den socialdemokratiske bevægelse i Norge. En historisk oversigt, Trondheim ca. 1917, S. 6, 10.
T. K. Derry, A History of Modern Norway, S. 135. Martin Gerhardt, Walther Hubatsch, Norwegische Geschichte, Bonn 1963, S. 230. Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie, S. 62. Zachariassen, Fra Marcus Thrane til Martin Tranmæl, S. 55, 56.

[5] Bull, Gewerkschaftsbewegung, S. 42, 43.

[6] Bull, Arbeiderklassen, S. 160. Einhart Lorenz, „Vorwärts“ und „Freiheit“. To tyske sosialistenforeninger i Kristiania, in: Arbeiderhistorie 1991, Oslo 1991, S. 160-165. Einhart Lorenz, Deutsche Einflüsse in der norwegischen Arbeiterbewegung, in: ders. (Hrsg.) Forschungen zur Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Norwegen (Mitteilungsblatt des Instituts zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung (IGA), Heft 19/97), Essen 1997, S. 112-114, 116-118.

[7] Bull, Arbeiderklassen, S. 390, 396, 399-401. Bull, Den socialdemokratiske bevægelse, S. 10. Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie, S. 65. Joachim Neumann, Mellom Dresden og Bergen fra Victor Braunes livshistorie (1861-1940), in: Arbeiderhistorie, Oslo 1992, S. 119-129. Joachim Neumann, Fritz Petrick, Victor Braune und die Norwegische Arbeiterpartei (1887-1889), in Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 29, 1987, S. 503-507. Ording, Arbeiderbevegelsen, S. 68. Zachariassen, Fra Marcus Thrane til Martin Tranmæl, S. 78.

[8] Ronald Bahlburg, Die norwegischen Parteien von ihren Anfängen bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Eine ideen- und verfassungsgeschichtliche Betrachtung sowie parteientheoretische Einordnung (Europäische Hochschulschriften, Reihe 31, Politikwissenschaft, Bd. 144), Frankfurta. M. 1989, S. 111. Bull, Gewerkschaftsbewegung, S. 32, 34, 44. Bull, Arbeiderklassen, S. 403, 404, 444, 460, 521, 522. Derry, A History of Modern Norway, S. 156. Halvard Lange, Arbeiderpartiets Historie 1887-1905, in: Halvdan Koht (Hrsg.), Det Norske Arbeiderpartis Historie 1887-1937, Bd. 1, Oslo 1937. S. 124. Ording, Arbeiderbevegelsen, S. 65.

[9] Bahlburg, Die Norwegischen Parteien, S. 111. Bull, Gewerkschaftsbewegung S. 57. Ording, Arbeiderbevegelsen, S. 56, 61.

[10] Einhart Lorenz, Neuere Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Norwegen und Schweden, in: Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter und Arbeiterbewegung im Vergleich (HZ Sonderheft 15), München 1986, S. 737, 738. Ording, Arbeiderbevegelsen, S. 58.

[11] Bahlburg, Die Norwegischen Parteien, S. 112. Bull, Den socialdemokratiske bevegælse, S. 11. Bull, Gewerkschaftsbewegung, S. 33. Bull, Arbeiderklassen, S, 369, 394, 401, 520. Derry, A Historiy of Modern Norway, S. 156. Lange, Arbeiderpartiets Historie, S. 102, 125. Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie, S. 65. Neumann/Petrick, Victor Braune, S. 503. Einar Terjesen, Marxismen og det norske sosialdemokratiet 1884-1910, in: Vardøger 14, Trondheim 1984, S. 136.

[12] Bull, Arbeiderklassen, S. 521, 522. Lange, Arbeiderpartiets Historie, S. 131. Zachariassen, Fra Marcus Thrane til Martin Tranmæl, S. 112, 155.

[13] Lange, Arbeiderpartiets Historie, S. 234. Halvard Lange, Fra sekt til parti. Det norske Arbeiderpartis organisajonsmessige og politiske utvikling fra 1891 til 1902, Oslo 1962, S. 202-209.

[14] Zachariassen, Fra Marcus Thrane til Martin Tranmæl, S. 128.

[15] Terjesen, Marxismen, S. 121.

[16] Lorenz, Deutsche Einflüsse, S. 111-118.

[17] Bull, Gewerkschaftsbewegung, S. 57.

[18] Der „Social-Demokrat“ war das Mitteilungsblatt der „Socialdemokratisk Forening“ in Kristinia, wo es 1884 unter dem Titel „Vort Arbeide“ von Christian Holtermann Knudsen gegründet worden war. Später wird die Zeitung von der Arbeiterpartei übernommen und deren Hauptorgan.

[19] Originaltitel erschienen 1882: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“.

[20] Originaltitel: erschienen 1908: „Die historische Leistung von Karl Marx“.

[21] Originaltitel erschienen 1879: „Die Frau und der Sozialismus“

[22] Die dänische Übersetzung des 1. Band von Marx „Das Kapital“ erschien 1885 in der von Kopenhagener Sozialdemokraten herausgegebenen „Sozialistischen Bibliothek“, 1887 die Übersetzung des 2. Teils. Friedrich Engels „Socialismens utvikling fra utopi til vitenskap“ erschien in der Reihe „Socialistiske Smaaskrifter“, die ab 1903 von der DNA herausgegeben wurde. Bull, Arbeiderklassen, S. 378. Gerhardt/Hubatsch, Norwegische Geschichte, S. 231. Terjesen, Marxismen, S. 126, 128, 129.

[23] Lange, Fra sekt til partei, S. 204. Terjesen, Marxismen, S. 125, 140, 141.

[24] Terjesen, Marxismen, S. 126, 127.

[25] Lange, Arbeiderpartiets Historie, S. 88. Neumann, Mellom Dresden og Bergen, S. 121. Neumann/Petrick, Victor Braune, S. 504.

[26] Edvard Bull, Sozialgeschichte der norwegischen Demokratie, Stuttgart 1969, S. 67. Terjesen, Marxismen, S. 121, 125, 126.

[27] Das Zitat von Christian Holtermann Knudsen wurde von mir übersetzt und lautet im Original: „Hvis man ikke bekjendte ... sig til Karl Marx`s doktriner ... kunde man ikke kalde sig socialdemokrat“ (zitiert nach Terjesen, Marxismen, S. 125.)

[28] Das jährliche Herbstfest zur Erinnerung an Ferdinand Lassalles Todestag war in den 1890er Jahren aus Deutschland übernommen worden. Terjesen, Marxismen S. 136

[29] Terjesen, Marxismen, S. 121, 125, 134-136, 143. Einar Terjesen, Arbeiderbevegelse og politik i Norge 1890er arene, Arbeiderhistorie, Oslo 1991, S. 43.

[30] Terjesen, Marxismen, S. 136, 142.

[31] Ebd. S. 128.

[32] Neben dänischen und schwedischen Parteiorganen und dem deutschen „Vorwärts“ wurden ab 1899 außerdem die „Soziale Praxis“ und das „Centralblatt für Sozialpolitik“ aus Deutschland angeschafft. Lange, Fra sekt til parti, S. 204.

[33] Lange, Fra sekt til parti, S. 204.

[34] In Deutschland hatte sich Ende der 80er Jahre eine Gruppe von „Jungen“ gebildet, die die Beschränkung auf parlamentarische Reformarbeit als Wandel der revolutionären Sozialdemokratie zu einer kleinbürgerlichen Bewegung kritisierten. Die Mehrheit innerhalb der Sozialdemokratischen Partei beharrte allerdings auf die Unverzichtbarkeit einer an der Tagespolitik orientierten Reformarbeit, um Erfolge bei den Massen zu erreichen. Helga Grebing, Arbeiterbewegung. Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914, München 19 85, S. 109. Lange, Arbeiderpartiets Historie, S. 129.

[35] Der Revisionismus, der vor dem 1. Weltkrieg in Deutschland von Eduard Bernstein propagiert wurde, war eine reformistisch-gemäßigte Richtung in der Sozialdemokratie, die eine aktive Mitarbeit in den Volksvertretungen befürwortete und die marxistische Theorie von einem bevorstehenden Zusammenbruch der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verwirft. Die innerparteiliche Opposition wurde von Karl Kautsky und August Bebel angeführt, die auf die Unaufgebbarkeit des marxistischen Selbstverständnis und die Notwendigkeit eines ökonomischen und politischen Zusammenbruchs des Kapitalismus beharrten. Grebing, Arbeiterbewegung, S. 112-116.

[36] Lange, Arbeiderpartiets Historie, S. 234. Lange, Fra sekt til parti, S. 203. Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie, S. 75. Terjesen, Marxismen, S. 121.

[37] „Socialdemokratiet og samfundets revolutionering“ und „Verdenskrisen“ (Lange, Fra sekt til parti, S. 205.)

[38] Originaltitel: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“.

[39] Vor allem die Forderung nach dem allgemeinen Stimmrecht eröffnete in Norwegen neue Perspektiven für die Politik der Arbeiterbewegung. Lange, Fra sekt til partei, S. 205-207, 234. Lorenz, Arbeiderbevegelsens historie, S. 75.

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Details

Titel
Deutsche Impulse in der Entstehungs- und Etablierungsphase der norwegischen Arbeiterbewegung (1870-1914)
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Historisches Institut)
Note
2,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
66
Katalognummer
V26128
ISBN (eBook)
9783638285537
ISBN (Buch)
9783638848220
Dateigröße
707 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Deutsche, Impulse, Entstehungs-, Etablierungsphase, Arbeiterbewegung
Arbeit zitieren
Andrea Clemens (Autor:in), 2004, Deutsche Impulse in der Entstehungs- und Etablierungsphase der norwegischen Arbeiterbewegung (1870-1914), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26128

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