Die SPD kann sich rühmen, die älteste parlamentarisch vertretene Partei zu sein. Begonnen hat sie im 19. Jahrhundert als sozialistische Arbeiterpartei, wandelte sich jedoch über die Jahrzehnte zu der heute bekannten sozialdemokratischen Volkspartei. In ihrem Programm geht es vor allem um Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Doch sind das die Werte der Zukunft? Kann man damit heute noch Wahlen gewinnen?
Der vorliegende Band beschäftigt sich neben früheren Wahlniederlagen und –erfolgen vor allem mit den Zukunftschancen der SPD. Kann sie an frühere Wahlerfolge anknüpfen?
Aus dem Inhalt: Ursachen für die Wahlniederlage 2009, Zukunftschancen für die SPD, die Parteistruktur, das Image der SPD, die Parteiprogrammatik.
Inhaltsverzeichnis
Die SPD als „Volkspartei“ – Parteistruktur, Soziale Basis, Image und Wahlkampfstil von Georg Ismar
Einleitung
Die SPD als Volkspartei
Godesberg als Aufbruch oder Abschluss eines Wandlungsprozesses?
Beispiele für den Wandel zur Volkspartei
Indikator für Demokratiedefizite? Das Erstarken der Jusos als innerparteiliche Opposition
Fazit
Literaturverzeichnis
Die „Enkel“ auf dem Weg zum Erbe. Zur Gegenwart und Zukunft der SPD von Dennis Buchner
Einleitung
Die SPD nach der Wiedervereinigung
Die SPD im Bundestagswahlkampf 1998
Mitgliederentwicklung der SPD – Von der Volks- zur Funktionärspartei?
Parteifinanzen
Koalitionsfähigkeit und Machtbasis – Auf dem Weg zur deutschen Hegemonialpartei?
Parteireformen
Programmatik der SPD
Schlussbetrachtung und Ausblick
Abkürzungsverzeichnis
„Die SPD – Eine Partei mit Zukunftschancen?“ von Daniel-David Pirker
Einleitung
Neue Herausforderungen für die Sozialdemokratie
Neue Ansätze für eine zukünftige SPD
Vorbilder für die deutsche Sozialdemokratie?
Fazit
Literaturverzeichnis
Die Ursachen für die Wahlniederlage der SPD bei der Bundestagswahl 2009 von Felix Reibestein
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
Langfristige strukturelle Ursachen
Mittelfristige Ursache: Die SPD während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders
Kurzfristige Ursache – Die SPD im Bundestagswahlkampf 2009
Fazit
Literaturverzeichnis
Die SPD als „Volkspartei“ – Parteistruktur, Soziale Basis, Image und Wahlkampfstil von Georg Ismar
2003
Einleitung
„Geh mit der Zeit, geh mit der SPD“. Mit diesem Slogan startete die SPD 1959 eine verstärkte Mitgliederwerbeaktion. Dahinter verbarg sich der eigene Anspruch im Rahmen des Wandels von einer Klassen- zu einer Volkspartei Modernität zu signalisieren. Nachdem die SPD bei den ersten drei Bundestagswahlen in der Bundesrepublik vor allem von Mitgliedern der gewerkschaftlich geprägten Industriearbeiterschaft gewählt worden war und aufgrund der mangelnden Attraktivität bei den katholisch geprägten Arbeitern und den Angestellten im 30%-Turm gefangen schien, war spätestens seit der erneuten Wahlniederlage 1953[1] ein innerer Druck mit der Forderung nach einer grundlegenden Parteireform artikuliert worden. Den Abschluss fand dieser Prozess als Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen in dem Grundsatzprogramm von Bad Godesberg 1959.
Über die innerparteiliche Erneuerung hinaus wollte sich die Sozialdemokratie den ihr bis dahin nicht nahestehenden Schichten öffnen. Dies war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, das der Versuch, den Charakter einer Klassenorganisation beizubehalten, gleichzeitig aber die soziale Basis um der Partei traditionell fernstehende Arbeitnehmergruppen zu erweitern, gescheitert war. Durch das Abwerfen des alten ideologischen Ballasts und dem Friedensschluss mit der Bundesrepublik, konnte der Wandel zur Volkspartei vollzogen werden.
Die vielfältige wissenschaftliche Diskussion um den Begriff „Volkspartei“[2] lässt sich so zusammenfassen, dass die Beschreibung Volkspartei für eine politische Organisation von Bürgern steht, die in der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder, Funktionäre und Wähler nicht auf eine Schicht oder Klasse beschränkt bleibt, sondern prinzipiell versucht, alle Schichten und Gruppen zu umfassen und somit sozial heterogen ist.[3] Diesen Anspruch versuchte die SPD im Godesberger Programm umzusetzen, indem sie Kooperationsangebote an der Partei bisher fernstehende Schichten wie die Angestellten, Beamten und die Anhänger der katholischen Kirche machte sowie den Marxismus als Kernquelle ihrer Politik aus dem Programm strich. Es ist im Folgenden zu klären, inwieweit das neue Grundsatzprogramm einen neuen Aufbruch oder den Abschluss eines langen Wandlungsprozesses darstellt. Dabei gilt es vor allem die Veränderungen in der Arbeiterschaft, die verstärkte soziale Mobilität und Vermischung von Milieus sowie die Veränderung der Erwerbsstruktur zu berücksichtigen.
In Anknüpfung an die massiven gesellschaftlichen Veränderungen, wollte die SPD nun, durch ihren programmatischen Wandel, eine Partei des Interessenpluralismus mit heterogenen Ausprägungen sein, die gerade durch die Differenzierung und die gesellschaftliche Heterogenität die reale Gesellschaft wiederspiegelt. Als Abschluss dieses Prozesses wurde die Übernahme der Regierungsverantwortung gesehen. Um dieses Ziel zu erreichen, war man fortan auf die Eroberung möglichst hoher Stimmenanteile bei den Wahlen eingestellt und in diesem Zusammenhang trat die vorher geltende Fixierung auf die geistig-moralische Bindung von Anhängern in den Hintergrund. An die Stelle eines integrativen Mediators zwischen den verschiedenen Milieus trat nun die Konsensbildung, die Übernahme einer Schlichtungs- und Ausgleichsinstanz zwischen den heterogenen gesellschaftlichen Gruppen. Im Gegensatz zum alten Selbstverständnis als Massenintegrationspartei, sollte eine tiefere ideologische Durchdringung zugunsten eines neuen, möglichst viele Schichten ansprechenden Images und einem schnellen Wahlerfolg in den Hintergrund treten.
Der Wandel der SPD in einer Phase, in der die ideologische Auseinandersetzung des Ost-West-Konflikts ihren Höhepunkt überschritt, lässt sich mit dem Konzept der Volkspartei/Allerweltspartei von Otto Kirchheimer erklären.[4] Sie ist seiner nach Meinung ein Phänomen des Wettbewerbs, das in einer Phase der sich abschwächenden Klassengegensätze und des wirtschaftlichen Aufschwungs auftritt. Je weniger die Bevölkerung das Bedürfnis nach umwälzenden politischen Veränderungen verspürt, umso mehr müssen sich Parteien, die viele Schichten erreichen wollen, die auf eine politische Umwälzung abzielenden Punkte aus ihren Parteiprogrammen streichen.
Die SPD tat sich lange Zeit mit dem Begriff der Volkspartei aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft schwer. Vielmehr sah sich die SPD als eine Volkspartei mit Arbeiterstamm. Begleitet wurde der Wandel, der über die Zwischenetappe der Großen Koalition in die sozial-liberale Koalition 1969 mündete, von dem Aufstieg charismatischer Persönlichkeiten.
Die Anziehungskraft, die Karl Schiller mit seiner Wirtschaftspolitik auf die bis dato der SPD fernstehenden „white-collar“ Wählerschichten, wie z.B. Unternehmer und höhere Angestellte, ausübte, oder die Ausstrahlung Willy Brandts, hatten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei dem Durchbruch zur Volkspartei und der Übernahme der Regierungsverantwortung. Hinzu kam durch die Überwindung des Höhepunktes des Ost-West-Konfliktes und der zunehmenden Unbrauchbarkeit der Hallstein-Doktrin die Notwendigkeit einer Neujustierung der Außen- und Deutschlandpolitik.
Durch neue wegweisende Konzepte in diesem Bereich, der Öffnung gegenüber bisher fernstehenden Schichten, einer modernen Wirtschaftspolitik und dem Beweis, dass das neue Volksparteiprofil nicht nur ein Manöver für den Bundestagswahlkampf 1961 gewesen ist, gelang es der SPD neue Wähler und Mitglieder zu gewinnen.
Im Folgenden ist beispielhaft zu analysieren, wie die SPD konkret ihren Wandel zur Volkspartei vollzog und ob Veränderungen, zum Beispiel im Verhältnis zur katholischen Kirche von Dauer waren oder nur als Mittel zum Zweck, dem Prinzip der Stimmenmaximierung angesehen wurden. Auf der Ebene der innerparteilichen Veränderungen ist zu untersuchen, welcher Wandel durch die neuen Mitglieder und insbesondere durch den Rückgang des Arbeiteranteils in der Partei eintrat. Abschließend wird zu untersuchen sein, welche innerparteilichen Auswirkungen die zunehmende Entideologisierung und Indifferenz hatte und ob sich die alte Vergangenheit so einfach abstreifen ließ. Dabei soll sich die Arbeit an der Ausgangsthese orientieren, dass die SPD mit ihrem Wandel zur Volkspartei den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen Tribut zollte, dadurch aber ein völlig verändertes Gesicht erhielt. Eine zunehmende Entideologisierung und die Marginalisierung der Arbeiterschaft waren Charakteristika der innerparteilichen Entwicklung. Jedoch wurde die SPD nicht zu einer profillosen Partei, sondern zu einer pluralistischen, von der neuen Heterogenität durch Diversifizierung des Fachwissens in vielen Politikfeldern profitierenden und letztlich die Regierungsfähigkeit ermöglichenden Partei.
Die SPD als Volkspartei
Godesberg als Aufbruch oder Abschluss eines Wandlungsprozesses?
„Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden.“[5] Mit diesen Worten beschrieb die SPD den grundlegenden Wandel, der durch das Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 eine Neuausrichtung der Sozialdemokratie festlegte. In der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatte sie den Anspruch erhoben, eine Klassenpartei zu sein, die aber schon damals nicht die Klasse der Lohnabhängigen, sondern nur etwa die Hälfte der gewerblich-industriellen Arbeiter für sich gewinnen konnte.[6] In der Verbindung von Klassenlage und nationaler Diskriminierung der Sozialisten, Katholiken und Minderheiten hatten mehrere Faktoren zu einer Abschottung der verschiedenen Milieus geführt: Jedes Milieu hatte für sich analoge Institutionen und Organisationen herausgebildet, die Teilgruppen der Arbeiterschaft dauerhaft banden. Gerade im sozialdemokratischen Milieu entstand im Kaiserreich durch die Vielzahl eigener Vereine eine „alltagsweltlich begründete Gesinnungsgemeinschaft“.[7] Durch den Krieg und die Novemberrevolution kam es zwar zu einer Polarisierung zwischen den Organisationsführungen und der Arbeiterschaft, jedoch kam es trotz der für viele Teile der Arbeiterschichten enttäuschenden Regierungspolitik der SPD und den sich bis fast zu einem Bürgerkrieg entwickelnden Arbeiterprotestbewegungen, verbunden mit einem Konkurrenzdruck von „linken“ Parteien wie der USPD und der KPD, nicht zu einem Bruch der Autorität der SPD für große Teile der Arbeiterschaft. Um die Arbeiter weiter zu binden, wurde das System der Subkultur weiter ausgebaut. Das sozialdemokratische Vereinswesen wuchs sowohl in der Breite als auch in der Tiefe. Weiter vorherrschend blieb wie schon zu Zeiten der polarisierten Gesellschaft des Kaiserreichs das Klassengefühl „wir und die anderen“.[8]
Der Nationalsozialismus zerstörte zwar durch Gleichschaltung und Verbot die Arbeiterbewegung und löste die Verbindung zwischen den Arbeitern und ihren Organisationen auf, er setzte aber auch Traditionen fort und veränderte dabei ihren Gehalt.[9] Dabei änderten sich Grundseinstellungen: Die Armut im stalinistischen Russland, der Krieg im Osten mit der ideologischen Kriegsführung gegen den „Bolschewismus“, diskreditierte für viele Arbeiter endgültig den Marxismus, beziehungsweise den Kommunismus. Das Schicksal der Vertriebenen und die sowjetische Nachkriegspolitik vertieften diese Einstellung, die Spaltung der Weimarer Zeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten blieb deshalb auch nach 1945 stabil.
Dadurch verlor die marxistische Tradition in der Arbeiterschaft zunehmend an Bedeutung, wobei dies vor allem durch die fundamentale Verbesserung der sozialen Lage forciert wurde.[10] Allerdings setzte sich die Spaltung zwischen sozialdemokratisch geprägten und christlichen Gewerkschaften fort. 1955 kam es zu einer Neugründung der christlichen Gewerkschaften. Dies war das Resultat der Hoffnung des DGB auf einen SPD-Wahlsieg 1953 und die laizistische Schulpolitik der Sozialdemokraten. Die Wiederheranführung der christlichen Arbeiter an die SPD war eines der Ziele des Godesberger Parteiprogramms und letztlich der Schlüssel zum Durchbruch zur Volkspartei. Trotz der Politik von nationaler und sozialer Integration der SPD und des DGB war bis in die 60er Jahre eine Stagnation und Kontinuität in ihren traditionellen Rekrutierungsfeldern festzustellen. Die SPD blieb in der Zusammensetzung der Mitglieder und Wähler zu 60% eine Arbeiterpartei, die kaum neue Schichten erreichte. Ab den 60er Jahren geriet aber das Milieu der Arbeiterschaft zunehmend in Bewegung. Das Provisorium Bundesrepublik etablierte sich politisch, gesellschaftlich und vor allem wirtschaftlich. Dadurch stieg die individuelle Zufriedenheit der Arbeiter auch mit der kapitalistischen Industriegesellschaft.[11] Durch die schwindenden schichten- und milieuspezifischen Bindungen früherer Zeit, war auch die SPD gezwungen, auf die veränderten Bedingungen zu reagieren. Sie konnte nicht mehr die Integrationspartei einer Klasse sein, die durch die soziale Mobilität zunehmend ihre Konturen verlor und als Milieu ausgehöhlt wurde, sondern konnte nur durch den Versuch, möglichst viele gesellschaftliche Schichten in der Partei und im politischen System zu integrieren, dauerhaft konkurrenzfähig werden.
Die Veränderungen durch das Grundsatzprogramm von Bad Godesberg
Aufgrund der aufgezeigten Entwicklung in der Arbeiterschaft und dem seit den Wahlniederlagen bei Bundestagswahlen einsetzenden, inneren Reformprozess kann das Godesberger Programm nur als Abschluss eines langen Wandlungsprozesses verstanden werden. Es resultierte aus dem großen Veränderungsdruck, den die gesellschaftlichen Veränderungen, das Auflösen der traditionellen Arbeitermilieus und das Verharren im 30%-Turm bei Bundestagswahlen auslösten.
Weil der Weg zu einer Volkspartei nur über eine Öffnung für neue Schichten führen konnte, wurden im Godesberger Programm[12] Friedens- und Kooperationsangebote an die katholische Kirche, die Selbständigen und die Unternehmer formuliert und der Marxismus, als frühere Kernquelle sozialdemokratischer Politik, fand keine Erwähnung mehr. Infolge der relativ beliebig und flexibel gehaltenen Grundsätze bot das Godesberger Programm für die künftige Politik einen größeren Handlungsspielraum und eine größere Flexibilität. Dies war gleichbedeutend mit einer zunehmenden Entideologisierung als Antwort auf die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen. So verlor die alte Arbeiterklasse neben den aufgezeigten sozialen Veränderungen und der geringeren Bindekraft an die SPD durch die massive Schrumpfung des primären Sektors an Bedeutung.[13] Die zunehmende soziale Durchmischung von Wohnquartieren und die anwachsende Mobilität von Stadt und Land, die Tertiärisierung der Gesellschaft, die eine Verbesserung der Bildungschancen für Arbeiterkinder einhergehend mit beruflichem Aufstieg und einer stärkeren Distanzierung von den Herkunftsgebieten bedeutete, und die Lockerung der Bindungen an Sozialmilieus, führten letztlich zu einer Abschwächung alter Klassengegensätze.[14] Durch die sozialen Wandlungen hatte sich die Rolle der SPD als traditionelle Integrationspartei weitgehend erledigt, der Industriearbeiter war mittlerweile weitgehend in die Gesellschaft integriert.
Um den Teilen der Öffentlichkeit, die dem Wandel der Partei noch kritisch gegenüberstand, zu beweisen, dass es sich nicht um ein taktisches Manöver zu einem größeren Erfolg bei Bundestagswahlen handelte, wurden grundsätzliche Richtungswechsel in der politischen Praxis vollzogen: Die Wehrpflicht wurde nach einem Parteitagsbeschluss 1960 in Hannover nicht mehr strikt abgelehnt, ebenso wurde die atomare Aufrüstung nicht mehr kategorisch ausgeschlossen; man bekannte sich im Godesberger Programm zur Landesverteidigung und Herbert Wehner legte in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag im Juli 1960 eine Revision der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik dar, die SPD bekannte sich nun zu einer gemeinsamen Außenpolitik von Regierung und Opposition auf der Grundlage der bestehenden Bündnisverpflichtungen.[15]
„Damit beendete die SPD eine Deutschlandpolitik, die in der Verhinderung insbesondere der militärischen Westintegration die Voraussetzung für eine aktive Wiedervereinigungspolitik gesehen hatte.“[16]
Dadurch konnte sich die SPD als systemimmanente, gesellschaftspolitische Reformalternative zur mehr und mehr an konservative Beharrungsstrategien gebundenen CDU/CSU etablieren.[17]
In der Folgezeit versuchte man das Bild einer marxistischen Partei zu revidieren und im Volk weiter fortbestehende Glaubwürdigkeitsdefizite durch eine Abgrenzung zum linken Spektrum zu beseitigen. Die Gefahr links von der SPD Wähler zu verlieren, war nach dem Verbot der KPD ungleich geringer, als weiterhin die Wähler aus den Mittelschichten nicht zu erreichen.
Am 6. November 1961 kam es zur Trennung von dem traditionellen Studentenbund der SPD, dem SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Auslöser dafür waren die Kritik seitens des SDS am Volksparteikurs der SPD und eine verstärkte marxistische Ausrichtung.
„Die SPD konnte sich zudem keinen Jugendverband leisten, der sich gerade zu dem Zeitpunkt zum Marxismus zu bekennen begann, als die SPD in diesem Marxismus die Hauptbelastung für ihre Machterwerbsstrategie sah.“[18]
Bad Godesberg sollte durch die zum Großteil einstimmig getroffenen Entscheidungen und die aufgezeigten Abgrenzungen vom Marxismus und klassengeleiteten Politikansätzen den Aufbruch zu einer neuen Politik als Antwort auf den langen Wandlungsprozess manifestieren. Es wurde das Bild einer homogenen und modernen Partei suggeriert, die angemessen auf die Veränderungen in der Bundesrepublik reagierte und so regierungsfähig werden kann.
Beispiele für den Wandel zur Volkspartei
Neben diesen ersten, direkt auf die Schaffung eines anderen Image in der Öffentlichkeit abzielenden Handlungen, ist im Folgenden untersuchen, wie man sich konkret an die Katholische Kirche annäherte, welche Veränderungen es in der Organisationsstruktur, der Mitglieder- und Wählerschaft gab und welche Rolle der Eintritt in die Große Koalition für den Durchbruch zur Volkspartei spielte.
Die Entwicklung des Verhältnisses zur katholischen Kirche
Mit dem Angebot einer freien Partnerschaft an die katholische Kirche im Godesberger Programm, versuchte die SPD einerseits ihrem Volksparteiprofil mit der Öffnung hin zu bisher unerreichten Schichten gerecht zu werden und trug andererseits im Rahmen ihres Stimmenmaximierungsziel dem vermuteten Automatismus zwischen einer kirchenfreundlichen Politik der SPD und einem in Reaktion darauf abnehmenden katholischen Engagement für die Union, Rechnung.
Wie umstritten diese Politik der Aussöhnung jedoch innerhalb der SPD war, zeigte sich darin, dass es bei den Abstimmungen in Bad Godesberg für diesen Punkt nur eine Mehrheit gab, während alle anderen Programmpunkte mit wenig Gegenstimmen angenommen wurden.[19] Auf Seiten der katholischen Kirche gab es zunächst ein großes Misstrauen. In einer Flut von Publikationen wurde davor gewarnt, dass es sich um einen „Kostümwechsel“ der SPD handele und die programmatische Neuausrichtung nicht viel mehr als Wahlkampfrhetorik sei. Insbesondere regte sich tiefe Empörung darüber, dass die SPD die Zusammenarbeit mit der Kirche im Rahmen einer freien Zusammenarbeit gestalten wollte:
„Hier bricht wieder der Größenwahn der Funktionäre durch, die ihre von Marx gegründete Parteibuchgemeinschaft mit der von Gott eingesetzten Kirche auf die gleiche Ebene stellen wollen“[20]
Der Politische Arbeitskreis des BDKJ der Diözese Passau verwies auf die seiner Meinung nach vorhandene Widersprüchlichkeit, dass einerseits betont wurde, der Sozialismus sei kein Religionsersatz, zugleich aber den Kirchen das Angebot gemacht wurde, ein Verhältnis der freien Partnerschaft einzugehen:
„Freie Partnerschaft gibt es nur unter Gleichrangigen. Die Kirchen werden auf den Rang einer politischen Partei heruntergedrückt. Das ist inzwischen mit Recht sowohl von evangelischer als auch katholischer Seite zurückgewiesen worden.“[21]
Diese Rhetorik und das Misstrauen erinnerten an die Bundestagswahlkämpfe von 1949 und 1953, die die Höhepunkte der Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokratie und Katholizismus bildeten. Das Ringen um die innen- und vor allem außenpolitischen Grundsatzentscheidungen wurde zum Weltanschauungskampf stilisiert.[22] Während die Katholische Kirche durch ihre kaum kaschierten Wahlkampfempfehlungen für die Union gegen die sozialistische Staatsbevormundung kämpfte, betrieb die SPD in jenen Jahren eine starke Agitation gegen klerikale Machtansprüche. Aus diesem Grund lässt sich die Zeit von 1945-57 als Phase der Gegnerschaft und einer mehr oder weniger offen ausgetragenen Konfrontation periodisieren.[23]
Wandel durch Annäherung: Das Verhältnis SPD – Katholische Kirche im Spannungsfeld des Godesberger Grundsatzprogramms
Schon vor der Neuausrichtung des Verhältnisses zur Katholischen Kirche in Bad Godesberg hatte es Veränderungen gegeben. 1956 konnte die SPD bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen überraschend Gewinne in katholischen Hochburgen der Union verbuchen.[24] Den Wandlungsprozess, der innerhalb der SPD stattfand, blieb nicht ohne Wirkung auf die Katholische Kirche. In dem Wahlhirtenbrief der Bischöfe und die Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken fiel anlässlich der Bundestagswahlen 1957 wesentlich moderater aus, als noch vier Jahre zuvor.
Ende der 50er Jahre zeichnete sich eine Auflockerung des alten Front- und Lagerdenkens ab. Der Beginn einer Dialog-Phase, die bis zur Mitte der 60er Jahre anzusetzen ist, wurde durch die Tagung über das Verhältnis zwischen Christentum und demokratischem Sozialismus in der Katholischen Akademie in Bayern im Januar 1958 eingeleitet. Es gab zwar mehr Trennendes als Verbindendes, aber wie Willy Eichler es formulierte, am Anfang demokratischen Lebens stehe das Wort.[25] Mit seiner Darstellung, nicht dem Christentum als Glauben den Verrat an seinen Idealen, die die stärkste Verbindungslinie zur Sozialdemokratie darstellen,[26] anzulasten, sondern den Menschen, die dazu neigen, Macht zu missbrauchen, durchbrach Eichler das eindimensionale Denken vieler Sozialisten über das Christentum.[27] Jedoch stieß das Umdenken vieler Sozialdemokraten bei den deutschen Katholiken nicht unbedingt auf Erwiderung, wie eingangs schon an der Reaktion auf die Godesberger Beschlüsse aufgezeigt wurde. Beispielhaft dafür sei die Erklärung von Kardinal Döpfner vom 1. Mai 1964:
„Im Godesberger Programm hat die Partei des demokratischen Sozialismus zweifellos eine Brücke über den Abgrund zu bauen begonnen, der Kirche und Sozialismus seit je getrennt hat. Wenn ein Bild erlaubt ist, so kann man sagen, die Spannbetonbrücke ist in einem Ausmaß gewachsen, wie man es vor wenigen Jahrzehnten noch für unmöglich gehalten hätte. Aber ohne auf Einzelheiten einzugehen, glaube ich doch, nach reiflicher Überlegung, sagen zu müssen, die Brücke ist nicht befahrbar, der Abgrund ist zur Stunde nicht geschlossen.“[28]
Die 60er Jahre: Auf dem Weg zu einer begrenzten Partnerschaft
Dass es nun bis Mitte der 60er Jahre trotz der Vorbehalte und Zurückweisungen zu einer signifikanten Annäherung zwischen Sozialdemokratie und Katholischer Kirche kam, lag primär in den Wandlungsprozessen der Weltkirche und nicht in den Einstellungsänderungen im deutschen Katholizismus begründet. Durch die Modernisierung und den gesellschaftlichen Wandel erhöhte sich die soziale Mobilität, diese wiederum führte sukzessive durch die Erosion des kirchlichen Milieus zu einer verstärkten Gleichgültigkeit gegenüber der Religion.[29] Durch die Sozialenzyklen „Mater et Magistra“ (1961)[30] und „Pacem in terris (1963)[31] versuchte die katholische Kirche diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Im Hauptteil von „Mater et Magistra“ wurde betont, „dass jene gesellschaftlichen Verbände und Organisationen, die einen Ausgleich zwischen Freiheit und Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Leben suchen und bis vor kurzem das Eigentum an Produktionsmitteln ablehnten, heute, durch die soziale Entwicklung belehrt, ihre Meinung merklich geändert haben und dieses Recht durchaus anerkennen.“[32]
Die SPD versuchte diese günstigen Entwicklungen durch verstärkte Kontaktaufnahme zum Vatikan und gleichzeitig zum deutschen Katholizismus auszunutzen. 1964 wurde eine SPD-Delegation unter Leitung des stellvertretenden Parteivorsitzenden Fritz Erler zu einer Audienz bei Papst Paul VI. empfangen. Zudem kam es zum Abschluss eines Konkordats zwischen dem Vatikan und der sozialdemokratisch geführten Landesregierung Niedersachsens, das die Beibehaltung und Öffnung neuer Bekenntnisschulen rechtsverbindlich festlegte.[33] Auf der bundesdeutschen Ebene kam es seit 1965 unter der Schirmherrschaft des Katholischen Büros unter Federführung des Bischofs Tenhumberg und des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Wehner zu regelmäßigen Gesprächen zwischen führenden Vertretern der Katholischen Kirche und der Sozialdemokratie.
Diese drei Beispiele unterstrichen die Bereitschaft der SPD, durch eine verstärkte Kooperation mit der Katholischen Kirche ihre eigenen Ansprüche im Rahmen der Entwicklung zu einer Volkspartei in der Praxis umzusetzen und neue Wählerschichten zu erschließen sowie ein Ende der Exklusivkontakte zwischen der Union und dem Katholizismus herbeizuführen. Symbolhaft für diesen Wandel durch Annäherung stand die Wahl der Sozialdemokraten Georg Leber und Hermann Schmitt-Vockhausen in das Zentralkomitee der Deutschen Katholiken 1966 und der erstmalige Verzicht der deutschen Bischöfe anlässlich der Bundestagswahl 1965, eine eindeutige Empfehlung zugunsten der CDU/CSU auszusprechen.
Der Übergang zur Großen Koalition markierte durch die zuvor eingetretenen Annäherungen eine kurze Periode der Partnerschaft und einer Äquidistanz der Katholischen Kirche zu beiden Großparteien, die aber nur bis 1969 Bestand hatte. Die positiven Entwicklungen im beiderseitigen Verhältnis bis zur Mitte der 60er Jahre, fasst Kurt Klotzbach wie folgt zusammen:
„Während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hatte es jedenfalls den Anschein, als hätte die SPD mit der Öffnung zum weltanschaulichen Pluralismus und die Katholische Kirche mit der Anerkennung des politischen Pluralismus eine durchaus vielversprechende Kontakt- und Kooperationsbasis gefunden – eine Entwicklung, die vom damaligen Zusammenwirken von CDU/CSU und SPD in einer Großen Koalition auf Bundesebene sicherlich begünstigt wurde.“[34]
Im Rahmen ihres Ziels der Gewinnung neuer Wählerschichten manifestierte sich der Erfolg der Politik der Öffnung durch die SPD erstmals bei den Landtagswahlen in NRW, die die SPD auch dank der starken Zuwächse in katholisch geprägten Gegenden gewann. Bei der Bundestagswahl 1969 hatte die Union zwar mit 62% gegenüber 31% für die SPD zwar immer noch einen doppelt so hohen Stimmenanteil unter den katholischen Wählern, erstmals gelang es der SPD jedoch, die Union in den katholischen geprägten städtischen Gebieten zu überflügeln (SPD: 47,2% und CDU/CSU: 42,0%).[35]
Die weitgehende parteipolitische Objektivität und Neutralität der Katholischen Kirche änderte sich aber zuungunsten der SPD im Rahmen ihrer sozial-liberalen Reformpolitik ab 1969. Hauptstreitpunkt blieb dabei die Diskussion um den § 218. Allerdings zeigten die hart geführten Auseinandersetzungen in diesem Bereich, dass es keinen Rückfall auf grundsätzliche Unvereinbarkeitspositionen und unüberwindbare Pauschalverurteilungen gab, sondern man die Ebene der Detailkritik statt einer Pauschalkritik am jeweils anderen wahrte. Dadurch blieb die Chance auf Dialog und Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen erhalten.[36] Hierhin ist vielleicht der größte Erfolg der volksparteilichen Öffnungspolitik der SPD gegenüber der Katholischen Kirche zu sehen. Man hatte ein dauerhaftes Verhältnis der gegenseitigen Akzeptanz geschaffen.
Das Aufbrechen hierarchischer Strukturen: Die Veränderung der Organisationsstruktur
Grundlage für den Erfolg einer Volkspartei und ihrer Etablierung ist eine breite Organisationsstruktur. Diese muss gewährleisten, dass neue und alte Mitglieder dauerhaft und über Klassen- und Milieugrenzen hinweg an die Partei gebunden werden. Durch diese Verankerung der Organisation innerhalb der Bevölkerung kann eine Massenbasis geschaffen werden, die einen möglichst breiten Wählerkreis aller Schichten erreicht und letztlich die Grundlage des politischen Erfolges der Volkspartei bildet.
Die SPD selbst sah die Aufgabe der Organisation folgendermaßen:
„Die Organisation hat die Aufgabe, die Partei mit politischem Leben auszufüllen. Sie muß dem Mitglied entsprechend seiner Fähigkeit und Neigung gerecht werden und ihm einen entsprechenden Platz in der Partei einräumen.“[37]
Hierhin manifestiert sich der Anspruch, durch die Organisation breite Bevölkerungsschichten anzusprechen und die Integration der Staatsbürger in das politische System zu verwirklichen. Die Neustrukturierung der Organisation[38] wurde auf dem Parteitag in Stuttgart 1958 beschlossen. Vorausgegangen war nach der inneren Unruhe, die die Partei nach der erneuten Wahlniederlage 1953 und vor allem nach dem enttäuschenden Abschneiden bei der Bundestagswahl 1957 erfasst hatte, eine verstärkte Personal- und Reformdebatte, die gerade auch von den Bezirken und Unterbezirken initiiert wurde. Erich Ollenhauer wurde durch sein nicht charismatisches Erscheinungsbild als SPD-Vorsitzender eine große Mitschuld am Scheitern der SPD gegeben.[39] Die Verhinderung der Möglichkeit, für die Wähler attraktive Persönlichkeiten als Regierungschef oder eine ausdrucksstarke Regierungsmannschaft aufzustellen, wurde dem „Apparat“, dem Büro der Parteivorstandsmitglieder angelastet.[40] Seit dem autoritären Führungsstil Kurt Schumachers hatte sich der Parteivorstand zum eigentlichen Machtzentrum entwickelt, viele Mitglieder fühlten sich nur noch als Befehlsempfänger. An der Führung Ollenhauers wurde kritisiert, dass sich der Parteivorstand zu einer Art Verwaltungsbehörde entwickelt habe, die zwar versuche zwischen den einzelnen Flügeln zu vermitteln, der Partei aber keine neuen Impulse geben konnte. In den Ortsvereinen machte sich Routine und Lethargie breit, die SPD wurde auch aufgrund fehlender Wahlerfolge in ihrer Organisationsstruktur mit dem pyramidalen Aufbau von einer zunehmenden Lähmung erfasst.[41]
Deshalb sollte der „Apparat“ entmachtet, die Partei- und Fraktionsspitze umstrukturiert und personell neu besetzt werden. Dies wurde 1957 von der Bundestagsfraktion mit der Wahl von drei neuen stellvertretenden Parteivorsitzenden, Fritz Erler, Herbert Wehner und Carlo Schmid, realisiert. Sie verkörperten den Modernisierungsdrang der Partei und durch eine Verbreiterung des Repräsentationsspektrums verschiedener Flügel der Partei an der Spitze, wurden gleichzeitig die Weichen zur Entwicklung als Volkspartei gelegt. Man kann konstatieren, dass die Volkspartei konstruiert werden musste, bevor es sie gab.[42]
Die Reform der Organisationsstruktur und ihre Auswirkungen
Dies geschah durch den Stuttgarter Parteitag von 1958, auf dem eine Reform der Parteiorganisation beschlossen wurde. Dabei wurde die Abschaffung der hauptamtlichen Struktur der Parteiführung[43], also auch der Institution des „Apparats“ durchgesetzt, wodurch das Gewicht der Bundestagsfraktion und der regionalen Parteiorganisationen größer wurde. Die Stellung der Fraktion wurde dadurch gestärkt, die regionalen Unterabteilungen gewannen an Autonomie und es fand eine verstärkte Parlamentarisierung des innerparteilichen Lebens statt.[44] Als neue Machtzentren entwickelten sich die Berliner Partei unter Führung von Willy Brandt, die Bonner Partei unter Führung von Herbert Wehner und die von Fritz Erler geführte Bundestagsfraktion.[45] Gemeinsam mit Carlo Schmid bildeten sie das „Frühstückskartell“ und trieben die Parteireform entscheidend voran.[46] Charismatische Persönlichkeiten und eine Verbreiterung bzw. Demokratisierung der Repräsentationsebene innerhalb der Parteiorganisationen, bildeten eine Grundlage zur Entwicklung des organisatorischen Gerüsts einer Volkspartei.
Im Gegensatz zu dem früher eher autoritären Führungsstil unter Kurt Schumacher in der Milieu- und Gesinnungspartei wurde nun im Rahmen der Entwicklung zur Volkspartei die Führung auf eine kollektivere Basis gestellt. Dennoch kam es aber zu keiner reinen Zentralisierung von Entscheidungsprozessen und einer völligen Homogenisierung. Gerade auf der lokalen Ebene standen der SPD weiter die starke Stellung der örtlichen Parteiabteilungen in den Rathäusern, die weiter existierende Personalhoheit der Bezirke und die Neubelebung und der Ausbau von Ortsgemeinschaften gegenüber.
„Diese Modernisierung der SPD antizipierte insoweit nichts anderes als die wachsende Differenzierung von Staatsfunktionen in einer komplexer werdenden Gesellschaft.“[47]
Parallel zu dieser Organisationsreform wurde immer stärker gefordert, sich auch von traditioneller Parteisymbolik zu distanzieren, um weiteren ideologischen Ballast abzuwerfen. Funktionäre wie Carlo Schmid hatten seit 1950 wiederholt gefordert, die SPD solle den Ballast aus ihrer Tradition abwerfen. Gemeint waren nicht nur Symbole wie die rote Fahne oder die Anrede „Genosse“ und das parteiübliche Duzen, sondern auch der historische Determinismus und ökonomische Interpretationen der Gesellschaft.[48] Ziel solcher Forderungen war letztlich eine Säkularisierung der SPD, um neue Schichten anzusprechen und gerade das Verhältnis zu den Kirchen zu verbessern. Zwar verwies Ollenhauer auf den Identifikationswert der Parteisymbolik und setzte ihren Erhalt durch. Jedoch brachen die Reformer mit dieser als Provokation aufgefassten Forderung die innerparteiliche Lähmung auf und ebneten so die Forcierung der Organisationsreform.[49]
Ohne die innerparteiliche Parlamentarisierung mit der Schaffung einer Aktionseinheit zwischen Parteiführung und Fraktion hätte nicht ein Engagement der Gesamtpartei erreicht werden könne, dass für die Umsetzung des eigenen Anspruches, eine Volkspartei zu werden, unerlässlich war. Gerade die Bundestagsfraktion formuliert und vermittelt die Politik einer Partei in der Öffentlichkeit, im Parlament und gegenüber der Presse. Damit wurden traditionelle Organisationsmuster, wie die Entmündigung der Volksvertretung und ihrer Fraktionen und die „Selbstisolierung im Ghetto der eigenen Parteiorganisation“ – wie es charakteristisch war für die SPD der Weimarer Republik war – beseitigt.[50] Die Organisationsreform bedeutete letztlich die Abkehr von in der Öffentlichkeit zunehmend als oligarchisch und hierarchisch wahrgenommenen Strukturen und stellte die Weichen für eine Entwicklung zu mehr organisatorischer Vielfalt, Heterogenität, Komplexität und Differenzierung, die typisch für die SPD als Volkspartei wurden. Dadurch wurde aber auch eine Auflockerung der Organisationsstruktur, eine verstärkte Loslösung von der Partei begünstigt.[51]
Um Zielgruppen außerhalb der Partei anzusprechen, aber auch um die heterogenen Mitgliedergruppen weiter zu integrieren, wurden die Institutionen der Arbeitsgemeinschaften geschaffen. Die innerparteiliche Fragmentierung nahm in der Folgezeit vor allem nach 1969 zu. Innerparteiliche Oppositionsströmungen wie die Jungsozialisten gewannen in dieser überspitzt als System „lose verkoppelter Anarchie“[52] bezeichneten Organisationsstruktur an Bedeutung, spiegelten aber auch in der Organisation den Wandel zu einer pluralistischen Partei.
Die Entwicklung der Mitgliederstruktur
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen kann als empirischer Nachweis dienen, inwiefern das Konzept einer Volkspartei für die SPD erfolgreich war. 1947 erreichte die SPD mit 875.000 Mitgliedern einen ersten Höchststand nach dem Krieg. 1957, als die Union ihren größten Wahltriumph für sich verbuchen konnte, war die SPD mit 630.000 Mitgliedern fast wieder auf dem Stand von 1930 angelangt.[53]
In der Folgezeit wuchs die Mitgliederzahl ab 1964 wieder signifikant, aber erst nach dem Ende der Großen Koalition war ein starker Zuwachs festzustellen, von 1969-1974 wuchs die SPD um ein Drittel auf knapp eine Million Mitglieder.[54] Der erst ab Mitte der 60er Jahre einsetzende Zuwachs unterstreicht die Tatsache, dass die SPD erst mit einer ihr neues Image erfüllenden Politik und dem tatsächlich stattfindenden propagierten Wandel zur Volkspartei das Vertrauen neuer Mitgliederschichten gewinnen konnte. Allerdings brachte der enorme Zustrom neuer Mitglieder auf dem Höhepunkt der volksparteilichen Entwicklung 1969 große innerparteiliche und innerorganisatorische Probleme. Bei der SPD war zunehmend eine Diskrepanz zwischen Wähler- und Parteibasis festzustellen. Während unter den Wählern der Arbeiteranteil höher war als im Bundesdurchschnitt und der Anteil der Beamten und Angestellten dem in der Gesamtbevölkerung entsprach, war der Arbeiteranteil bei den Mitgliedern, gemessen an der Zusammensetzung der Wählerschaft, stark unter- und der Anteil der Beamten- und Angestellten stark überrepräsentiert.[55] Während 1958 noch 55% der Neuzugänge Arbeiter und nur 20% Angestellte oder Beamte waren, hatte sich dieser Trend 1972 stark verändert. 27,6% der Neueintritte kamen aus dem Arbeitermilieu, während 34% Angestellte oder Beamte waren.[56] Manfred Güllner bringt diese Veränderung treffend auf den Punkt:
„Bedenkt man, dass in dieser Zeit auch noch sehr viele Schüler und Studenten in die SPD eintraten, die später wohl kaum als Arbeiter ihr Geld verdienen wollen, wird deutlich, dass der Weg der SPD zu einer Partei der Mittelschichten vorgezeichnet ist (...) Damit reflektiert die SPD als Volkspartei zwar allgemeine Entwicklungen des sozialen Wandels, aber der Trend zu Angestellten und Beamten war in der Gesamtwählerschaft bei weitem nicht so ausgeprägt, wie er sich in der SPD-Mitgliedschaft seit Beginn der 70er Jahre zeigte.“[57]
Die SPD stellte sich in ihrer Mitgliederwerbung auf diesen neuen Mitgliedertypus ein: Mit dem Slogan „Geh mit der Zeit, Geh mit der SPD“ warben auf Plakaten typische Vertreter der neuen Mittelschichten für eine SPD-Mitgliedschaft. Ein junger Mann mit Anzug, und Krawatte, also die Verkörperung des Büroangestellten, warb mit Parteibuch und dem Spruch „...übrigens, ich bin jetzt auch dabei“ für die SPD.[58]
Dieser Trend wurde vor allem deutlich an der Zusammensetzung der Funktionäre. Im NRW-Landesverband betrug der Anteil der Arbeiter an der Gesamtmitgliedschaft 43,6%. Aber von den Vorsitzenden der Ortsvereine waren nur 22,9% Arbeiter. Dagegen betrug der Anteil von Angestellten und Beamten, die 49% der Gesamtmitgliedschaft in NRW ausmachten, an den Vorsitzenden der Ortsvereine 69%.[59] Auf dem Weg zur Volkspartei hat die SPD nicht nur neue Wähler angesprochen, sondern sich selbst durch die neuen Mitglieder massiv verändert. Die Industriearbeiterschaft kann nicht mehr als die Säule der Partei bezeichnet werden.
„Sie selbst hat sich sogar noch mehr als die Wählerschaft zur Mitte hin geöffnet, so dass heute die Proportionen zwischen Arbeitern und Mittelschichten bei den Mitgliedern – aber auch bei den Funktionären – verschoben sind. Nur noch in der nach der Abschaffung der Hauskassierung weniger bedeutungsvollen Funktion des Ortsvereinskassiers ist das Verhältnis noch ausgeglichen.“[60]
Konsequenzen der Entwicklung zu einer heterogenen Mitgliederschaft
Durch diese Entwicklung wurde der innere Zusammenhalt in der Parteiorganisation geschwächt. Die traditionelle Parteibasis wurde in weiten Teilen der SPD an den Rand gedrängt. Die traditionelle Mitgliederschaft stand den Neuzugängen fremd gegenüber und wurde dadurch nicht gerade zu verstärktem politischem Engagement motiviert. Durch den Zustrom von vor allem durch die APO und das studentische Milieu geprägten Schülern und Studenten und die massive Verbesserung des Bildungsniveaus kam es zu einer verstärkten Akademisierung der Mitgliederschaft. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (8%) lag der Anteil der Mitglieder mit Abitur und abgeschlossenem Hochschulstudium mit 15% weit höher. Weiteres Merkmal in diesem Kontext der Mitgliederentwicklung war eine Verjüngung, 1972 waren fast zwei Drittel der Neueintretenden unter 35 Jahre.[61] Die Arbeiterschaft fühlte sich in den Organisationen der Partei zunehmend fremder, die SPD als Lebenswelt verlor sukzessive an Anziehungskraft. Sie war nicht mehr primär Heimat[62], sondern wurde eher als Mittel zum Zweck betrachtet. Gerade in den Ortsvereinen fühlten sie sich zunehmend unwohler im Kreis der ewig diskutierenden Lehrer, Akademiker, Beamten, Studenten und Angestellten. Vielfach zogen sie sich resigniert von endlosen Geschäfts- und Personaldebatten zurück, die traditionelle Bindung schwand.[63]
Dadurch machte sich im Zuge der sozialstrukturellen Veränderungen der Mitgliedschaft eine gewisse Lethargie breit. Durch den Wandel der politischen Kultur spielte der bis zu den 60er Jahren starke Zustrom von Mitgliedern, die der Partei aufgrund der politische Prägung durch das Elternhaus beitraten, sozusagen in die SPD „hineinsozialisiert“ wurden, nur noch eine untergeordnete Rolle.[64] Hinzu kam eine Lockerung des Zusammenhangs von Partei- und Gewerkschaftsmitgliedschaft. Die soziale Zusammensetzung der Mitglieder aber auch der Funktionäre und Mandatsträger wurde insgesamt vielfältiger, aber auch heterogener.
Bilanzierend lässt sich festhalten, dass die SPD mit der Integration der Arbeiterschaft eine historische Aufgabe erfüllt hatte und auf ihrem Weg zur Volkspartei sah sie es nach Godesberg als ihr Ziel an, unter den gewandelten Bedingungen der Gesellschaft und des Parteiensystems das Mittelfeld der Wähler in Konkurrenz gerade mit der Union zu überzeugen und für die Durchsetzung sozialer Reformen zu gewinnen.[65] Die Entwicklung zur Volkspartei bedeutete folglich, die unterschiedlichen sozialen Gruppen und die heterogenen Interessen, die durch die starke Diversifizierung der Mitgliederschaft entstanden waren und deren unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte zu berücksichtigen und in die sozialdemokratische Politik zu integrieren. Gerade durch den Zustrom hochpolitisierter neuer Mitglieder, vor allem aus dem studentischen Milieu, kehrte eine Form von Ideologie in die Partei zurück, die sich in einer aufstrebenden inneren Opposition, wie den Jusos äußerte.
Die Entwicklung der Wählerstruktur
Relativ schnell machte sich der im Godesberger Programm festgeschriebene Wandel und das Bestreben nach einem volksparteilichen Image in dem Wähleranteil und seiner Zusammensetzung bemerkbar. Bereits bei der Bundestagswahl 1961[66], gewann die SPD auch bei den Angestellten und Beamten überdurchschnittlich viele Wähler, sie konnte damit erstmals signifikant in das Wählerpotential der bürgerlichen Parteien einbrechen.[67] Dies zeigte, dass sich einerseits die Attraktivität der Unionsparteien mit der sich zu Ende neigenden Ära Adenauer verringert hatte und andererseits die SPD durch ihr verändertes Erscheinungsbild und das Reformbestreben auch für Nicht-Arbeiter eine wählbare Alternative darstellte. Durch die Kooperationsbereitschaft der SPD mit der Unionsgeführten Regierung deutete sich eine grundlegende Abkehr von der Polarisierung der Nachkriegszeit im bundesrepublikanischen Parteienspektrum an.
Die immer größer werdende Zahl an Angestellten, als Ergebnis des seit den sechziger Jahren forcierten Umbruchs von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft, führte bei dieser Gruppe auch zu einer abnehmenden Privilegierung im Arbeitsprozess. Der Wunsch, sich gewerkschaftlich zu organisieren, stieg. Dies wiederum führte in den sechziger Jahren zu einer verstärkten Hinwendung zur SPD.[68] Parallel zu dem kontinuierlichen Stimmenzuwachs seit 1961 (36,2%) bis 1969 (42,7%) und dem größten Erfolg 1972 (45,8%), war eine Ausweitung ihres Großstadtbonus zu verzeichnen. Gerade in den Ballungszentren konnten beispielsweise verstärkt katholische Arbeiter, aber auch Angestellte und Beamte gewonnen werden, was letztlich den Erfolg bei der Landtagswahl 1965 in NRW ermöglichte.
„Bei der CDU/CSU ist reziprok zur Verstädterung der SPD und FDP eine Verländlichung zu registrieren, so dass insbesondere für die sozialliberale Ära eine Polarisierung politischer Lager entlang des Modernismus-Traditionalismus-Paradigmas herauszulesen ist.“[69]
[...]
[1] Bundestagswahl vom 6.09.1953: SPD: 28,8%, CDU/CSU: 45,2%, FDP: 9,5%. Quelle:http://www.bundeswahlleiter.de/ergebalt/d/t/bt-int53.htm. Auch die Bundestagswahl 1957 brachte für die SPD keine signifikanten Veränderungen, sie blieb im 30%-Turm gefangen, diese Rolle als Oppositionspartei im deutschen Parteiensystem schien sich zu zementieren. Die Union hingegen errang erstmals die absolute Mehrheit. Ergebnisse der Wahl vom 15.09.1957: SPD: 31,8%, CDU/CSU: 50,2%, FDP: 7,7%. Quelle:http://www.bundeswahlleiter.de/ergebalt/d/t/bt-int57.htm.
[2] Der Gebrauch des Ausdrucks Volkspartei wird in der Wissenschaft zunehmend kritisch beurteilt. Problematisch ist der Begriff wegen der Verknüpfung von „Volk“, das für eine Gesamtheit steht und „Partei“ als Teil dessen. Dies suggeriert auch, dass es in einem Staat nur eine Volkspartei geben kann und eine Opposition eher schwach ausgeprägt ist. Der Begriff beinhaltet so gesehen einen gewissen Totalitätsanspruch. Autoren wie Alf Mintzel plädieren deshalb dafür, den Ausdruck „Großpartei“ zu benutzen. Auch wenn der Begriff Volkspartei deshalb nicht unproblematisch ist, gebrauchen ihn die meisten Autoren, weshalb er auch hier trotz seiner Mängel benutzt wird.
[3] Vgl. dazu auch Bouvier, Beatrix W.: Auf der Woge des Zeitgeistes? Die SPD seit den 60er Jahren, in: Dieter Dowe (Hrsg.): Partei und soziale Bewegung. Kritische Beiträge zur Entwicklung der SPD seit 1945, Bonn 1993, S.82. Bezogen auf die SPD und ihr Verständnis des Begriffs Volkspartei sagte Klaus Schütz auf dem Karlsruher Parteitag 1964, dass die SPD kein Staat mehr im Staate sein wolle, sondern sie gebe Hunderttausenden, die aus den unterschiedlichsten Schichten kämen, eine geistige Heimat. Sie biete so ein Abbild der verschiedenen beruflichen und soziologischen Schichten des Volks. Aus diesem Grunde sei sie eine Volkspartei. Lösche, Peter und Walter, Franz: Die SPD, Darmstadt 1992, S.149.
[4] Charakteristika dieses 1965 publizierten Konzepts sind unter anderem: grundsätzliche Anerkennung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung/prinzipiell antirevolutionär, lediglich sozialreformerische Orientierung/Massenintegration nicht mehr auf klassenmäßiger oder konfessioneller Basis, sondern Wähler aus allen Schichten und Gruppen / Stimmenmaximierungsprinzip/Vage und allgemein formuliertes Parteiprogramm, lediglich Ausarbeitung von Ziel- und Aktionspräferenzen / Grundsätzlich und häufig um Kompromiss bemüht, um mehrheitsfähig zu sein / Entideologisierung, geringe Bedeutung von Ideologie / Volksparteien und die ihnen nahestehenden Interessenverbände sind relativ unabhängig voneinander / Instrumentalisierung und Nutzung verschiedener Interessenverbände als beständiges Wähler- und Massenreservoir / Nominierung von Kandidaten; Führerauslese. / Stärkung der Parteispitze / Wenig loyale Mitgliederschaft / Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds / mehr differenzierte Organisation lose Beziehung zur Wählerschaft, begrenzte Integration. Vgl. dazu Mintzel, Alf: Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Ein Lehrbuch, Opladen 1977, S.99-102.
[5] SPD-Grundsatzprogramm von Bad Godesberg 1959, S.27. Weiter heißt es dort: „Sie will die Kräfte, die durch die industrielle Revolution und durch die Technisierung aller Lebensbereiche entbunden wurden, in den Dienst von Freiheit und Gerechtigkeit für alle stellen. (...) Darum ist die Hoffnung der Welt eine Ordnung, die auf den Grundwerten des demokratischen Sozialismus aufbaut, der eine menschenwürdige Gesellschaft, frei von Not und Furcht, frei von Krieg und Unterdrückung schaffen will, in Gemeinschaft mit allen, die guten Willens sind. (...) Auf deutschem Boden sammeln sich die Sozialisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die jeden in ihren Reihen willkommen heißt, der sich zu den Grundwerten und Grundforderungen des demokratischen Sozialismus bekennt.“
[6] Mooser, Josef: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Frankfurt/Main 1984, S. 181.
[7] Ebd. S.184.
[8] Mooser, S.194.
[9] Ebd., S.198. Die Subkultur reduzierte sich fortan auf private Freundschaftskreise. Gleichzeitig gab es aber auch zahlreiche Integrationsversuche wie die unklare Aufwertung der Arbeit zur „Ehre“ oder der Übernahme und Einführung des 1. Mai als staatlichem Feiertag. Noch 1955 glaubten 40% der Bevölkerung, dass unter dem Nationalsozialismus die Arbeiter mehr gegolten hätten als schließlich in der Bundesrepublik, 1960 waren es noch 20%.
[10] Mooser, S.204.
[11] Mooser, S.210. Dadurch änderten sich auch die Forderungen. An die Stelle früherer Klassenauseinandersetzungen traten nun die Forderungen nach Teilhabe am Wirtschaftswachstum, die Abfederung allgemeiner Lebenssicherungen und Konjunkturkrisen durch den Aufbau eines funktionierenden Sozialstaats. Schlüsselwörter gerade für die Arbeiterschaft wurden „gerechter“ Lohn, Vollbeschäftigung und „soziales Netz“.
[12] Das Programm löste das bis dahin gültige Heidelberger Programm der SPD von 1925 ab, wo die demokratische Republik noch als „günstigster Boden für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und damit für die Verwirklichung des Sozialismus“ gesehen wurde. Vgl. dazu Miller, Susanne und Potthoff, Heinrich: Kleine Gesichte der SPD, Bonn 1991, S.363.
[13] Dieser Wandel der Erwerbsstruktur wird an einigen Zahlen des Statistischen Bundesamts deutlich: Von je 100 Erwerbstätigen waren 1895: 25 Selbständige, 19 mithelfende Familienangehörige, 8 Angestellte und Beamte, 57 Arbeiter. 1950 waren 16 Selbständige, 15 mithelfende Familienangehörige, 20 Angestellte und Beamte, 49 Arbeiter. Die Zahlen von 1987 verdeutlichen zum Abschluss des Wandels eine völlig veränderte Berufswelt: 8 waren Selbständige, 2 mithelfende Familienangehörige, 50 Angestellte und Beamte, 40 Arbeiter. Miller/Potthoff, S.315.
[14] vgl. dazu auch Schönhoven, Klaus: Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Werner Abelshauser u.a. (Hrsg.), Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 25. Jahrgang 1999, S. 125-145, S.137.
[15] Müller, Peter.: Das „Volkspartei“-Konzept der SPD, in: Ebbinghausen, Rolf und Tiemann, Friedrich (Hrsg.): Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsabend für Theo Pirker. Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Band 43, S.386- 406, Opladen 1984, S. 396f.
[16] Müller, Peter, S.396.
[17] Klotzbach, Kurt: Die moderne SPD: Entwicklungslinien und Hauptprobleme von 1945 bis zur Gegenwart. In: Kämpfe, Krisen, Kompromisse, hrsg. von: Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, Bonn 1989, S. 113.
[18] Ebd.
[19] Ummenhofer, Stefan: Hin zum Schreiten Seit' an Seit'? : SPD und katholische Kirche seit 1957, Berlin 2000, S.41.
[20] Ummenhofer, S.42, zitiert nach einer Aussage in „Der Zeit“ vom 11.11.1959.
[21] Politischer Arbeitskreis des BDKJ der Diözese Passau: Der junge Katholik und die SPD: man scheint uns zu brauchen, Hrsg. vom Politischer Arbeitskreis des BDKJ, Diözese Passau. Passau, 1965, S.4.
[22] Brehm, Thomas: SPD und Katholizismus in den fünfziger und sechziger Jahren, In: Aus Politik und Zeitgeschehen, Nr. 48, Bonn 1989, S.32-46, S.34.
[23] Ein Haupteskalationsthema war vor allem im 1. Bundestagswahlkampf neben der programmatischen Ausrichtung der SPD der Streit um das Elternrecht auf die Bekenntnisschule. Der SPD wurde vorgeworfen, sie habe durch die Ablehnung des Elternrechts, ihre Kinder auf eine Konfessionsschule zu schicken, ihre Haltung zum Christentum entlarvt. Vgl. dazu Klotzbach, Kurt: SPD und Katholische Kirche nach 1945: Belastungen, Missverständnisse und Neuanfänge, In: In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. 29, 1989, Berlin 1989 , S. XLI.
[24] Klotzbach, S. XLI.
[25] Haunhorst, Benno: Das Gespräch ist die Voraussetzung für Verständnis : Willi Eichlers Beiträge zum Verhältnis zwischen katholischer Kirche und SPD, in: Die Neue Gesellschaft, Nr. 27, Bonn 1980, S. 778-783, S.778.
[26] Für die Gegnerschaft, die sich zwischen Katholiken und Sozialisten im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, sah der SPD-Politiker zwei Gründe: Zum einen die Ignorierung der Arbeiterinteressen durch die Katholische Kirche und die dadurch ausgelöste Abkehr der Arbeiter weg von der Kirche hin zu den Gewerkschaften und zur SPD. In beiden Organisationen bildeten sich als Resultat aus diesem Fehlverhalten der Kirche antireligiöse, materialistische Tendenzen, die wiederum aus katholischer Sicht eine Zusammenarbeit unmöglich machten. Unter anderem sind dies die gemeinsame Verpflichtung für eine Welt ohne Krieg, Not und Unmenschlichkeit, hohe Übereinstimmung im Bereich der ethischen Werte und in der Anerkennung der Menschenwürde sowie der Forderung nach Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Haunhorst S. 779.
[27] Haunhorst, S.779.
[28] Politischer Arbeitskreis des BDKJ der Diözese Passau, S.12.
[29] Es kam zu einer Veränderung der katholischen Gruppenkultur. Das im Kulturkampf entstandene und sich im Kaiserreich und Weimarer Republik trotz aller Säkularisierungstendenzen erhaltene Konfessionsmilieu des politischen Katholizismus begann sich zunehmend aufzulösen. Schönhoven, S.138. Unterlegt wird dies durch einige Zahlen: Anfang der 60er Jahre besuchten noch 55,5% der Katholiken und 15% der Protestanten regelmäßig den Sonntagsgottesdienst. 1973 waren es nur noch 35% der Katholiken und 7% der Protestanten. Es kommt somit zu einer Reduktion des Religiösen. Maier, Hans: Religion und Kultur, in: Broszat, Martin (Hg.): Zäsuren nach 1945 : Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S.139.
[30] Diese Sozialenzyklika war als Antwort auf die bis dahin gültige Enzyklika „Quadragesimo Anno“ , die von Papst Pius XI. 1931 erlassen worden war, zu verstehen. Johannes XXIII blickte zwar in „Mater et Magistra“ auf die in der vorherigen Enzyklika ausgesprochene Verurteilung des Sozialismus („Es ist unmöglich, ein guter Katholik und ein wirklicher Sozialist zu sein.“) zurück, wiederholte die Verurteilung aber nicht. Vg. Dazu Ummenhofer, S.43.
[31] In dieser Friedensenzyklika bekundete Johannes XXIII. Den Willen, den Dialog mit den tragenden Kräften der modernen Welt aufzunehmen, und sich unbeschadet der strengen Ablehnung des Atheismus gegenüber den kommunistischen Staaten neutral zu verhalten.
[32] Mater et Magistra, n.110, zitiert nach Bundesverband der KAB, S.230. in: Ummenhofer: S.43f.
[33] Jedoch erledigte sich der Schulkonflikt, eine der erbittersten Streitthemen zwischen SPD und Kirche bald von selbst, weil es eine Veränderung im Bildungsbewusstsein der katholischen Bevölkerungskreise gab mit einer verstärkten Hinwendung zu säkularen Bildungserwartungen und -anforderungen einer modernen Leistungsgesellschaft im Industriezeitalter. Vgl. dazu Klotzbach, S.XLIV. In den Bildungspolitischen Leitsätzen hatte die SPD 1964 bereits ihren Kurswandel dargelegt: „Die Sozialdemokratische Partei respektiert die Entscheidung der Eltern, die einer durch ihren Glauben oder durch ihre Weltanschauung besonders bestimmten Erziehung der Vorrang geben.“ Zitiert nach Ummenhofer, S.126.
[34] Klotzbach, S. XLV.
[35] Klotzbach, S. XLVI.
[36] Klotzbach, S. XLVIII.
[37] Zitiert nach Fulst, Stefan: Auf dem Weg zur Volkspartei? Die Entwicklung der SPD in Mannheim 1959-1972, (Diplomarbeit) Mannheim 1994, S.59. Aus: Vorstand der SPD (Hg.): Jahrbuch 1970-72 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Bonn o.J., S.296.
[38] vgl. zur Parteiorganisation die ausführliche Darstellung bei Heimann, S.2139-2152.
[39] Miller/Potthoff, S. 203.
[40] Miller/Potthoff, S.203.
[41] Lösche/Walter, S. 181f.
[42] Rudolph, Karsten: Die 60er Jahre: Das Jahrzehnt der Volksparteien? In: Axel Schildt; Detlef Siegfried; Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S.471-491, S.481f.
[43] Mit dieser Abschaffung eines sich aus besoldeten Mitgliedern zusammensetzenden geschäftsführenden Vorstandes wurde auch die politisch starke Stellung der besoldeten Parteisekretäre in den Bezirken und Unterbezirken zur Disposition gestellt. Die dominierende Struktur hauptamtlicher Funktionäre begann sich aufzulösen. Die politische Führung ging zunehmend auf Mitglieder von Kommunal- oder Landtagsparlamenten über, die nicht von der Partei bezahlt wurden, sondern in einem Lohnverhältnis in Privatunternehmen oder Verwaltungen standen. Lösche/Walter, S.189.
[44] Rudolph, Karsten S. 482.
[45] Ebd.
[46] Heimann, Siegfried: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands, in: Richard Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Sonderausgabe Band 4: NDP bis WAV, S.2033.
[47] Rudolph, Karsten, S. 482.
[48] Lösche/Walter, S.183.
[49] Ebd., S.184.
[50] Lösche/Walter, S.187.
[51] Als klassische Integrationspartei der Arbeiterklasse zur Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatte die SPD in Form eines umfassenden Vereinslebens, Arbeiterturn-, Sport-, und Wanderorganisationen und Freidenker-Verbänden gekoppelt mit Einrichtungen zur Feuerbestattung, Arbeiter-Sängerbund, Buchgemeinschaften, Volksbühne, Schachklubs usw. ihren Mitgliedern eine Heimat und einen Lebensinhalt geboten. Dadurch wurde diese aber auch zugleich von der übrigen Bevölkerung isoliert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Vereine zum großen Teil nicht mehr neu gegründet oder veränderten ihren Charakter, die sozialdemokratische Subkultur wurde gerade auch durch die Öffnung zu neuen Schichten nach Godesberg weitgehend aufgelöst. Vgl. dazu: Miller/Potthoff, S.208.
[52] Lösche/Walter gebrauchen diesen Begriff, S.192.
[53] Güllner, Manfred: Daten zur Mitgliederstruktur der SPD: Von der Arbeiterelite zu den Bougeoisiesöhnchen, in: Wahlforschung: Sonden im politischen Markt, Opladen 1977.
[54] Einige Zahlen verdeutlichen dies: 1968: 732 446 Mitglieder, 1969: 778 945, 1970: 820 202, 1971: 847 456, 1972: 954 394. zitiert nach Miller, Die SPD vor und nach Godesberg, S.65.
[55] Güllner, S.97.
[56] Miller, S.67, Tabelle 2: Neuzugänge nach dem Beschäftigungsverhältnis.
[57] Güllner, S.98.
[58] Lange, Ania: Die Selbstdarstellung der SPD als moderne Volkspartei in des Bundestagswahlkämpfen 1961 und 1965 (Magisterarbeit), Köln 1995, S.27.
[59] Güllner., S. 99f.
[60] Ebd., S. 101. Nur in dem Bereich des Kassierers in den Ortsvereinen waren die Arbeiter mit 44% mit einem ihrer Gesamtmitgliedschaft entsprechendem Anteil vertreten.
[61] Lösche/Walter, S.153f. Die unterschiedliche Bewertung der SPD als Volkspartei durch die älteren und jüngeren Mitglieder verdeutlichte die Veränderung der Mitgliederstruktur und die unterschiedlichen Motivationen, in die SPD einzutreten. Während die Mehrheit der älteren Mitglieder in einer repräsentativen Umfrage von 2534 SPD-Mitgliedern 1977 angab, die SPD sei im Sinne ihrer arbeiterparteilichen Tradition schon immer eine Partei des Volkes, also eine Partei der breiten Masse der Arbeitnehmer gewesen, sahen die jüngeren Mitglieder die SPD erst nach Godesberg als Volkspartei, weil sie sich dadurch neuen Schichten und Gruppen öffnete. Vgl. dazu Mintzel, S.36.
[62] vgl. Fußnote 47: Die eigene Subkultur mit einem ausdifferenziertem Vereinswesen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nur geringfügig wiederbelebt, mit dem Aufbruch zur Volkspartei wurde sie praktisch inexistent. Das ziel war nicht mehr Abgrenzung von anderen Schichten, sondern Erreichung möglichst vieler schichten.
[63] Lösche/Walter, .S.156.
[64] Lösche/Walter, S.159.
[65] Güllner, S.105.
[66] Bundestagswahlen am 17.9.1961: SPD 36,2%, CDU/CSU: 45,4%, FDP: 12,8%. Quelle:http://www.bundeswahlleiter.de/ergebalt/d/t/bt-int61.htm.
[67] Heimann, Siegfried, S.2125.
[68] Heimann, Siegfried, S.2125.
[69] Lehnert, Detlef, S.25.
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- Daniel-David Pirker (Autor:in), Georg Ismar (Autor:in), Dennis Buchner (Autor:in), Felix Reibestein (Autor:in), 2013, Die Zukunft der SPD, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262285