Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einführung in die strukturalistische Erzähltheorie
3. Theoretische Reflexion zur Analysekategorie Modus
3.1 Fokalisierung
3.2 Distanz
4. Zur Darstellung des Wahnsinns durch die narrativen Mittel der Kategorie Modus in Georg Heyms Erzählung Der Irre
4.1 Gegenüber von Realität und Wahn durch dynamische Fokalisierungswechsel
4.2 Nutzung des dramatischen Modus zur Vergegenwärtigung der wahnsinnigen Psyche des Protagonisten
5. Schlussbemerkung
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Ein irrtümlich als geheilt entlassener Irrer, der sich an seiner Frau, die er für die Ursache und also für schuldig hält an seinem Aufenthalt im Irrenhaus, rächen will und auf dem Nachhauseweg und dem vergeblichen Suchen nach seiner Frau zum mehrfachen, bestialischen Mörder völlig unbeteiligter, zufälliger Opfer wird, bis der tödliche Schuß [sic]1 eines Polizisten seinem Mord- und Zerstörungsrausch ein Ende macht, ist das Thema der Erzählung Heyms.2
Diese kurze Beschreibung stellt Waltraut Schwarz‘ Versuch einer Inhaltsanalyse der oft als Novelle bezeichneten Erzählung Der Irre des expressionistischen Autors Georg Heym dar. Dass dabei gänzlich darauf verzichtet wird, die Eigenheiten der Präsentation des narrativen Inhalts zu beschreiben, könnte darauf zurückzuführen sein, dass dies ein wesentlich komplexeres Vorhaben wäre, als es eine reine Nacherzählung der Ereignisse in ihrer chronologischen Reihenfolge bedeutet. Wie wichtig aber eben die Beschreibung und Analyse der narrativen Gestaltung einer Erzählung sein kann, soll im Rahmen die- ser Arbeit durch die Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Erzähltheorie so- wohl im theoretischen als auch im angewandten Sinn gezeigt werden.
Hierzu wird nach einer Abhandlung zur Entstehung der strukturalistischen Herange- hensweise an literarische Texte detailliert auf die Analysekategorie Modus eingegangen, welche wiederum durch die Parameter Distanz und Fokalisierung charakterisiert ist. Um Heyms Erzählung im zweiten Teil der Arbeit in Hinblick auf die strukturalistische Er- zähltheorie fundiert beschreiben und analysieren zu können, wird in den theoretischen Abhandlungen versucht, verstärkt einen Schwerpunkt auf diejenigen Aspekte zu legen, welche auf der narrativen Ebene zur Konstitution des Bildes des Wahnsinns des Prota- gonisten beitragen.
2. Einführung in die strukturalistische Erzähltheorie
Im 20. Jahrhundert entwickelten sich zwei Schulen der Erzähltheorie, welche sich auf recht unterschiedliche Weise mit den Eigenheiten des fiktionalen Erzählens beschäftig- ten. Zum einen entstand im deutschsprachigen Raum unter den Vertretern Käte Ham- burger, Eberhart Lämmert und Franz K. Stanzel eine Theorie, die auf der Basis kanoni- scher Werke der Literatur typische Erzählmuster herausarbeitete. Stanzels Ergebnis stellte dabei der sogenannte Typenkreis dar, welcher die drei Idealtypen einer Erzählsi- tuation, nämlich die auktoriale, die personale und die Ich-Erzählsituation, veranschau- licht3.
Angeregt von der unmittelbar nach der Erstveröffentlichung von Stanzels Standardwerk einsetzenden Diskussion über die Angemessenheit seiner Kategorisierung4, unterneh- men im überwiegend frankophonen Bereich unter anderem Roland Barthes, Tzvetan Todorov und Gérad Genette einen ebenfalls systematischen Versuch zur Beschreibung unterschiedlicher Erzählweisen und begründen damit den strukturalistischen Ansatz in der Erzähltheorie.
Die Strukturalisten fassen Literatur als spezifische Art von Kommunikation auf und beschreiben beziehungsweise analysieren diese, orientiert an dem Sprachmodell von Ferdinand de Saussure (Cours de linguistique générale, 1916), folglich auf zwei Ebe- nen, welche Tzvetan Todorov 1966 mit den Begriffen histoire und discours bezeichne- te.5 In Analogie zu Saussures Begriffen Signifikat und Signifikant, welche zum einen für die Vorstellung und zum anderen für das Lautbild eines sprachlichen Zeichens stehen, verweisen Todorovs Termini auf die zwei Seiten eines literarischen Werkes, nämlich der des Inhalts und der des Ausdrucks.
In ihrer Einführung in die Erzähltheorie, an welcher sich die erzähltheoretische Bearbei- tung der Erzählung Der Irre in der vorliegenden Arbeit orientieren soll, übernehmen Matias Martinez und Michael Scheffel Todorovs Zweiteilung in histoire und discours und legen ihren Schwerpunkt dabei auf den discours. Wie bedeutend der Einfluss ist, welchen unterschiedlichste Präsentationen auf die Wirkung ein und derselben histoire haben, zeigen sie am Beispiel eines Auszugs aus den Stilübungen (Exercises de styles, 1947) des Franzosen Raymond Queneau6, in welchem das gleiche alltägliche Gesche- hen fünf Mal erzählt wird, wobei sowohl Umfang, Tempus und Chronologie als auch die Perspektivierung, die Wiedergabe der Figurenrede oder auch der Sprachstil variie- ren.7
Um einen literarischen Text auf der Ebene des discours noch exakter beschreiben und analysieren zu können, differenzieren Martinez und Scheffel in ihrer Einführung in dieErzähltheorie drei Kategorien, nämlich Zeit, Stimme und Modus.
Die erstgenannte Kategorie betrifft das Verhältnis zwischen der Zeit der Erzählung und der Zeit des Geschehens8, während unter dem Terminus Stimme der „Akt des Erzählens, der das Verhältnis von erzählendem Subjekt und dem Erzählten sowie das Verhältnis von erzählendem Subjekt und Leser umfasst“9, genauer beleuchtet wird. In Hinblick auf die noch folgende erzähltheoretische Analyse von Georg Heyms Novelle Der Irre fol- gen im nächsten Abschnitt ausführlichere Ausführungen zur Kategorie Modus, da diese für eine erzähltheoretische Bearbeitung des ausgewählten Textes besonders relevant scheint.
3. Theoretische Reflexion zur Analysekategorie Modus
In Bezug auf die Beschreibung und Analyse einer Erzählung im Rahmen der Kategorie Modus setzen sich Martinez und Scheffel mit zwei Aspekten auseinander: zum einen der Perspektivierung des Erzählten (Fokalisierung) und zum anderen dem Grad an Mit- telbarkeit (Distanz).
3.1 Fokalisierung
In Hinblick auf den Parameter Fokalisierung beschäftigt sich die Erzähltheorie mit der Informationsregulierung in einem literarischen Text, insbesondere mit dem Verhältnis zwischen Figurenwissen und Erzählerrede. Konkret versteht man unter diesem Begriff den Versuch, zu beschreiben, wer die Instanz ist, die das Erzählte sieht (genauer ist die Frage: Wer nimmt wahr?) und grenzt sich dabei, nach Genette notwendigerweise, von der Frage ab, welche mithilfe der Kategorie Stimme beantwortet werden soll (Wer spricht?)10.
Die Darstellung eines Geschehens kann aus verschiedenen Blickwinkeln erfolgen und „mehr oder weniger eng an die mehr oder weniger eingeschränkte Wahrnehmung einer erlebenden Figur oder Figurengruppe gekoppelt sein“.11 An dieser Stelle betonen Martinez und Scheffel den besonderen Status fiktionaler Texte, denn nur hier kann sich die Wahrnehmungsperspektive von der Sprecherperspektive unterscheiden. Aus dieser Er- kenntnis lässt sich schlussfolgern, dass die Frage nach dem Standpunkt der Wahrneh- mungsinstanz für die Bearbeitung literarischer Texte von besonderer Bedeutung ist. In Anlehnung an Genette lassen sich drei verschiedene Fokalisierungstypen unterscheiden:
Bei der sogenannten Nullfokalisierung ist die Wahrnehmung an keine der Figuren aus dem Text gebunden und der Erzähler weiß beziehungsweise sagt mehr als irgendeine der anderen wissen oder wahrnehmen kann (Übersicht)12 . Häufig werden unter Ausnut- zung dieser Wahrnehmungsperspektive Ereignisse erzählt, die gleichzeitig an verschie- denen Orten stattfinden13. Im Gegensatz zum zweiten Fokalisierungstyp, der Mitsicht, gibt es für die Nullfokalisierung nicht immer eindeutige Signale. Sie kann auch dann vorliegen, wenn die anderen Fokalisierungstypen ausgeschlossen sind14. Wird dahinge- gen intern auf eine Person fokalisiert, ist der Erzähler also an eine bestimmte Figur ge- bunden, dominieren häufig Verben der Wahrnehmung das Erzählte und Zeit- und Raumadverbien beziehen sich auf den Horizont der fokalen Figur15. Ein weiteres Indiz einer internen Fokalisierung ist nach Genette die Möglichkeit, eine Erzählung in der dritten Person ohne weiteres in eine Erzählung in der ersten Person umzuwandeln16.
Während die Fokalisierung bei der fixierten internen Fokalisierung im Verlauf des gesamten Textes auf die Wahrnehmung einer Figur beschränkt ist, wechselt sie bei der variablen internen Fokalisierung chronologisch fortschreitend zwischen verschiedenen Figuren. Einen Sonderfall der variablen internen Fokalisierung bildet die multiple interne Fokalisierung, bei der im Wesentlichen dasselbe Geschehen aus der Perspektive verschiedener Figuren vermittelt wird17.
Als letzten der drei Fokalisierungstypen lässt sich die externe Fokalisierung (Außen-sicht) nennen.
[...]
1 Hiermit wird einmalig darauf hingewiesen, dass in der vorliegenden Arbeit sämtliche Zitate in ihrer Originalfassung übernommen wurden.
2 Waltraut Schwarz 1979, zitiert in: Werner Sulzgruber 1997, S. 17
3 Vgl. Stanzel 1993, zitiert in Benedikt Jeßing; Ralph Köhnen 2007, S. 186
4 Vgl. ebd., S. 188
5 Vgl. Tzvetan Todorov 1972
6 Vgl. Martinez; Scheffel 2009, S. 29 ff.
7 Vgl. ebd., S. 31
8 Ebd., S. 32
9 Ebd.
10 Vgl. Martinez; Scheffel 2009, S. 64
11 Ebd., S. 63
12 Vgl. Martinez; Scheffel 2009, S. 64
13 Vgl. Bernadette Grubner, Folie 11
14 Vgl. ebd.
15 Vgl. ebd., Folie 17
16 Vgl. ebd., Folie 14
17 Vgl. Martinez; Scheffel 2009, S. 66