Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erich Kästner: Fantasie von Übermorgen
2.1. Form- und Sprachanalyse
2.2. Analyse der Inhaltsebene
3. Ein literarischer Vergleich: Erich Kästners Fantasie von Übermorgen und Jacques Préverts Familiale
3.1. Vergleich der Form- und Sprachebene
3.2. Vergleich der Inhaltsebene
4. Realistische Elemente in Erich Kästners Fantasie von Übermorgen und Jacques Préverts Familiale
5. Zusammenfassung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die moderne Lyrik des 20. Jahrhunderts ist ein exemplarisches Sinnbild für den politischen und gesellschaftlichen Wandel eines bewegten Europas. Diese Zeit der Selbstfindung war über Jahrzehnte hinweg von militärischen Konflikten und Interventionen geprägt, die auch die damaligen Litertaturschaffenden nicht unberührt ließen. Aus diesem Grund befassen wir uns in dieser Arbeit mit der antimilitaristischen Lyrik der Moderne in Form eines literarischen Vergleichs zwischen Erich Kästners Gedicht Fantasie von Übermorgen und Jacques Préverts Familiale. Die Frage, die hierbei neben grundlegenden formellen und inhaltlichen Aspekten des literarischen Vergleichs im Vordergrund stehen wird, ist die nach der Rolle des Realismus und seiner jeweiligen Funktionsweise.
Zunächst werden wir Erich Kästners Gedicht Fantasie von Übermorgen näher betrachten und in einem ersten Unterkapitel mithilfe einer Form- und Sprachanalyse die im Kontext dieser Arbeit essentiellen Aspekte herausarbeiten. Anschließend werden wir noch eine Analyse der Inhaltsebene vornehmen, wobei die Erschließung signifikanter Isotopien im Fokus stehen wird.
Diese zuvor gewonnen Erkenntnisse werden als Grundlage für den darauffolgenden literarischen Vergleich mit Jacques Préverts Familiale dienen. Während wir dieses Gedicht ebenfalls den zuvor genannten Analysen unterziehen, wird an den prägnanten Stellen ein Bezug zu Erich Kästner eingeschoben, sodass essentielle Gemeinsamkeiten oder Unterschiede festgehalten werden können.
Nachdem der Vergleich der verschiedenen Textebenen vollzogen wurde, werden wir uns die realistischen Elemente der beiden Gedichte en détail vor Augen führen und Überlegungen hinsichtlich ihrer Wirkung anstellen.
In einem letzten Kapitel werden wir abschließend die wichtigsten Erkenntnisse, die im Rahmen dieser Arbeit gewonnen wurden, zusammenfassen.
2. Erich Kästner: Fantasie von Übermorgen
In diesem ersten Kapitel der Arbeit werden wir zunächst das Anti-Kriegs-Gedicht Fantasie von Übermorgen von Erich Kästner analysieren, welches 1929 in dem Gedichtband Lärm im Spiegel veröffentlicht wurde.
Die formalen und inhaltlichen Aspekte, die im Rahmen dieser ersten Analyse herausgearbeitet werden sollen, bilden die Grundlage für den späteren Vergleich mit Jacques Préverts Gedicht Familiale.
2.1. Form- und Sprachanalyse
Zunächst wollen wir den Aufbau und die Form des Gedichts genauer betrachten, bevor wir uns anschließend mit der sprachlichen Ebene auseinandersetzen.
Das vorliegende Gedicht weist eine regelmäßige Struktur auf, die weitestgehend typisch für die Lyrik Erich Kästners ist: In vier Quartetten wird die eigentliche Handlung des Gedichts geschildert, bevor sie schließlich in einem letzten Quintett ihr pointiertes Ende findet. Speziell in sozialkritischer Lyrik spielt die Schlusspointe eine tragende Rolle, da sie sich von der vorausgehenden Gliederung abhebt und somit einen nachhaltigen Effekt innerhalb des Leseakts erzeugt. Insofern eignet sich die Pointe gut, um die Wirkung moralisch-kritischer Ansichten zu verstärken. Die Hervorhebung der letzten Strophe wird außerdem durch einen Wechsel des Reimschemas erreicht: Die Erweiterung der letzten Strophe um einen fünften Vers verhindert die Aufrechterhaltung des bisher vorherrschenden Kreuzreims zugunsten einer freien, dem Madrigal ähnelnden Reimordnung (a-b-a-a-b).
Ferner spiegelt sich die eingangs erwähnte regelmäßige Struktur des Gedichts auch in dem konstanten Versmaß wider, welches durchweg deutlich jambisch ist.
In diesem formellen Kontext sind ebenfalls Interpunktion und Rechtschreibung zu erwähnen, die im vorliegenden Gedicht sehr korrekt erscheinen und den insgesamt sehr schlichten, bzw. sachlichen Eindruck bestätigen. Im Umkehrschluss lässt sich also festhalten, dass Kästner hinsichtlich der Form auf verspielte Kunstgriffe verzichtet und somit gleichzeitig den Fokus auf ein problemfreies Leseverständnis, also auf den Inhalt, legt.
Bevor wir uns im nächsten Unterkapitel näher mit dem Inhalt des vorliegenden Gedichts beschäftigen wollen, werden wir nun kurz die von Kästner verwendete Sprache genauer beleuchten.
Wie wir bereits zuvor im Rahmen der Formanalyse feststellen konnten, zeichnet sich das vorliegende Gedicht durch seine schlichte Struktur aus, deren Ziel es ist, den Leser ohne irritierende Kunstgriffe zur Pointe zu führen. Hinsichtlich der Sprache verfährt Kästner nicht anders: Die Strophen bestehen aus sehr kurzen, unmissverständlichen Versen, die keinerlei Doppeldeutigkeit zulassen und sich somit unauffällig in die nüchterne Struktur des Gedichts einfügen. Des Weiteren lässt sich festhalten, dass das Gedicht hinsichtlich des Sprachstils nahe der Alltagssprache anzusiedeln ist, welche gelegentlich in eine derbere Umgangssprache überzugehen scheint, sobald die potentiellen Verursacher des ausgebrochenen Krieges erwähnt werden: Begriffe wie „ Kerls “ (V. 8), „ übers Knie legen “ (V. 9) oder „ Großmaul “ (V. 14) lassen bereits erahnen, welchen Tenor dieses Gedicht hinsichtlich des Krieges anschlägt. Auffällig ist auch das Ausbleiben von bildlichen Ausdrücken oder anderen Kunstgriffen auf der sprachlichen Ebene, wodurch erneut die zwingende Notwendigkeit eines reibungslosen Textverständnisses in den Fokus der Lektüre gerückt wird.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass Form und Sprache des vorliegenden Gedichts von Kästner so gewählt wurden, dass sie den Leser ohne Umwege durch die vier Quartette hin zur abschließenden Pointe führen. Die strenge Struktur erfährt erst mit der Pointe ihren Bruch und weist den Leser somit auf ihre Sonderstellung innerhalb des Gedichtes hin. Der reduzierte Gebrauch der Sprache gewährleistet, dass möglichst jeder Rezipient die sozialkritische Botschaft des Textes erfassen kann, ohne sich in irritierenden Stilmitteln zu verlieren.
2.2. Analyse der Inhaltsebene
Bevor wir einzelne inhaltliche Aspekte des vorliegenden Gedichts genauer beleuchten, wollen wir uns einen kurzen Überblick über die geschilderte Handlung verschaffen.
Zunächst erfahren wir, dass „ der nächste Krieg “ (V. 1) ausgebrochen sei, wobei es so scheint, als läge der vorangegangene Krieg noch nicht allzu lange zurück. Die Frauen reagieren darauf widerwillig und beschließen, um den Krieg zu verhindern, „ Bruder, Sohn und Mann “ (V. 3) einzusperren. Anschließend brechen die Frauen mit Stöcken bewaffnet auf, um die Hauptmänner aller involvierten Länder aufzusuchen und sie aus ihren Häusern zu zerren. Daraufhin legen sie jeden übers Knie, der für diesen Krieg verantwortlich zu sein scheint, nämlich „ die Herren der Bank und Industrie, den Minister und General “ (V. 11, 12). Damit gelingt es ihnen, den Krieg zu stoppen, woraufhin sie wieder nach Hause zu ihren Männern gehen, die sie zuvor eingesperrt hatten. Als die Frauen ihnen erzählen, dass der Krieg aus sei, schauen diese jedoch aus dem Fenster und würdigen sie keines Blickes.
Bereits der Titel des Gedichts verrät uns, dass es sich bei diesem absurd-komischen Szenario um eine Fantasie handelt. Aufgrund dessen können wir durchaus davon ausgehen, dass Kästner zumindest für die in den Quartetten geschilderte Handlung keinen Realitätsanspruch einfordert und sich der illusionären Elemente bewusst zu sein scheint. Die Handlung fungiert in diesem Gedicht als Gerüst für eine erfolgreiche Entfaltung der Pointe: Die Absurdität der geschilderten Ereignisse zeigt, dass die Handlung des Gedichts nicht zwangsläufig an unser Realitätsverständnis gekoppelt sein muss, um dennoch eine realistische Pointe zu erzeugen. Nach unserem Empfinden ist es unwahrscheinlich, dass die Frauen aufbrechen, um unter Zuhilfenahme von Stöcken die vermeintlichen Kriegsverursacher übers Knie zu legen. Nichtsdestotrotz garantiert diese Fantasie eine erfolgreiche Entfaltung der Pointe: Auch wenn es den Frauen gelingen würde, den Krieg zu verhindern, so wären die Männer dennoch nicht zufrieden. Die Handlungsstruktur des Gedichts unterstreicht damit die Wirkung der zuvor analysierten formalen Struktur, indem sie ein Gerüst hervorbringt, das den Effekt der Pointe nachdrücklich hervorhebt.
Das vorliegende Gedicht weist außerdem drei, bzw. vier Isotopien auf, die im Hinblick auf den weiteren Verlauf dieser Arbeit für uns von Bedeutung sein werden.
In der ersten, sowie in der letzten Strophe können wir eine Isotopie der Familie erkennen: Aufseiten der Männer nimmt Kästner eine Unterteilung in „ Bruder, Sohn und Mann “ (V. 3, 18) vor, um zu verdeutlichen, dass alle männlichen Familienmitglieder ab einem gewissen Alter zum Kriegsdienst verpflichtet sind, wohingegen das weibliche Geschlecht keine Unterteilung erfährt. Dieser Verzicht auf eine Unterteilung erzeugt jedoch die Vorstellung eines starken Kollektivs von Frauen und erweckt den Eindruck, dass es sich um die Frauen (der Welt) handelt. Insgesamt zeigt diese Isotopie der Familie auf, inwiefern alle Familienmitglieder aktiv oder passiv vom Eintritt des Krieges betroffen sind.
Die zweite interessante Isotopie in diesem Gedicht könnten wir als Isotopie des Führungspersonals oder der Kriegsverursacher bezeichnen: In der dritten Strophe werden Führungspersonen aus diversen Branchen erwähnt, die Kästner als Kriegsverursacher entlarvt und die letztendlich von den Frauen übers Knie gelegt werden. Die Rede ist hierbei von den „ Herren der Bank und Industrie “ (V. 11) und dem „ Minister und General “ (V. 12). Diese Isotopie macht zum einen deutlich, inwiefern Kästner einen Zusammenhang zwischen dem Ausbruch von Kriegen und politischen, bzw. wirtschaftlichen Interessen sieht und zum anderen, warum die Frauen den antimilitaristischen Geist verkörpern müssen: Da dieses Gedicht 1929 veröffentlicht wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die konservativen Geschlechterrollen der damaligen Zeit sich auch dort wiederfinden lassen. Demnach wären die Führungspositionen in den zuvor genannten Branchen ausschließlich von Männern besetzt, sodass die antimilitaristische Intervention nur von den Frauen ausgehen kann.
[...]