„Politik ist die Kunst des Möglichen.“ Dieser vielfach zitierte Ausspruch von Otto von Bismarck fasst auf prägnante Weise zusammen, dass Politik dazu da sein sollte, Perspektiven zu eröffnen und möglich zu machen. In der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben wir durchaus Beispiele dafür, wie Politiker die Kunst der Politik erfolgreich ausgeübt haben. Die Entspannungspolitik Willy Brandts eröffnete dem geteilten Deutschland neue Perspektiven und legte den Grundstein dafür, dass es 1990 zur Wiedervereinigung kommen konnte, die ein weiteres Beispiel der „Kunst des Möglichen“ ist. Auf der anderen Seite gibt es auch zahlreiche Beispiele für das Versagen der Politik. So zeigte sich bereits kurze Zeit nach der Wiedervereinigung, dass die im Zuge der Wiedervereinigung gemachten Versprechen der „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland nicht oder noch nicht realisierbar waren. Der anfänglichen Euphorie folgte Resignation, und auch in der aktuellen Lage, mehr als ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung, tun sich die „Künstler des Möglichen“ schwer, dem wiedervereinigten Deutschland Zukunftsperspektiven deutlich zu machen.
Anhand dreier Regierungserklärungen aus den Jahren 1972, 1990 und 1994 sollen in dieser Seminararbeit diese eben erwähnten Etappen aus linguistischer Sicht näher beleuchtet werden. Eine Regierungserklärung Willy Brandts vor dem Bundestag am 23. Februar 1972 wird dabei mit zwei Regierungserklärungen aus den Jahren 1990 und 1994 verglichen, die vor dem sachsen-anhaltinischen Landtag gehalten wurden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Gies vom 02.11.1990
2.1 Redekontext
2.2 Redeinterne Merkmale
2.2.1 Makrostruktur
2.2.2 Initiatoren
2.2.3 Terminatoren
2.2.4 Schlüsselwörter
2.2.5 Gruppenbezeichnungen
2.2.6 Strukturelle Anordnungsprinzipien
2.2.7 Leerformeln
2.2.8 Nominalsätze
2.2.9 Parenthesen
3 Die Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Höppner vom 08.09.1994
3.1 Redekontext
3.2 Redeinterne Merkmale
3.2.1 Makrostruktur
3.2.2 Initiatoren
3.2.3 Terminatoren
3.2.4 Schlüsselwörter
3.2.5 Gruppenbezeichnungen
3.2.6 Strukturelle Anordnungsprinzipien
3.2.7 Leerformeln
3.2.8 Nominalsätze
3.2.9 Parenthesen
3.2.10 Zwischenrufe
4 Vergleich der Regierungserklärungen aus dem Landtag Sachsen-Anhalts mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vom 23. Februar 1972
4.1 Redexterne Merkmale der Regierungserklärungen
4.2 Redeinterne Merkmale der Regierungserklärungen
5 Résumé
Literaturverzeichnis
Anhang
Landtag von Sachsen-Anhalt, 2. Wahlperiode, Plenarprotokoll 2/3, 08.09.1994
1 Einleitung
„Politik ist die Kunst des Möglichen.“ Dieser vielfach zitierte Ausspruch von Otto von Bismarck fasst auf prägnante Weise zusammen, dass Politik dazu da sein sollte, Perspektiven zu eröffnen und möglich zu machen. In der jüngsten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben wir durchaus Beispiele dafür, wie Politiker die Kunst der Politik erfolgreich ausgeübt haben. Die Entspannungspolitik Willy Brandts eröffnete dem geteilten Deutschland neue Perspektiven und legte den Grundstein dafür, dass es 1990 zur Wiedervereinigung kommen konnte, die ein weiteres Beispiel der „Kunst des Möglichen“ ist. Auf der anderen Seite gibt es auch zahlreiche Beispiele für das Versagen der Politik. So zeigte sich bereits kurze Zeit nach der Wiedervereinigung, dass die im Zuge der Wiedervereinigung gemachten Versprechen der „blühenden Landschaften“ in Ostdeutschland nicht oder noch nicht realisierbar waren. Der anfänglichen Euphorie folgte Resignation, und auch in der aktuellen Lage, mehr als ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung, tun sich die „Künstler des Möglichen“ schwer, dem wiedervereinigten Deutschland Zukunftsperspektiven deutlich zu machen.
Anhand dreier Regierungserklärungen aus den Jahren 1972, 1990 und 1994 sollen in dieser Seminararbeit diese eben erwähnten Etappen aus linguistischer Sicht näher beleuchtet werden. Eine Regierungserklärung Willy Brandts vor dem Bundestag am 23. Februar 1972 wird dabei mit zwei Regierungserklärungen aus den Jahren 1990 und 1994 verglichen, die vor dem sachsen-anhaltinischen Landtag gehalten wurden.
Das Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschlands bezeichnet die Redesorte „Regierungserklärung“ als eine „Absichtserklärung einer neu gebildeten Regierung“ und ergänzt hierzu: „Regierungserklärungen verdeutlichen den Kompromissrahmen eines politischen Zweckbündnisses auf Zeit und bieten entsprechend dieser Bestimmung meist eine Mischung aus grundsätzlichen Positionsbestimmungen und konkreten Lösungsbeschreibungen zu ganz bestimmten Problemfeldern.“[1] Regierungen definieren demnach mit der Abgabe einer Regierungserklärung ihre politischen Ziele der neuen Legislaturperiode. Regierungserklärungen können jedoch auch innerhalb einer Legislaturperiode gehalten werden. In diesem Fall dienen sie „neben der Unterrichtung des Parlaments und der Öffentlichkeit immer auch der sprachregelnden "Einschwörung" der an der Koalitionsregierung beteiligten Parlamentsfraktionen“.[2] Regierungserklärungen sind unter den Sorten politischer Rede von besonderer Relevanz, da sie von den politischen Entscheidungsträgern vorgetragen, denen die Gestaltung der „Kunst des Möglichen“ obliegt.
Im Folgenden soll die Redesorte „Regierungserklärung“ im Zentrum dieser Seminararbeit stehen und aus linguistischer Sicht analysiert und verglichen werden. Dabei soll sich das angewandte Verfahren an dem von Simmler[3] orientieren, der die Organisationseinheit des Deutschen Bundestages unter textuellem Aspekt betrachtet. Die Regierungserklärungen des Bundeslands Sachsen-Anhalt werden unter Punkt 2 und 3 zunächst separat analysiert der Vergleich mit der Rede Willy Brandts erfolgt unter Punkt 4. Dabei sollen Unterschiede und Gemeinsamkeiten bezüglich der internen und externen Merkmale, aber auch der Redekontext im Vordergrund stehen. Punkt 5 fasst die Ergebnisse des Vergleichs zusammen.
2 Die Regierungserklärung von Ministerpräsident Dr. Gies vom 02.11.1990
2.1 Redekontext
Im Zuge der Wiedervereinigung vom 03.10.1990 entstehen fünf neue Bundesländer, darunter auch Sachsen-Anhalt. Am 14.10.1990 finden die ersten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt statt, aus denen die Christliche Demokratische Union (CDU) mit 39% der abgegebenen Stimmen als klarer Sieger hervorgeht. Nach Koalitionsgesprächen bilden sie zusammen mit der Freien Demokratischen Partei (FDP), die 13,5% der Stimmen auf sich vereinigen kann, die erste Regierungskoalition Sachsen-Anhalts. Auf der konstituierenden Sitzung vom 28. Oktober 1990 wird der CDU-Abgeordnete Dr. Gies zum Ministerpräsidenten gewählt. Die zweite Sitzung des Landtages in der ersten Legislaturperiode findet am 2. November 1990 statt. Die im folgenden behandelte Regierungserklärung erfolgt nach dem Gelöbnis der Minister und einem Presse-Fototermin, für den die Sitzung unterbrochen wird.
2.2 Redeinterne Merkmale
2.2.1 Makrostruktur
Um dem Leser zunächst einen inhaltlichen Überblick über die Rede des Ministerpräsidenten zu geben, soll in einem ersten Punkt grob auf die Makrostruktur eingegangen werden und dabei die Inhalte der Rede kurz umrissen werden. Einige strukturelle Anordnungsmerkmale werden dabei bereits deutlich, ausführlich sollen diese jedoch erst unter Punkt 2.2.6 behandelt werden.
Die Einleitung hat Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zum Thema. Zunächst wird der politische Neubeginn Sachsen-Anhalts, die gegenwärtige Situation, thematisiert:„Mit der Einheit Deutschlands (...) ist das Land Sachsen-Anhalt als neues Bundesland der Bundesrepublik Deutschland wieder entstanden.“[4] Der demokratische Neubeginn wird vom Ministerpräsidenten begrüßt, er weist jedoch auch auf Schwierigkeiten durch die Lasten der Vergangenheit hin: „Diktatur, Unrecht und Mißwirtschaft haben das Land ausgebeutet und an den Rand des Abgrundes gebracht.“[5] Die Überwindung der „Mißstände der Vergangenheit“[6] stellt Gieß am Ende der Einleitung als Zukunftsperspektive in Aussicht. Seine Politik soll darauf abzielen, Sachsen-Anhalt „bald zu einem blühenden Land im Herzen Deutschlands“[7] zu machen.
Der Hauptteil, eingeleitet durch „Meine Damen und Herren!“[8], beinhaltet die politischen Ziele der Regierung. Alle Punkte präzisiert er im Folgenden, beginnt zunächst mit dem letzten von ihm genannten Punkt, dem „Heimat- und Zusammengehörigkeitsgefühl“ und erläutert danach die Punkte 1-5 ausführlicher. Im Anschluss fügt er einen letzten, bisher nicht genannten Punkt hinzu, die Finanzpolitik und kündigt einen sparsamen Umgang mit finanziellen Mitteln an.[9]
Der Schluss seiner Rede wird durch die erneute Anrede des Präsidenten und der anwesenden Abgeordneten eingeleitet:„Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren“[10]. Gies appelliert an die Geschlossenheit und das Verantwortungsbewusstsein aller Fraktionen, um die anstehenden politischen Probleme zu lösen und ruft die Abgeordneten zu einem gemeinsamen Neubeginn auf: „Lassen Sie uns gemeinsam beginnen - für unser Land, für seine Menschen, mit Gottes Hilfe.“[11]
2.2.2 Initiatoren
Als erster Initiator der Regierungserklärung ist die Worterteilung durch den Präsidenten anzusehen: „Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 4: Abgabe der Regierungserklärung durch den Ministerpräsidenten. Herr Ministerpräsident, ich bitte Sie, das Wort zu nehmen.“[12] Die Worterteilung durch den Präsidenten erfolgt für alle Redner. Redesortenspezifisch wird sie erst durch die Nennung der Redesorte und der politischen Position des Sprechers.
Ein weiterer Initiator ist die Ergreifung des Wortes durch den Redner: „Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!“[13]. Isoliert betrachtet ist dieser Initiator nicht redesortenspezifisch, da dieser Redebeginn in gleicher oder ähnlicher Weise durch jeden Redner des Landtags erfolgt. In Verbindung zu anderen Initiatoren und weiteren noch zu behandelnden Merkmalen können jedoch Rückschlüsse auf die Redesorte gezogen werden.
Auch einen dritten Initiator kann man in der Rede ausfindig machen. Gies kündigt an, die „Grundzüge der Regierungsarbeit“[14] vorzustellen.“ Die Redesorte „Regierungserklärung“ wird nicht explizit vom Ministerpräsidenten erwähnt. „Die Grundzüge der Regierungsarbeit“ können jedoch synonym zum Terminus „Regierungserklärung“ gesehen werden, denn in Verbindung mit der bereits durch den ersten Initiator gekennzeichneten Redesorte und Rolle des Sprechers werden klare Hinweise auf eine Regierungserklärung gegeben. Das Thema der Rede folgt direkt auf den dritten Initiator: Es sollen „einige Schwerpunkte“[15] vorgestellt werden.
2.2.3 Terminatoren
Innerhalb der Regierungserklärung kann man mehrere Terminatoren ausfindig machen. Der Ministerpräsident kommt zum Punkt der Finanzpolitik, wodurch das Ende seiner Regierungserklärung bereits in Aussicht gestellt wird: „Ich komme zum letzten, doch sehr wichtigen Teil, der Finanzpolitik.“[16]
Sein direktes Schlusswort wird durch die erneute Anrede des Präsidenten und der anwesenden Abgeordneten „„Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!“[17] eingeleitet, nach welcher er ergänzt: „Ich bin am Ende meiner Ausführungen.“[18]. Der an alle Anwesenden gerichtete Appell „Lassen Sie uns gemeinsam beginnen“[19] sowie sein abschließender Dank an das Plenum „Ich danke Ihnen.“[20] sind weitere Terminatoren innerhalb seiner Regierungserklärung. Es handelt sich auch in diesem Fall um Äußerungen, die in dieser Form auch in anderen Redesorten vorkommen können. Durch das Beziehungsgefüge der Terminatoren untereinander und der Verbindung mit anderen Merkmalen, wie die noch näher zu betrachtenden Gruppenbezeichnungen, liefern die Terminatoren im textuellen Zusammenhang dennoch Hinweise auf die Redesorte.
Weitere Terminatoren lassen sich durch die erneute Wortergreifung durch den Präsidenten feststellen – schon die Wortergreifung des Präsidenten an sich stellt einen weiteren, nicht redesortenspezifischen Terminator dar, der von ihm geäußerte Dank ist hingegen durch die Nennung der Redesorte und der Rolle des Redners redesortenspezifisch: „Herr Ministerpräsident, ich danke Ihnen für Ihre Regierungserklärung.“[21]
2.2.4 Schlüsselwörter
Mehrere Gruppen an Schlüsselwörtern prägen die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten. Grundsätzlich kann man sagen, dass im Hauptteil jeder einzelne der aufgeführten Schwerpunkte unterschiedliche Schlüsselwortbereiche beinhaltet. Im Wesentlichen beinhaltet die Kurzvorstellung der politischen Ziele zu Beginn des Hauptteils die jeweiligen Schlüsselwörter, da jeder Punkt inhaltlich kurz umrissen wird. So ist es beim zweiten Schwerpunktbereich beispielsweise wenig überraschend, dass die Schlüsselwörter „Wirtschaft“ und „Arbeit“ hervortreten, ergänzt durch zahlreiche mit ihnen gebildete Komposita wie „Wirtschaftspolitik“, „Wirtschaftsstandort“, „Wirtschaftsentwicklung“, „Arbeitgeber“ oder „Arbeitsplätze“.[22] Die durch Simmler erfolgte Aufteilung in verschiedene Gruppen lässt sich in diesem Redeexemplar größtenteils nachvollziehen, jedoch ist eine Zuordnung zu den gegebenen Gruppen nicht in jedem Fall eindeutig. Deswegen werde ich im Folgenden zwar zunächst eine Zuordnung nach dem von Simmler angewandten Schema vornehmen, dann aber auch auf die Gruppen an Schlüsselwörtern näher eingehen, die meines Erachtens nicht ohne Weiteres diesem Schema zuzuordnen sind. Dabei sollen die Verbindungen der Schlüsselwörter zueinander im Mittelpunkt stehen.
Als allgemeines Ziel der Regierungsarbeit benennt Gies zunächst einleitend, dass Sachsen-Anhalt „bald zu einem blühenden Land im Herzen Deutschlands wird und die Menschen hier in Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit leben können.“[23]. „Freiheit“, „Wohlstand“ und „Gerechtigkeit“ sind erste Schlüsselwörter, welche die Ziele der Politik angeben. Die „Freiheit“ zusammen mit den Adjektiven „freiheitlich“ und „frei“ der gleichen Wortfamilie prägt wesentliche Abschnitte der Regierungserklärung. Hinzu kommt ein Schlüsselwort, welches weit gehend synonym zum Freiheitsbegriff verwendet wird, das der „Demokratie“ bzw. sein Adjektiv „demokratisch“. Die von Gies aufgeführten sechs Schwerpunkte der Regierungsarbeit sind mit bestimmten Zielen verbunden und lassen sich bestimmten Schlüsselwörtern zuordnen. So sind „Wirtschaft“, „Arbeit“, „Umwelt“ und „Bildung“ und ihre jeweiligen Komposita bzw. weitere Schlüsselwörter, die Ziele seiner Regierungsarbeit sind.
Die Ausgangslage bezeichnet Herr Gies als eine „schwierige Situation“ und sieht „gewaltige Probleme“. „Probleme“, „schwierig“ und „schwer“ sind einige der Schlüsselwörter dieser zweiten Gruppe. Hinzu gesellt sich das Vokabular des Neuen: Sachsen-Anhalt „als neues Bundesland“ steht vor einem „Neubeginn“, wenn auch einem „schweren“. Hintergrund dessen ist die „Einheit“, die als Schlüsselwort ebenso wie „Einigungsvertrag“ Hinweise auf die Ausgangssituation der Legislaturperiode gibt.
Die Mittel, durch welche die Regierung ihre Ziele realisieren will, werden durch die dritte Gruppe an Schlüsselwörtern verdeutlicht. Diese Mittel lassen sich durch das Vokabular der „Schaffung“ und „Erneuerung“ umschreiben. „Zusammenarbeit“, „Umstrukturierung“, „Aufbau“, „Ausbau“, „Sanierung“, „Maßnahmen“ und „Verhandlungen“ konkretisieren hier die Vorgehensweise der Regierung. Die unterschiedlichen Begriffe sind zahlreich, jedoch fallen viele dieser Begriffe in gleiche Kategorien. Mit „Sanierung“, „Umstrukturierung“ oder „Ausbau“ ist letztlich eine Erneuerung gemeint, mit „Aufbau“ und „Schaffung“ ist die Erschaffung bzw. die Neubildung von Strukturen o.ä. gemeint. Zahlreich treten auch die entsprechenden Verben „schaffen“ oder „sanieren“ auf.
In einer letzten Schlüsselwortgruppe stehen die Ressorts im Vordergrund, auf welche die Maßnahmen ausgerichtet sind. Es werden zwar zahlreiche Ressorts in der Regierungserklärung aufgeführt, auf Grund ihrer hohen Frequenz und ihrer Verbindung mit anderen ihn verwandten Schlüsselwörtern wie „Umwelt“, „Wirtschaft“ und „Politik“ können vor allem „Umweltpolitik“, „Wirtschaftspolitik“ und „Bildungspolitik“ als Schlüsselwörter bezeichnet werden.
Die „Regierungserklärung“, welche als Schlüsselwort und Selbstbezeichnung der Redesorte eigentlich zu erwarten wäre, wird nicht vom Ministerpräsidenten verwendet. Man kann jedoch – wie bereits unter den Initiatoren erwähnt – von einem synonymen Gebrauch der Formulierung „Grundzüge der Regierungsarbeit“ zum Begriff „Regierungserklärung“ ausgehen, womit man diese Formulierung den Schlüsselwörtern zuordnen könnte und gleichzeitig ein Bezug zum ersten und dritten Initiator vorliegen würde.
Hoch interessant ist es, wie die unterschiedlichen Schlüsselwortgruppen miteinander verbunden bzw. gegenübergestellt werden. Auf der einen Seite wird die „Demokratie“ von Gies mit positiv belegtem Vokabular, mit „Freiheit, Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit“ verbunden. Die „Demokratie“ wird mit Vokabular des Neuen wie „das Land Sachsen-Anhalt als neues Bundesland“, „ erster frei gewählter Ministerpräsident“ oder „die erste Wahlperiode des Landtages von Sachsen-Anhalt...“[24] assoziiert. Merkmale der Demokratie und des Neuen verdichten sich in der Einleitung und gehen eine enge Beziehung zueinander ein, durch welche die Demokratie als Staatsform der Zukunft hervorgeht. Auf der anderen Seite erinnert Gies an den „Sozialismus“, der mit negativ belegtem Vokabular, mit „Diktatur, Unrecht und Mißwirtschaft“ verbunden wird. Mehrmals assoziiert er die Staatsform des Sozialismus mit der Vergangenheit, indem er die „Folgen 40jähriger Kommandowirtschaft und rücksichtsloser Ausbeutung“[25] erwähnt bzw. die schwierige Ausgangssituation als Ergebnis von „40 Jahren sozialistischer Misswirtschaft“[26] sieht. Das positive Neue und das negative Alte – diese Antithetik dominiert die Regierungserklärung maßgeblich und wird verstärkt durch die jeweils mit den Begriffen assoziierten positiven bzw. negativen Merkmalen der Staatsformen.
Der von Gies aufgeführte letzte Punkt, die „Wiedergewinnung eines Heimat- und Zusammengehörigkeitsgefühls der Menschen in Sachsen-Anhalt und einer eigenen, unverwechselbaren Identität dieses Landes“ nimmt eine zentrale Rolle ein. Seine Besonderheit wird dadurch deutlich, dass Gies ihn in der Reihenfolge bevorzugt behandelt. Auch im Vergleich zu den anderen aufgeführten Schwerpunkten sticht er hervor – während die Punkte 1-5 politische „Standardthemen“ wie Wirtschaft, Sozialpolitik oder Bildung zum Inhalt haben, fokussiert der Ministerpräsident unter Punkt 6 eine eher ungewöhnliche Thematik, die der Zusammengehörigkeit. Seine Ausführungen lesen sich zunächst wie eine touristisch-geschichtliche Einführung über das Bundesland Sachsen-Anhalt, welches von „reicher geschichtlicher und kultureller Tradition“ und „Landschaften von natürlicher Schönheit und vielfältigem Reiz“[27] geprägt ist. Die Intention des Ministerpräsidenten ist ein neues „Zusammengehörigkeitsgefühl“[28]. Er möchte den Abgeordneten und den Einwohnern Sachsen-Anhalts eine gemeinsame „Identität“ vermitteln, indem er auf die historischen, kulturellen und landschaftlichen Besonderheiten des Landes eingeht. Hier fällt eine neue Schlüsselwortgruppe auf, die an das Gemeinsame appelliert, das „Zusammengehörigkeitsgefühl“, die „Identität“ und „Identifikation“. Im Schlussteil wird diese Schlüsselwortgruppe aufgegriffen, indem der Ministerpräsident die Wichtigkeit des gemeinsamen Handelns betont und „die schwierigen Probleme des Landes über Parteigrenzen hinweg gemeinsam angehen“ will und an alle Anwesenden appelliert: „Lassen Sie uns gemeinsam beginnen (...)“[29]
2.2.5 Gruppenbezeichnungen
Die Gruppenbezeichnungen lassen sich in unterschiedliche Gruppen einordnen. Eine erste Gruppe hebt die soziale Rolle des Redners, seine Position im Landtag hervor. Es lassen sich zum einen substantivische Gruppenbezeichnungen wie „Landesregierung“ und „Ministerpräsident“ feststellen, zum anderen sind es Pronomina wie „wir“, „ich“, „mein“ und „unser“, welche die Regierungserklärung prägen. Die soziale Rolle des Sprechers und die Redesorte wird eindeutig durch diese Relationen deutlich: „In der Stunde des Neubeginns kann ich Ihnen heute nur die Grundzüge der Regierungsarbeit für die vor uns liegende Legislaturperiode vortragen.“[30]
Weitere Gruppenbezeichnungen stammen aus dem Bereich der parlamentarischen Arbeit. Hierzu gehören beispielweise „Landtag“, „Koalition“, „CDU“, „F.D.P.“ und „Fraktionen“ sowie „Damen und Herren“, „Herr Präsident“ und „Abgeordnete“. Diese Gruppenbezeichnungen sind durch den redeinternen Kontext in ihrer Verbindung mit den Schlüsselwörtern und den Gruppenbezeichnungen der ersten Gruppe redesortenspezifisch, beispielsweise in Äußerungen wie die „Landesregierung aus CDU und F.D.P“.[31] Durch die Anrede „Sie“ spricht der Ministerpräsident zudem die Abgeordneten in ihrer Gesamtheit an. Bezüge auf einzelne Parlamentarier kann man nicht feststellen.
Eine weitere Gruppe zielt auf den außerparlamentarischen Bereich der Öffentlichkeit, ab. „Frauen und Männer“, „Bürger“ und „Menschen“ gehen ebenso wie die vorhergehenden Gruppenbezeichnungen eine Verbindung mit anderen Gruppenbezeichnungen und Schlüsselwörtern ein. Dass „die Bürger in Sachsen-Anhalt zu einem neuen Zusammengehörigkeitsgefühl“[32] geführt werden sollen, ist ein Beispiel für eine solche Verbindung. Komplexere redeinterne Merkmalbündel lassen sich auch belegen: „Die Landesregierung wird alsbald den Entwurf eines Polizeigesetzes einbringen, das die Wahrnehmung der Freiheitsrechte eines jeden Bürgers sichert.“[33] In diesem Beispiel stehen Gruppenbezeichnungen zueinander in Beziehung, und das redeinterne Merkmalbündel wird durch Schlüsselwörter erweitert.
Eine vierte und letzte Gruppe an Gruppenbezeichnungen hat Institutionen, Gruppen und Verbände zum Gegenstand, welche nicht dem Landtag angehören. Zum einen stammen diese aus dem wirtschaftlichen Bereich („Treuhand“, „Arbeitnehmerschaft“, „Arbeitgeberschaft“, der „Öffentliche Dienst“), zum anderen sind es Gruppen aus unterschiedlichen Ebenen der Politik („Bundesregierung“, „Bund“, „Kommunen“, „Gemeinden“, „andere Länder“). Eine weitere Untergruppe ist vielfältiger gestreut und betrifft Institutionen wie „Gerichte“, „Polizei“ oder „Hochschulen“. Mit diesen Gruppen. möchte die Regierung verhandeln bzw. Beziehungen unterhalten. Auch diese Gruppenbezeichnungen sind oftmals in redeinternen Merkmalbündeln zu betrachten: „Die Landesregierung fühlt sich dem Grundsatz der Freiheit von Lehre und Forschung verpflichtet, aus dem sich die Autonomie der Hochschulen ergibt.“ In diesem Beispiel stehen Gruppenbezeichnungen zueinander in Verbindung und werden durch das Schlüsselwort „Freiheit“ erweitert.
2.2.6 Strukturelle Anordnungsprinzipien
Eine strukturierende Wirkung erfüllt zunächst die Anredeform „meine Damen und Herren“, die zum einen – auch in ihrer Funktion als Initiator - die Kontaktaufnahme mit den Anwesenden zum Ziel hat, zum anderen aber auch neue Gedankengänge und Unterpunkte einleitet, indem sich der Ministerpräsident durch die Anrede der Aufmerksamkeit der Anwesenden vergewissert. Auch die Kurzdarstellung der Ziele der Regierungspolitik trägt strukturbildende Merkmale: Die Aufzählungen „Erstens“, „Zweitens“[34] etc. strukturieren seine Ausführungen ebenso wie Leerformeln: „Ich komme nun“[35] bzw. „Lassen Sie mich (..) eingehen“[36] leiten neue Gedankengänge ein. Zahlreiche Absätze beginnen mit der Gruppenbezeichnung „Die Landesregierung“, auf welche die politischen Ziele der Regierung folgen. Strukturelle Merkmale wie Anredeformen und Leerformeln stehen häufig in Beziehung zueinander. In Beispielen wie „Lassen Sie mich nun, meine Damen und Herren, auf die Bereiche Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familien eingehen.“[37] liegt ein komplexes Gefüge unterschiedlicher redeinterner Merkmale vor. Auf die Leerformeln wird unter Punkt 2.2.7 näher eingegangen.
Auch Beifallsbekundungen als nonverbale Merkmale strukturieren die Regierungserklärung. Missfallensbekundungen sind ebenso wie Zwischenfragen, Zwischenrufe und Bezüge zu vorhergegangenen Regierungserklärungen nicht festzustellen. Letzteres ist nicht verwunderlich, schließlich handelt es sich um die erste Regierungserklärung im neuen Bundesland Sachsen-Anhalt. Bezüge lassen sich lediglich zur Staatsform des Sozialismus ausmachen.
2.2.7 Leerformeln
Leerformeln wie „Ich komme nun zur Landwirtschaft“[38] oder „Ich komme nun zur Bildungspolitik“[39] treten häufig auf, ebenso sowie die Wendung mit dem imperativischen „Lassen“: „Lassen Sie mich (...) nun zur Verfassungs- und Regierungsarbeit kommen“[40]. Beide Typen beinhalten das Adverb „nun“ zur Ankündigung der unmittelbar zeitlich darauf folgenden Äußerungen und verwenden das Verb „kommen“. Zudem haben sie eine strukturierende Funktion, wie bereits im vorigen Abschnitt erwähnt. Die Leerformeln haben inhaltlich keine konkrete Aussagekraft und sind fest stehende Redewendungen zur Satzeinleitung.. In diesem Zusammenhang wiederholen sie die bereits angekündigten Ziele der Regierungsarbeit und strukturieren den Text. Zusammen mit anderen redeinternen Merkmalen bilden auch sie Merkmalbündel. In Beispielen wie „Ich komme nun zur Bildungspolitik: Die Landesregierung...“[41] wird die Leerformel beispielsweise mit strukturellen Anordnungsmerkmalen und Gruppenbezeichnungen und Schlüsselwörtern verbunden.
2.2.8 Nominalsätze
Feststellen kann man mehrere Nominalsätze in Form von Aufzählungen. Die Vorstellung der Schwerpunkte der Regierungsarbeit[42] und mehrere Präzisierungen zu den Zielen in den einzelnen Ressorts, beispielsweise die Ausführungen zur Verkehrspolitik und Sanierung des Wirtschaftsraumes[43], erfolgen größtenteils durch Nominalsätze, welche die politischen Ziele in Stichpunkten vorstellen. Charakteristisch für diese Aufzählungen ist die Einleitung durch ein nomen actionis. Die Setzungen ergeben nur in Verbindung mit weiteren redeinternen Merkmalen Hinweise auf die Redesorte, beispielsweise in Äußerungen wie „Wiedergewinnung eines Heimat- und Zusammengehörigkeitsgefühls der Menschen in Sachsen-Anhalt und einer eigenen, unverwechselbaren Identität dieses Landes.“[44]
2.2.9 Parenthesen
Parenthesen spielen in dieser Regierungserklärung eine geringe Rolle. Neben der kontaktbezogenen Parenthese „meine Damen und Herren“[45], die auch als zweiter Initiator und strukturierendes Merkmal auftritt, kann man einige wenige kommentierende Parenthesen ausfindig machen: „Es muß die Chancengleichheit aller in freier Entscheidung entstehenden Betriebsformen - bäuerliche Familienbetriebe und Zusammenschlüsse - hergestellt werden, (...)“[46]. Diese Parenthese erläutert das vorher Gesagte näher. Ein weiterer Parenthesen-Typ, die proleptische Parenthese, schränkt die Aussage des Redners ein. „Eine ausreichende personelle Ausstattung der Polizei ist – auch in der gegenwärtig schwierigen Situation – unverzichtbar.“[47] Parenthesen treten teilweise mit anderen Merkmalen zusammen auf: „Lassen Sie mich nun, meine Damen und Herren, auf die Bereiche Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie eingehen.“[48] und lassen durch diese Verbindungen Rückschlüsse auf die Redesorte zu.
[...]
[1] Andersen, Uwe/ Woyke, Wichard (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. 4., völlig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Bonn 2000.
[2] Vgl. ebd.
[3] Simmler, Franz: Die politische Rede im Deutschen Bundestag.
[4] Landtag von Sachsen-Anhalt, Erste Wahlperiode, Plenarprotokoll ½, 08.11.1990, S.23A. „A“ bezeichnet die erste Spalte, „B“ die zweite Spalte.
[5] Ebd.. S.23.A.
[6] Ebd. S.23.A.
[7] Ebd. S.23.A.
[8] Ebd. S.23.B.
[9] Vgl. ebd. S. 30.A.
[10] Ebd. S. 30.B.
[11] Ebd. S. 30.B.
[12] Ebd. S.23.A.
[13] Ebd. S.23.A.
[14] Ebd. S.23.B.
[15] Ebd. S.23.B.
[16] Ebd. S.30.A.
[17] Ebd. S.30.B.
[18] Ebd. S.30.B.
[19] Ebd. S.30.B.
[20] Ebd. S. 30.B.
[21] Ebd. S. 30.B.
[22] Auf Grund der hohen Frequenz der Schlüsselwörter und Gruppenbezeichnungen wird im Folgenden nur auf die entsprechenden Textstellen verwiesen, wenn sie in bestimmten Relationen zu anderen Merkmalen stehen.
[23] Ebd. S.23.A.
[24] Ebd. S.23.A.
[25] Ebd. S.27.A.
[26] Ebd. S.27.B.
[27] Ebd. S. 23.B.
[28] Ebd. S.23.B.
[29] Ebd. S.30.B.
[30] Ebd. S.23.B.
[31] Ebd. S.23.A.
[32] Ebd. S.23.B.
[33] Ebd. S.25.A.
[34] Ebd. S.23.B.
[35] Ebd. S.27.A.
[36] Ebd. S.23.B.
[37] Ebd. S.27.B.
[38] Ebd. S.27.A.
[39] Ebd. S.29.B.
[40] Ebd. S.24.A.
[41] Ebd. S.29:B.
[42] Ebd. S.23.B.
[43] Vgl. ebd. S.26.B f.
[44] Ebd. S.23.B.
[45] Ebd. S.27.B.
[46] Ebd. S.27.A.
[47] Ebd. S.25.A.
[48] Ebd. S.27.B.
- Arbeit zitieren
- Carsten Knobloch (Autor:in), 2004, Die politische Rede: "Regierungserklärung" im Landtag und Bundestag der Bundesrepublik Deutschland - Ein Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26163
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