Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther«. Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2013

25 Seiten, Note: 11


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Biografischer und literaturgeschichtlicher Hintergrund

3. Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung in Goethes »Die Leiden des jungen Werther«
3.1. Der Briefroman als Medium der Ich-Aussprache
3.2. Die Natur als Spiegel von Empfindungen
3.3. Der Konflikt mit der Gesellschaft
3.3.1. Lotte
3.3.2. Albert
3.3.3. Andere Personen
3.4. Die Krankheit zum Tode
3.4.1. Vorausdeutungen
3.4.2. Herausgeberbericht

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Goethes Roman » Die Leiden des jungen Werther « ist ein Zeugnis zweier literarischer Epochen, die neben der Aufklärung bis ins späte 18. Jahrhundert andauern: der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Das zentrale Kennzeichen beider Epochen ist die stark ausgeprägte Gefühlsbetontheit. Im Werther-Roman geht es dementsprechend um die Selbstaussprache der leidenden Hauptperson. Werther versucht seine intensiven Gefühle anhand von Briefen und Tagebucheinträgen auszudrücken: „In seinen leidenschaftlichen Übersteigerungen und seiner subjektiven Weltsicht charakterisiert er mit den Gegenständen seiner Erzählung immer auch den Erzähler, sich selbst. [...] Werther macht aus seiner subjektiven Sicht sein Leben und seine Liebe objektiv erfahrbar.“1

Im Rahmen dieser Hausarbeit soll die Frage erörtert werden, inwiefern im Roman von einer Selbsterkenntnis und einer Selbstdarstellung der Hauptperson gesprochen werden kann und auf welche Weise dies sprachlich umgesetzt wird. Es soll dabei insbesondere untersucht werden, inwieweit Werther sich seinem eigenen inneren Zustand bewusst ist und inwieweit er reflektiert, was zu seinem Entschluss, Selbstmord zu begehen, geführt hat.

Vor einer ausführlichen Analyse des Themas in Bezug auf den Roman selbst gehe ich zunächst auf den biografischen und literaturgeschichtlichen Hintergrund des Werks ein, der unverkennbar in Goethes Schreibprozess mit eingeflossen ist. Auf diese kurze Skizzierung der zeitgeschichtlichen Umstände folgt der Hauptteil der Arbeit. Ich beginne mit der Darstellung des Briefromans als ein unmittelbares Medium der Ich-Aussprache. Weiterhin soll die Naturdarstellung im Roman als Spiegel von Werthers Empfindungen beschrieben werden. Darauf folgt - anhand ausgewählter Romanfiguren - eine Analyse des gesellschaftlichen Konflikts, indem Werther sich befindet. Zum Schluss gehe ich näher auf die sogenannte »Krankheit zum Tode« ein. Dabei steht zum einen Werthers seelische Entwicklung und zum anderen der Herausgeberbericht über seine letzten Tage im Vordergrund.

2. Biografischer und literaturgeschichtlicher Hintergrund

Der Roman ist nicht nur stark von den literaturgeschichtlichen Umständen der Zeit, sondern insbesondere auch von Goethes eigener Biografie und seinen persönlichen Erfahrungen geprägt.

„Goethes Liebe zu Lotte Buff ist der Hintergrund des Romans.“2 Wenige Wochen nachdem Goethe zur Fortsetzung seiner juristischen Ausbildung ans Reichskammergericht in Wetzlar gekommen war, lernte er die damals neunzehn Jahre alte Lotte Buff kennen. Zu diesem Zeitpunkt war diese jedoch schon vier Jahre mit dem Gesandtschaftssekretär Johann Christian Kestner verlobt.3 Diese problematische Dreiecksbeziehung bildet die Vorlage zur tragischen Geschichte des Werther-Romans. Goethe bindet die eigenen Erlebnisse in die Geschichte ein, sodass man von einer unmittelbaren „Verschränkung von Fakten und Fiktion”4 sprechen kann. Ernst Beutler schreibt im Nachwort zur Reclam- Ausgabe, dass „das Abschiedsgespräch mit Lotte und Kestner vom 10. September“5 fast so stattgefunden habe wie es im Roman geschildert wird, als „ein Gespräch über Tod und Wiedersehen im Jenseits“6.

Während seiner Anwaltstätigkeit in Frankfurt, erfährt Goethe vom Tod seines Studienfreundes Karl Wilhelm Jerusalem. Der junge Mann hatte sich am 30. Oktober 1772 „eine Kugel in den Kopf geschossen, aus Verzweiflung über seiner unerwiderte Liebe zur Gattin seines Freundes“7. Neben dem tragischen Ende finden sich noch weitere Parallelen zur Wertherfigur. Beispielsweise hatte Jerusalem ebenfalls eine negative Einstellung zur Gesellschaft: Einerseits litt er „unter dem Standesdünkel der adligen Gesandten am Kammergericht“8, andererseits neigte er „zur Melancholie und zur Vereinsamung, er entzog sich allezeit der menschlichen Gesellschaft“9.

Zu den Ereignissen, die den Roman beeinflussten, gehörte nicht nur die Liebe zu Lotte Buff und der Selbstmord Jerusalems, sondern auch eine weitere unglückliche Liebesbeziehung. Bei einem Besuch der Familie Laroche lernte Goethe die damals sechzehnjährige Tochter Maximiliane kennen. Nachdem Kestner und Lotte 1773 geheiratet hatten, heiratete im darauffolgenden Jahr auch Maximiliane. Goethe „erfuhr nun in der hoffnungslosen Neigung zu einer verheirateten Frau und der Eifersucht des Ehemannes, was zwei Jahre vorher Jerusalem in Wetzlar in den Tod getrieben hatte“10. Nach diesen Ereignissen schrieb Goethe seinen Roman über » Die Leiden des jungen Werther « 1774 innerhalb weniger Wochen nieder.

Neben der persönlichen Biografie Goethes muss unbedingt auch der literaturgeschichtliche Hintergrund des Romans beleuchtet werden. Wie bereits zu Anfang erwähnt, sind Goethes frühe Werke unter anderem von der Epoche der Empfindsamkeit geprägt. Edgar Hein beschreibt die Epoche als einen Akt der Befreiung aus starren Ordnungen und der damit verbundenen Herausbildung von Individuen:

„Es war die Epoche, in der die Menschen lernten, sich als Persönlichkeiten, als Einzelne zu empfinden. Der Künstler löste sich aus den Zünften, der Bürger löste sich aus dem rechtlosen Gehorsam gegenüber einem absoluten Monarchen, der Christ löste sich vom Glaubensanspruch einer in Dogmen erstarrten Kirche. Und das so befreite Individuum erlebte seine Erfüllung im Gefühl.“11

Und genau diese Entwicklung, dieses Gefühl der Zeit spiegelt sich auch in Goethes Roman wieder. Nicht nur der überschwängliche Sprachgebrauch zeugt von der Berufung auf das Gefühl, sondern auch die auffallende Betonung des Herzens. So ist »Herz« das Wort, „das immer wieder in den Briefen Werthers auftaucht, das als Thema den ganzen Roman beherrscht“12. Allerdings hat diese starke Konzentration auf die Innerlichkeit auch eine Kehrseite: „Der Kult des Herzens macht Werther zum Getriebenen seines Gefühls.“13 So klagt Werther im Brief vom 30. August: „Ach Wilhelm! Wozu mich mein Herz oft drängt!“ (S. 6514 ). Die Dramatik dessen wird vor allem darin deutlich, dass Werther am Ende desselbigen Briefes keinen anderen Ausweg als das Grab sieht. „Das Übel war die Gefahr der Haltlosigkeit und der Selbstzerstörung in der hemmungslosen Hingabe an das Herz. Werther erreicht niemals jene Distanz, wie sie allein durch Klarheit des Geistes und Festigkeit des Herzens erworben werden kann.“15 Und eben aufgrund dieser Distanzlosigkeit führt Werthers unbedingte Liebe in den Tod.

Die starke Betonung des Gefühls liegt in den literaturgeschichtlichen Umständen der Zeit begründet. Die Dichter wandten sich mit einer neuen Form von Poetik gegen die starren Formen und Regeln des Rokoko. „Aus der Fülle des Herzens reden und schreiben, so lautet das Programm der Stürmer und Dränger gegen die Formelhaftigkeit barocker Rhetorik.“16 Die Stürmer und Dränger, zu denen auch Goethe gehörte, bezeichneten sich selbst als »Genies«. Der Geniebegriff wurde damals allerdings anders definiert als heute:

„Das Wort wird noch nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts als intellektuelle Hochbegabung verstanden, sondern eher im Sinne des antiken Genius, einer dem Menschen innewohnenden Kraft göttlichen Ursprungs. Hauptkennzeichen diese neuen Genies ist Originalität, und das bedeutet Vernachlässigung alles dessen, was Ordnung und Wohlstand heißt. [...] Genialisches Verhalten bekundete sich in einem ständigen Gefühlsüberschwang, in brüderlichen Umarmungen, Freundschaftsfeiern und Verdammungsritualen gegen die literarischen Antigötter des Rokoko.“17

Das Problem sahen die Stürmer und Dränger insbesondere darin, dass durch den Einfluss der Aufklärung nicht das Außergewöhnliche und Neue zählte, sondern „das vernünftige Mittelmaß zur Norm“18 gemacht wurde. Somit wurden „Freiheit und Regellosigkeit [...] auch zum Programm einer neuen Poetik“19, die Goethe ganz entscheidend mitgeprägt hat. Auch » Die Leiden des jungen Werther « sind ein Zeugnis jener Auseinandersetzung zwischen Verstand und Gefühl, genauer zwischen der Verstandesideologie der Aufklärung und der Gefühlsideologie des Sturm und Drang. Im Roman zeigt sich nicht nur eine ablehnende Haltung gegenüber starrer Regelhaftigkeit, sondern ganz besonders auch der Wunsch nach dichterischer Freiheit. Es stehen weniger bestimmte Ereignisse im Vordergrund, als vielmehr die Einbindung und der Ausdruck von Empfindungen. „Christian Friedrich Blanckenburg (1774) sieht schon nicht mehr in den Begebenheiten der handelnden Personen, sondern in den Empfindungen das Wesen des Romans.“20

3. Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung in Goethes „Die Leiden des jungen Werther“

3.1. Der Briefroman als Medium der Ich-Aussprache

In keiner anderen Literaturgattung kommt das »Ich« so intensiv zur Sprache wie im Briefroman. Die Gattung des Briefromans wurde „ab Mitte des 18. Jahrhunderts besonders im Zuge der Empfindsamkeit zunehmend populärer. Prädestiniert ist der ,Roman in Briefen’ dafür, Gefühle und Haltungen von Personen scheinbar ungefiltert zur Sprache bringen zu können.“21 Das Hauptcharakteristikum im Werther-Roman ist darum auch der starke Subjektivismus, der sich durch die gesamte Handlung zieht und sich durch die ständige Berufung auf das eigene Ich bemerkbar macht. Goethe unterschied sich jedoch von anderen Dichtern seiner Zeit. Er „fügte der Tradition des empfindsamen Briefromans nicht einfach nur ein weiteres Werk hinzu, sondern entwickelte sie vielmehr im Sinne der Sturm und Drang-Poetik weiter“22. Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Briefromanen findet im Werther-Roman keine dialogische, sondern eine monologische Kommunikation statt. Während sonst oft aus der Perspektive verschiedener Personen erzählt wird, gibt es innerhalb der Briefe nur eine einzige Erzählperspektive: die der Hauptperson. „Dieser Mut zur Selbstaussage begründet eine neue Briefkultur. [...] Für eine solche persönlich bekenntnishafte Selbstdarstellung fand sich in der Rokokoliteratur kein Muster.“ 23 Im Folgenden soll gezeigt werden, was » Die Leiden des jungen Werther « als Briefroman im Besonderen kennzeichnet und inwiefern man von einer Selbstdarstellung der Hauptperson sprechen kann.

Der Roman besteht aus chronologisch geordneten Briefen, die lediglich am Ende durch einige Worte des Herausgebers unterbrochen werden. „Bester Freund heißt die Anrede des ersten Wertherbriefes.“24 Den Name des Freundes - Wilhelm -, an den die meisten Briefe gerichtet sind, erfährt der Leser erst im siebten Brief. Allerdings ist das „Du, an das Werther sich richtet, [oft gar nicht] nicht Wilhelm, sondern sein eigenes >Herz<“25. Die Erzählweise ist durch ihre äußerste „Nähe zum Ich und [ihre] Distanz zur äußeren Wirklichkeit“26 gekennzeichnet. In der Unbestimmtheit der Ortsbezeichnungen zeigt sich die extreme Ichbezogenheit: „Das eigene Ich ist wichtiger als die äußere Welt.“27 Edgar Hein bezeichnet die Wertherbriefe als „ein ständiges, sich dramatisch steigerndes Ichgespräch.“28

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Wie froh bin ich, dass ich weg bin!“ (S. 5). Am Anfang des Romans steht also eine Flucht. Im weiteren Verlauf des ersten Briefes erfährt der Leser, dass Werther aus einer gescheiterten Beziehung geflohen ist, genauer aus einer unglücklichen Dreiecksbeziehung mit zwei Schwestern. Werther ist fest entschlossen, sich nun zu ändern: „ich will mich bessern, will nicht mehr ein bisschen Übel, das uns das Schicksal vorlegt, wiederkäuen, wie ich’s immer getan habe; ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein“ (S. 5). Er hat sich vorgenommen, seine negative Grundhaltung zu überwinden und von nun an ein neues Leben zu beginnen. Neben den Briefen, die Werther an seinen Freund oder an Lotte richtet, kommt gegen Ende des Romans auch der Herausgeber zu Wort. Auffällig ist, dass sich die jeweiligen Erzählstile sehr stark voneinander unterscheiden.

[...]


1 Hein, Edgar: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther, Interpretation von Egar Hein, 2. überarbeitete und korrigierte Auflage, München 1997, S. 53f.

2 Beutler, Ernst in: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Nachwort von Ernst Beutler, Stuttgart: Reclam 2001, S. 161.

3 vgl. Beutler: a.a.O., S. 161.

4 Jürgensen, Christoph u. Irsigler, Ingo: Sturm und Drang, Göttingen 2010, S. 62.

5 Beutler: a.a.O., S. 161.

6 Beutler: a.a.O., S. 161.

7 Hein: a.a.O., S. 13.

8 Hein: a.a.O., S. 13.

9 Hein: a.a.O., S. 13.

10 Beutler: a.a.O., S. 162.

11 Beutler: a.a.O., S. 160.

12 Beutler: a.a.O., S. 159.

13 Hein: a.a.O., S. 70.

14 Alle folgenden Seitenangaben in runden Klammer beziehen sich auf: Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. Nachwort von Ernst Beutler, Stuttgart: Reclam 2001.

15 Hein: a.a.O., S. 71.

16 Hein: a.a.O., S. 69.

17 Hein: a.a.O., S. 31.

18 Hein: a.a.O., S. 32.

19 Hein: a.a.O., S. 32.

20 Hein: a.a.O., S. 34.

21 Jürgensen: a.a.O., S. 66.

22 Jürgensen: a.a.O., S. 66.

23 Hein: a.a.O., S. 19.

24 Hein: a.a.O., S. 37.

25 Hein: a.a.O., S. 37.

26 Hein: a.a.O., S.37.

27 Hein: a.a.O., S. 37.

28 Hein: a.a.O., S. 38.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther«. Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung
Hochschule
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Note
11
Autor
Jahr
2013
Seiten
25
Katalognummer
V262630
ISBN (eBook)
9783656509813
ISBN (Buch)
9783656509837
Dateigröße
32504 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Die Leiden des jungen Werther, Goethe, Selbsterkenntnis, Selbstdarstellung, Werther, Briefroman, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Johann Wolfgang von Goethe
Arbeit zitieren
Linda Lau (Autor:in), 2013, Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther«. Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/262630

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