Schreiben lernen. Methoden des Schriftspracherwerbs im Vergleich


Fachbuch, 2013

246 Seiten


Leseprobe


Der Einsatz des Computers beim Schriftspracherwerb - Eine fachdidaktische Bestandsaufnahme von Beate Womelsdorf EÜÜ3
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
Schriftspracherwerb
Computer und Schriftspracherwerb
Lernsoftware
Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang

Schreiben lernen, aber wie? Vergleichende Analyse des traditionellen Schreibenlernens und der Methode des „Lesen durch Schreiben“ von Julia Becker 2003
Der Autor
Inhalt
Kapitel 1: Freude
Kapitel 2: Erlebnis
Kapitel 3: Theoretiker
Kapitel 4: Erstes Schreiben
Literaturverzeichnis

Frühe Bewegungserziehung zur Vorbereitung auf erfolgreichen Schriftspracherwerb von Ariane Wolfram 2009
Einleitung und Aufbau der Arbeit
Deduktive Argumentation bezüglich der Themenwahl
Bewegungserziehung in der elementaren Bildungsphase
Sensomotorische Integration und der Aufbau spezifischer Leistungen
Definition und Funktion des frühkindlichen Schriftspracherwerbs
Kausale Beziehungen zwischen Bewegung, Sprache und Schrift
Spezielle Bewegungserziehung auf dem Weg zur Schriftsprache
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Literatur
Anhang

Der Einsatz des Computers beim Schriftspracherwerb - Eine fachdidaktische Bestandsaufnahme von Beate Womelsdorf 2003

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Screenshot vom Dorf

Abb. 2: Screenshot vom Marktplatz

Abb. 3: Screenshot vom Schreibtool

Abb. 4: Screenshot von der Schreiblerntabelle

Abb. 5: Screenshot vom Lernzettel „Sieben gewinnt“, Level 1

Abb. 6: Screenshot vom Lernzettel „Sprachforscher“, Level 1

Abb. 7: Screenshot vom Lernzettel „Sprachforscher“, Level 5

Abb. 8: Screenshot vom Lernzettel „Sprachforscher“, Level 8

Abb. 9: Screenshot vom Lernzettel „Buchstabendetektiv“, Level 4

Abb. 10: Screenshot vom Lernzettel „Buchstabendetektiv“, Level 8

Abb. 11: Screenshot vom Lernzettel „Marsmännchen“, Level 3

Abb. 12: Screenshot vom Lernzettel „Wörterrätsel“, Level 4

Abb. 13: Screenshot vom Lernzettel „Schreibbüro I“, Level 7

Abb. 14: Screenshot vom Lernzettel „Tresorknacker“, Level 1

Abb. 15: Screenshot vom Lernzettel „Schreibbüro II“, Level 8

Abb. 16: Screenshot vom Lernzettel „Wortfresser“, Level 1

Einleitung

Mit der Verbreitung des Computers zu Beginn der 80er Jahre begann weltweit eine z. T. heftig geführte Diskussion zwischen Befürwortern und Gegnern der neuen Technik. Schnell griff diese auch auf den Bildungsbereich über. In Deutschland wird das Thema „Computer und Grundschule“ in der breiten Öf­fentlichkeit erst seit einiger Zeit diskutiert. Davor galt der Computer für den Grundschulbereich faktisch als verboten. Mitte der 80er Jahre hatten deutsche Politiker die Entscheidung getroffen, wonach der informationstechnische Unter­richt vorerst nicht in der Grundschule Einzug halten sollte.1 In dem „Gesamt­konzept für die informationstechnische Bildung“ der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (künftig: BLK) aus dem Jahre 1985 bzw. 1987 heißt es:

„In den meisten Ländern der Bundesrepublik Deutschland ist bisher [Text 1985: „ist bereits“] eine Festlegung dahingehend getroffen, daß die Grundschule zu­mindest vorerst von einer systematischen Einführung in die informationstechni­sche Bildung ausgenommen werden soll. Dafür spricht, daß Schülern der Grundschule in erster Linie die traditionellen Kulturtechniken vermittelt werden müssen, deren Beherrschung für das tägliche Leben weiterhin erforderlich bleibt; auch für den Umgang mit dem Computer sind diese Kulturtechniken eine grundlegende Voraussetzung.“2

Neu gegenüber der zwei Jahre früheren Fassung ist jedoch der Zusatz:

„Inwieweit Computer diese Lernprozesse unterstützen können, wird derzeit in einigen Ansätzen erprobt.“3

Durch die überarbeitete Version hat die BLK ihre ursprüngliche Aussage, dass Lesen und Schreiben „eine grundlegende Voraussetzung“ für den Umgang mit dem Computer sind, als falsch deklariert. Die Neufassung zeigt die Einsichtig- keit der BLK, wodurch didaktische Computernutzung zur Förderung des Schrei­ben- und Lesenlernens positiv in Betracht gezogen wurde, wenn auch noch unter dem Vorbehalt von Erprobungs- bzw. Forschungsbedarf.4

Trotz dieses Wandels sind Forschungsprojekte, die unter Bezugnahme auf Pra­xiserfahrungen beantragt wurden, von Seiten der Schulbehörden seither über­wiegend abgelehnt worden.5 Denn auch so war der Computer für die Hand des Kindes in vielen Kreisen umstritten. Die Diskussion war (und ist teilweise auch heute noch) vielfach emotionsbeladen. Sie reicht von unkritischer Euphorie bis hin zur vehementen Ablehnung. Letztere beruht zumeist auf Ängsten.

„So wird u. a. befürchtet, daß der Computer:

- die Kinder sozial isoliert und die Entwicklung ihrer kommunikativen Fähigkei­ten behindert;
- die ,Welt des Kindes’ vertechnisiert;
- Realitätsverlust mit sich bringt;
- gesundheitliche Probleme, wie Haltungs- und Augenschäden provoziert bzw. verstärkt;
- der Spielsucht bei Kindern Vorschub leistet;
- den Beruf des Lehrers überflüssig macht und
- die Ausprägung der Handschrift verhindere.“6

Diese Situation hat sich inzwischen geändert.7 Durch einige empirische Studien, die anlässlich der zumeist abgewiesenen Unterrichtsforschung unter anderen Bedingungen durchgeführt werden mussten, neigte sich bereits 1997 die Waage in der Diskussion zur Seite der Computerbefürworter. Viele der anfänglichen Ängste haben sich als reine Spekulation erwiesen. Dies gilt in besonderem Maße für das fiktive Bild übernächtigter „Computer-Kids“, die nach stundelanger, na­hezu süchtiger Computernutzung in die Schule kommen und deren Denken nur noch auf den Computer ausgerichtet ist. Die Studien, die solchen Computer­Kids - von denen die hypothetischen Debatten der 80er Jahre erfüllt waren - nachspürten, suchten erfolglos.8

Inzwischen hat der Computer in vielen deutschen Grundschulen Einzug gehalten und die Anzahl der nunmehr auch auf Praxisebene erfolgenden Forschungspro­jekte zum Thema „Grundschule und Computer“, sowie immer komplexer wer­dender Lernsoftware steigt stetig.

Im Rahmen dieser Arbeit werde ich mich insbesondere einem dieser Projekte widmen, die solch einen Wandel überhaupt erst möglich gemacht haben, indem sie Unterrichtsforschung u. a. vorbereiteten. Dadurch soll geklärt werden, ob bzw. inwiefern der Computer und eine speziell für die Phase des Schriftsprach- erwerbs konzipierte Lernsoftware zum besseren Erlernen des Lesens und Schreibens führen können. Aus diesem Grund wird der Computer nicht als Ge­genstand, sondern als Mittel bzw. Werkzeug des Unterrichts in Betracht gezo­gen.

Da sich eine empirische Untersuchung thematisch auf den kompletten Prozess des Schriftspracherwerbs beziehen müsste, um annähernd etwas über diesbezüg­liche Vor- oder Nachteile des Computers und der Lernsoftware aussagen zukönnen, basieren meine Ausführungen nicht auf einer Erhebung, sondern auf fachwissenschaftlicher Literatur.

Aufgrund des Themas, wird der Schwerpunkt dieser Arbeit auf dem Anfangsun­terricht liegen.

Zugunsten einer besseren Lesbarkeit verzichte ich an einigen Stellen auf eine umständliche maskuline und feminine Personenbeschreibung. Im Hinblick auf das Mehrheitsverhältnis in der Primarstufe wird nur von Lehrerinnen die Rede sein. Ähnliches gilt für die Schüler und Schülerinnen, allerdings wird hier - zu­gunsten eines Ausgleichs - die männliche Form vorgezogen.

Schriftspracherwerb

Theoretische Grundlagen zum Schriftspracherwerb

Bevor gezeigt werden kann, inwiefern der Computer als Werkzeug beim Lesen- und Schreibenlernen sinnvoll einzusetzen ist, muss zunächst der Lerngegenstand als solcher ins Zentrum der Betrachtung gerückt werden.

„Schriftspracherwerb, [...] umfasst im engeren Sinne den Erwerb eines bewuss­ten und sprachliche Äußerungen intendierenden Schriftgebrauches (Schreiben­lernen) sowie eines auf Sinnentnahme gerichteten Umganges mit Geschriebe­nem (Lesenlernen).“9

Das Lesen- und Schreibenlernen ist also mehr als nur der Erwerb einer bloßen Technik. Das Ziel ist im Prinzip, Gedanken schriftlich festhalten und aus Ge­schriebenem entnehmen, also schreibend und lesend mit Schrift umgehen zu können.10 Was Kinder auf dem Weg dorthin alles lernen müssen, ist äußerst kompliziert. Zunächst müssen sie gewisse Grundeinsichten in unser Zeichensys­tem gewinnen, denn die Schrift ist das zentrale „Operationsobjekt“ des Lesens und Schreibens.11 Unsere Schrift ist keine Bilderschrift, sondern eine Laut­Buchstaben-Schrift mit geregelten Beziehungen zwischen den Lauten und Laut­klassen der gesprochenen Sprache (Phoneme) auf der einen und den bedeu­tungsunterscheidenden Buchstaben und Buchstabenverbindungen der geschrie­benen Sprache (Grapheme) auf der anderen Seite. 12 Die Schrift als Zeichensystem versucht also die Sprache wiederzugeben. Folglich stellen die regelhaften Beziehungen zwischen Sprache und Schrift einen besonderen Teil des Lerninhaltes dar. 13 Dies bedeutet im Einzelnen, dass das Kind im Laufe des Schriftspracherwerbsprozesses eine Reihe von Einsichten bezüglich unseres Schriftsystems gewinnen muss. Welche Einsichten14 das u. a. sind und wie diese gewonnen werden, wird in den Kapiteln 2.2 und 2.5 vorgestellt.

Dass Kinder in unserer Gesellschaft lesen und schreiben lernen müssen, ist un­umstritten. In der Frage nach dem „Wie“ hat sich in der Schriftspracherwerbs- Forschung in den letzten drei Jahrzehnten ein tiefgreifender Wandel vollzogen. Bis in die 80er Jahre hinein gab es beispielsweise tiefgreifende Diskussionen im Streit (Synthetiker vs Analytiker)15 um die beste Methode den Kindern das Le­sen und Schreiben beizubringen. Damals wurde - im Gegensatz zur heutigen Situation, in der viele Pädagogen das Schreiben dem Lesen voranstellen - der Anfangsunterricht grundsätzlich mit einem Leselehrgang begonnen. Ein Leseun­terricht nach der Ganzheitsmethode, lässt die Kinder jedoch über einen längeren Zeitraum hinweg eine wachsende Zahl von Wörtern unanalysiert auffassen, was die Merk- und Unterscheidungsfähigkeit der Lernenden strapaziert, zum Raten verführt und Misserfolge herbeiführen kann. Daher erscheint eine solche Form des Unterrichts genauso fraglich, wie diejenige, die dem synthetischen Verfah­ren folgt. Dort stellen sich nämlich oft Schwierigkeiten bei der Lautverschmel­zung zum üblichen Klangbild eines Wortes ein, wodurch sich wiederum Prob­leme beim Wiedererkennen und Abrufen eines Wortes aus dem Gedächtnis und somit bei der Sinnfindung ergeben.16 Um die Nachteile beider Verfahren zu vermeiden, ist man später zur Methodenintegration, zum analytisch-synthetischen Verfahren übergangen. Aber auch die Bemühungen um methodische Perfektionierung haben wider Erwarten nicht verhindern können, dass viele Kinder beim Lesenlernen scheiterten.17

Inzwischen hat jedoch auch die Forschung einen Perspektivwechsel vollzogen, durch den die Fragen nach der Methode zugunsten einer stärkeren Grundla­genorientierung in den Hintergrund treten.18 Als Folge dieses Wandels vollzog sich auch in der Deutschdidaktik eine Wende, die nicht mehr länger das Lehren, sondern das Lernen der Kinder in den Mittelpunkt des Interesses rückt.19 Das Ergebnis vieler Studien und Untersuchungen, die diese Umorientierung zum An­lass nahmen, um zu erforschen wie Kinder lesen und schreiben lernen, sind zum einen eine Fülle von Stufenmodellen zur Schriftsprachentwicklung 20 (von denen drei im Kapitel 2.2 näher vorgestellt werden) und zum anderen die Erkenntnis, dass das Schreibenlernen - mit dem Ziel des Orthographieerwerbs - nicht mehr länger als quantitatives, von außen gelenktes Anhäufen korrekt geschriebener Wörter gesehen werden kann, sondern als selbstgesteuerter und aktiver Regel­bildungsprozess, der ständigen Strategieveränderungen unterliegt.21 Die Stufen­oder Entwicklungsmodelle des Rechtschreiblernens haben nicht nur den Wech­sel vom Gruppenblick zur Sicht auf das einzelne Kind durchgesetzt, sie eröffnen auch eine völlig neue Sichtweise im Hinblick auf Fehler, die Schulanfänger zwangsläufig im Lesen und Schreiben machen. Sie veranschaulichen, dass aus­nahmslos alle Kinder Probleme beim Schriftspracherwerb haben und dass Fehler völlig normal sind. Dieser Einsicht folgend, werden Fehler nicht mehr länger als Defizite des Kindes angesehen, sondern als konstruktive Versuche seine Schrif- terfahrungen zu ordnen.22 Kinder machen Fehler überwiegend nämlich nicht deswegen, weil ihr Gedächtnis sie im Stich lässt, sondern zuallererst deshalb, weil sie sich etwas dabei denken. Rechtschreiblernen ist demzufolge ein Prob­lemlösungsprozess, bei dem die Kinder versuchen, logisch und regelgeleitet zu verfahren, genauer gesagt: „Auch in falsch geschriebenen Wörtern steckt wert­volle Denkleistung!“23 Der Lernende stellt während dieses Prozesses immer wieder neue Theorien zu Problemen auf, die er anwendet, überprüft und ggf. neu formuliert. Dabei kommt es häufig zu sogenannten „Übergeneralisierungen“, wodurch aus Beispielen übergreifende Muster verallgemeinert werden, d. h. or­thographische Regeln dort angewendet werden, wo sie nicht erforderlich sind; z. B.: Ein Kind hat gelernt, dass das Wort „Finger“ nicht „Finga“ geschrieben wird, sondern dass das auslautende „a“ in diesem Wort für die Endung ,er’ steht. Diese Regel auf das Wort „Oma“ übertragend, schreibt es nunmehr „Omer“. Die von der Orthographie nun abweichende Schreibung „Omer“ ist in Bezug auf die erbrachte Rechtschreibleistung von höherer Qualität, als die frühere richtige Schreibung „Oma“, die das Ergebnis einer noch unzulänglicheren Theorie (nach dem Lautprinzip) war. Dies verdeutlicht, dass Rechtschreibleistung nicht einfach durch das Zählen von Fehlern beurteilt werden kann.24

Die Fehler der Schreibanfänger sind also nicht willkürlich, sondern sie weisen darauf hin, dass die Kinder versuchen, unsere komplexe Orthographie logisch zu durchdringen.25 Die Kinder werden also nicht in die Rechtschreibung „einge­führt“, sondern „entdecken“ sie selbst.26 Demzufolge sind die meisten Fälle von Falschschreibungen kein Grund zur Besorgnis, denn sie zeigen, dass die intel­lektuelle Entwicklung des Kindes gut voranschreitet.

Wie es nun aber überhaupt erst einmal zum lautorientierten Verschriften der Kinder kommt und wie sie ihre Schreibungen schließlich nach und nach unserer Normschrift anpassen, sollen die folgenden Modelle von VALTIN, BRÜGEL- MANN und REICHEN zeigen.

Drei Stufenmodelle zum Schriftspracherwerb VALTINS Entwicklungsmodell der Rechtschreibung Der folgende Abschnitt lehnt sich an VALTINS Stufenmodell an, das sie bereits 1986 in dem Buch „Schreiben ist wichtig!“27 veröffentlichte und im Buch „Rechtschreiben lernen in den Klassen 1 - 6“28 (aus dem Jahre 2000) nach wei­teren Untersuchungen noch präzisiert hat.

Im Vergleich zu den meisten anderen Stufenmodellen zur Schriftsprachentwick­lung, die sich nur auf einzelne Wörter konzentrieren, berücksichtigt VALTIN mit ihrem Modell auch die Verschriftung von Sätzen. Um konkrete Vergleiche zwischen den Schreibweisen ziehen zu können, wurden in eigenen Längsschnit­tuntersuchungen den Kindern aus zwei ersten Schuljahren nach jeweils zwei bzw. neun Monaten Schulunterricht dieselben drei Sätze diktiert. Das Modell umfasst sieben Stufen der Schreibentwicklung:

Stufe 0 = Kritzelstufe

Bereits dreijährige Kinder beginnen das Schreiben von Erwachsenen nachzuah­men. Schreiben ist für sie Nachvollziehen der Schreibbewegungen und Hinter­lassen von Spuren auf Papier, vorwiegend ohne Einsicht, dass diese Spuren eine kommunikative Bedeutung haben. Sowohl auf dieser, als auch auf den nächsten beiden Stufen fehlen das Wortkonzept und das Phonembewusstsein.

Stufe 1 = Phase des Malens willkürlicher Buchstabenfolgen (willkürliche Schreibungen, Pseudo-Wörter)

Die Kinder schreiben einzelne Buchstaben oder malen buchstaben-ähnliche Zei­chen ohne jeglichen Bezug zur Lautung der Wörter. Dabei verwenden die meis­ten Kinder bei ihren Schreibversuchen Großbuchstaben in Druckschrift.

Stufe 2 = Vorphonetisches Niveau

Die ersten Ansätze einer lautorientierten Schrift werden erkennbar. Die Abbil­dung der Sprache in Schrift bleibt allerdings rudimentär, die Kinder geben nur einzelne Lautwerte wieder und lassen auch noch komplette Wörter aus. Es wird nicht in Wörter unterteilt, bzw. die Lücken zwischen den einzelnen Buchstaben haben keine Funktion.

Häufig wird nur der Anlaut oder ein besonders deutlich zu hörender Laut des Wortes verschriftet.

Beispiel: „MOMARAL“ („Mo und Mara lesen“)

- Mo und Mara sind Fibelwörter, die zu den Lernwörtern der Kinder gehören und die sie somit aus dem Gedächtnis schreiben.

- Viele Kinder lassen das „und“ weg, weil sie es nicht als Wort erkennen.

Stufe 3 = Halbphonetisches Niveau („skelettartige Schreibungen“)

Die wichtigsten Laute werden nun wiedergegeben, oft wird auch zumindest jede Silbe durch minimal einen Buchstaben gekennzeichnet.

Es werden in der Regel auch fast alle Wörter wiedergegeben, nur dass immer noch sehr wenige Kinder Lücken zwischen ihnen lassen.

Beispiel: „EHSTHERESA“ („Ich heiße Theresa“)

Weitere Beispiele für Skelettschreibungen:

„PP“ („Puppe“), „FST“ („Faust“), „MS“ („Maus“), „RTA“ („Ritter“).

Kinder, die Übergangskonsonanten auslassen, sind auf dem Weg zur phoneti­schen Strategie („GAS“ für „Gans“, „keis“ für „Kreis“, „CERA“ für „Zebra“).

Nach VALTIN galten in der älteren Legasthenieforschung die Fehler auf dieser Entwicklungsstufe als „Wahrnehmungsfehler“ und als Zeichen dafür, dass die Kinder Schwierigkeiten in der auditiven Wahrnehmung hätten. Heute weiß man, dass es sich nicht um ein Problem des genauen Hinhörens handelt, sondern um Probleme in der Lautanalyse, die bei allen Kindern im Anfangsstadium des Schriftspracherwerbs zu beobachten sind.

Stufe 4 = Phonetische bzw. alphabetische Strategie

Auf diesem Niveau findet sich eine vollständige phonetische Darstellung aller zu hörenden Laute. Dabei orientieren sich die Kinder vorwiegend an ihrer Um­gangssprache. Sie sprechen die Wörter langsam vor sich her und notieren dabei die bei der Artikulation vorkommenden Laute, z. B. „aien“ oder „aein“ für „ein“, „ont“ für „und“.

Beispiel: „Esch Ben Aien MeTschTn“ („Ich bin ein Mädchen“)

Durch das gedehnte Artikulieren entstehen auch künstlich andersartige Laute: „esch“ statt „ich“, „ben“ statt „bin“, „leshn“ statt „lesen“. Mehrfach werden noch Übergangskonsonanten ausgelassen: „ot“ oder „ut“ statt „und“.

Verhältnismäßig oft finden sich auf dieser Stufe auch Kinder, die Sätze nach Betonungsmustern unterteilen („WI GTSDIA. GEZGUT.“ - „Wie geht es dir? Geht es gut?“).

Gerade rechtschreibschwache Kinder halten - laut VALTIN - sehr lange an der phonetischen Verschriftungsstrategie fest. Dies zeigt sich nicht nur an ihrem Fehlerprofil, sondern auch an ihren eigenen Aussagen. In einem Interview mit guten und schwachen Rechtschreibern der 3., 4. und 6. Klasse wurden die Schü­ler um eine Begründung für die Schreibweise der Wörter „ängstlich“ und „Gliedmaßen“ gebeten. Schwache Rechtschreiber antworteten öfter, dass sie nach Gehör schreiben würden bzw. so, wie sie das Wort sprächen (also „ängst­lich“ mit ,e’ und „Glied“ mit ,t’), während gute Rechtschreiber von Strategien, wie Wortableitungen bzw. -verlängerungen Gebrauch machten.

Stufe 5 = Phonetische Umschrift und erste Verwendung orthographischer Mus­ter Auf dieser Stufe werden zwar immer mehr Wörter korrekt verschrieet, jedoch erfolgen hier - durch das eigenaktive bilden von Orthographie-Regeln - auch viele Übergeneralisierungen; z.B.: „lehsen“ (falsches Dehnungs-h), „binn“ (fal­sche Dopplung), „er vragt“ (analog zu „Vogel“ oder „Vater“), etc. Dementspre­chend kommt es vor, dass vorher richtig geschriebene Wörter plötzlich falsch geschrieben werden. Diese Fehler signalisieren, VALTIN zufolge, durchaus ei­nen Entwicklungsschritt: Die Kinder verlassen sich nicht mehr nur auf die als unmaßgeblich erkannte phonetische Strategie und haben gewisse orthographi­sche Muster entdeckt.

Stufe 6 = Orthographische Verschriftungen

Die Schüler können die Wörter vollständig und orthographisch korrekt ver­schrieen bzw. sind in der Lage, mit Hilfe eines Wörterbuchs fehlerfrei zu schreiben.

Zum Schluss weist VALTIN darauf hin, dass eine Entwicklungsstufe nicht iso­liert betrachtet werden darf, sondern dass die einzelnen Stufen fließend ineinan­der übergehen. Bei den Entwicklungsschritten handelt es sich nämlich um Stra­tegien, die Kinder anwenden, wenn sie ihnen unbekannte Wörter schreiben sollen. Daneben verfügen die Kinder über einen allmählich wachsenden Bestand an gelernten Wörtern, wenn die Buchstabenfunktion erst einmal erkannt und Phonem-Graphem-Beziehungen gelernt worden sind. Dabei ist die Zeit, die Kinder für das Verbleiben auf einer Niveaustufe benötigen höchst unterschied­lich. Nach VALTIN belegen Längsschnittuntersuchungen in mehreren ersten Klassen, dass Kinder im Durchschnitt in der zweiten Schuljahreshälhe zu phonetischen und einige Monate später zu orthografischen Verschriftungen übergehen.

Dabei macht VALTIN leider keine Angaben, welchem Lehrgang die einzelnen Klassen gefolgt sind.

BRÜGELMANN - Stufen des Schriftspracherwerbs und Ansätze zu seiner För­derung

In dem Buch „Wie wir recht schreiben lernen“29 stellt BRÜGEL-MANN zu­sammen mit BRINKMANN eine Version eines Stufenmodells zur Schriftspra­chentwicklung vor, das sich auf unterrichtspraktische Bedürfnisse bezieht. Das Modell konzentriert sich auf Einsichten, die Kinder im Bezug auf grundlegende Bauprinzipien unserer Schrift gewinnen müssen. Im Anschluss an jede Stufe werden sinnvolle Aufgaben bzw. Angebote vorgeschlagen, die dem Kind helfen können, diese Erkenntnisse zu gewinnen, falls sie ihm noch fehlen. Diese Auf­gaben sollen im Folgenden jedoch außen vor bleiben, da sie für das Thema die­ser Arbeit nicht von zentraler Bedeutung sind.

1. Bedeutungshaltigkeit der Schrift

Das Kind begreift:

1.1 Schrift ist ein Träger von Information, die SchreiberInnen hineinlegen und LeserInnen wieder herausholen können. „Schreiben“ ist mehr als beliebiges Spurenmachen.

Ein Kind kritzelt Wellenlinien auf ein Stück Papier und bittet einen Erwachse­nen, er solle einmal vorlesen, was es geschrieben hat.

1.2 Anders als beim Erzählen aus der Erinnerung hält Schrift Bedeutung wort­wörtlich fest. „Schreiben“ bedeutet: Festhalten von Sprache.

Das Kind „liest“ selbstgeschriebene Zeichenfolgen) mit derselben Bedeutung. Beim Vorlesen durch andere besteht es auf identischer Wiedergabe; beim eige­nen „Als-ob-Lesen“ gebraucht es formelhafte Wendungen (des konkreten Textes oder der betreffenden Gattung, wie Brief: „Liebe...“, Märchen: „Es war ein­mal...“, etc.).

2. Buchstabenbindung der Schrift

Das Kind begreift:

2.1 Schrift besteht nicht aus beliebigen Formen, sondern aus einer begrenzten Zahl konventioneller Zeichen, den Buchstaben. Als „Schreiben“ zählen Buch­stabenfolgen, aber nicht mehr Kritzelei (als Nachahmung der Schreibschrift).

Zum „Schreiben“ verwendet das Kind nur noch Buchstaben oder ggf. noch buchstabenähnliche Zeichen. Die Wahl der Zeichen kann allerdings noch einer systemfremden Logik folgen, z. B.: „fünf Autos“ = fünf Buchstaben oder: „gro­ßes Tier“ = viele Buchstaben, „kleines Tier“ = wenige Buchstaben.

2.2. Verschiedene Worte bestehen aus unterschiedlichen Buchstabenfolgen, die jeweils konstant abgebildet werden müssen, damit die Bedeutung bewerkstelligt wird. „Schreiben“ zeigt sich als Reproduktion einzelner - als Formkette oder Bewegungsfolge gespeicherter - Merkwörter (oder als Abmalen von vorge­schriebenen Wörtern).

Korrekte Verschriftung des eigenen Namens oder anderer Stichwörter; gelegent­lich Aufregung, wenn die „eigenen Buchstaben“ von anderen benutzt werden.

3. Lautbezug der Schrift

Das Kind begreift:

3.1 Die Wahl und Anordnung der Buchstaben haben mit dem Klangbild eines Wortes zu tun. „Schreiben“ äußert sich als Erzeugung von Ein-Laut- und Ske­lett-Schreibungen.

Anbindung der Schreibweise an die Lautform, aber gelegentliches ,Auffüllen“ mit anderen Buchstaben, um ein „richtiges Wort“ zu erzeugen.

3.2 Geschriebene Wörter bilden die Lautfolge im Wort komplett ab. „Schreiben“ wird verfeinert zur phonetisch genauen Umschrift der eigenen Artikulation.

Folge ist die Fehlschreibung selbst vertrauter Wörter, weil das Lautprinzip streng perfektioniert wird (z. B. „GRISDIJAN“ für den zuvor stets richtig ge­schriebenen Namen „Christian“).

4. Orthographische Eigenständigkeit der Schrift

Das Kind begreift:

4.1 In der Schrift gibt es Grapheme (ein- und mehrgliedrige), die sich aus einer Phonemanalyse allein nicht ableiten lassen. Durch Übergeneralisierung von or­thographischen Besonderheiten wird „Schreiben“ zum Experimentieren mit al­ternativen Rechtschreibmustern.

Entdeckung von Besonderheiten wie Verdopplung, Groß- und Kleinschreibung oder Satzzeichen und deren Erprobung auch unter Verletzung ihrer konventio­nellen Anwendungsbedingungen. (z. B. „Kohmen“ oder „Todd“).

4.2 Die Anwendung von Rechtschreibmustern ist an bestimmte Bedingungen gebunden. Richtig „Schreiben“ bedeutet kontextbezogene Anwendung und bloß noch „legale“ Übergeneralisierungen von Rechtschreibmustern.

Auch jetzt treten noch Fehler auf, aber in einer prinzipiell zulässigen Weise, z. B.: „imm“ (wegen Kurzvokal), dafür aber nicht mehr „rott“, sondern „rot“ (we­gen Langvokal).

Nach Gewinnung dieser vier Einsichten gibt es - nach BRÜGEL-MANN/ BRINKMANN - keinen qualitativen Schritt mehr, sondern nur noch einen all- mählichen Ausbau des Systems u.a. durch Zugriffe auf Schrift beim Lesen.30

BRÜGELMANN / BRINKMANN betonen, dass die Fortschritte der Kinder nicht als „Stufen“ im Sinne eines Nacheinander gesehen werden dürfen. Da die Schreibweisen eines Kindes nämlich oft unterschiedlichen Strategien folgen - beispielsweise in Abhängigkeit von der Schwierigkeit und der Vertrautheit der Wörter -, verweist BRÜGELMANN an einer anderen Stelle des Buches auf die Notwendigkeit einer flexibleren Vorstellung von „Zugriffen“ des Kindes auf Schrift, die auch nebeneinander wirksam sein können.31

Vom „Treppen-Modell“ zum „Stern-Modell“ hat er daher die „didaktische Landkarte zum Lesen und Schreibenlernen“ 32 entworfen, die zusammenfasst, auf welche Einsichten, Erfahrungen und Fertigkeiten es beim Schriftspracher­werb ankommt. Zugleich stellt sie ein Angebot an Aktivitäten dar, die im An­fangsunterricht zum Einsatz kommen sollten, wobei es nicht auf eine bestimmte Reihenfolge ankommt.33

REICHEN - Der Prozess des Schreibenlernens in Phasen

Die folgenden Ausführungen lehnen sich an das populäre Konzept „Lesen durch Schreiben“ von REICHEN an, durch das die Kinder über das Schreiben mit ei­ner Anlauttabelle34 selbstgesteuert lesen lernen sollen, noch bevor sie wissen, welcher Buchstabe zum jeweiligen Laut gehört. Wie die Benutzung einer sol­chen Tabelle funktioniert, wird an anderer Stelle dieser Arbeit noch erklärt wer­den. REICHENS Definitionen von Lesen und Schreiben verdeutlichen den Kernpunkt dieses Verfahrens. Dabei ist entscheidend, dass er die Beziehung zwischen Lesen und Schreiben nicht so sieht, wie es häufig der Fall ist, nämlich, dass das Eine jeweils das „Umgekehrte“ des anderen darstellt. Nach REICHEN ist dies lediglich in kommunikativer Hinsicht so, also im Verhältnis von Sender und Empfänger. Analysiert man aber das Lesen und Schreiben in psychologi­scher Hinsicht, so zeigen sich grundsätzliche Differenzen:

„Schreiben ist nichts, das mir ,von selbst’ geschieht. Es ist ein aktiver, bewuss­ter, willentlicher, mit Motorik verknüpfter Akt, bei dem Wörter nicht als Ganzes produziert werden können, sondern einzelne Buchstaben in zeitlichem Hinterei­nander gemalt, geschrieben, gesetzt oder getippt werden müssen. Schreiben hat äußere Anteile und daher ist es ,zu sehen’. Ich kann dem Kind zeigen und vor­machen, wie es geht. Didaktische Maßnahmen sind möglich und förderlich.“35

„Lesen hingegen ,geschieht mir’, wenn mich ,Wörter anspringen’. Es ist ein rezeptives, nicht willentliches, nicht bewusst gesteuertes, rein geistiges Gesche­hen, bei dem im Erkennenden Wahrnehmen gleichzeitig begriffliche Bedeutun­gen erfasst werden. Äußerlich ist hier nichts zu sehen. Lesen ist ein rein geisti­ger Vorgang, den ich nicht ,zeigen’ kann, den ich nicht erklären kann und den ich daher auch nicht ,lehren’ kann. Didaktische Maßnahmen verursachen ledig­lich Störeinflüsse.“36

Demnach ist ausschließlich Schreiben nötig, das die Grundlagen legt und schließlich Auslöser für das Lesenkönnen ist.37 Wie sich das Schreiben - nach Auffassung REICHENS - entwickelt, zeigt folgende Aufzählung aus dem ersten Heft seines Lehrgangs:

1. Das Kind lernt mit der Einführung der Anlauttabelle das Prinzip des Schrei­bens und Lesens kennen. Es lernt:

- dass gesprochene Wörter aus Lauten zusammengesetzt sind,
- dass geschriebene Wörter aus Buchstaben zusammengesetzt sind,
- dass prinzipiell jedem Laut ein Buchstabe zugeordnet ist und umgekehrt, und schließlich
- dass es auch Ausnahmen zu dieser Grundregel gibt:

Verschiedene Laute (z. B.: lange und kurze Vokale) werden mit dem gleichen Buchstaben geschrieben, andererseits wird ein Laut (z. B.: f-Laut in „Fisch“ und „Vogel“) von unterschiedlichen Buchstaben vertreten, bestimmte Laute werden auch durch zwei oder drei Buchstaben abgebildet (z. B.: ,ei’, ,ch’, ,sch’), für manche Lautkombinationen gibt es Sonderregelungen („Aquarium“ statt „Ak- warium“), etc. ...

1. Das Kind entwickelt grundlegende Lautkenntnisse, d.h. ihm sind die wichtigs­ten Laute bekannt und es kann sie voneinander unterscheiden; es kann Laute aus einem Wort heraushören oder Wörter nennen, die einen bestimmten Laut enthal­ten; und es kann (mit Hilfe der Anlauttabelle) zu jedem Laut den entsprechenden Buchstaben abbilden. Gleichzeitig erkennt das Kind die Bedeutung einer deutli­chen Artikulation beim Sprechen.

2. Das Kind kann mit Hilfe der Anlauttabelle ein beliebiges Wort phonetisch korrekt aufschreiben.

Diese ist die entscheidende Stufe der Methode. Sie zu erreichen setzt voraus, dass der Schüler in der Lage ist, ein Wort in seine Einzellaute zu zerlegen. Wie REICHENS Erfahrungen zeigen, ist dies eine Leistung, die vielen Schülern gro­ße Mühe macht. Entsprechend zeigen sich in der Lernentwicklung der Kinder an dieser Stelle die größten Unterschiede: Während einige Kinder bereits in der ers­ten Schulwoche das Auflautieren eines Wortes beherrschen, gibt es andere Kin­der, die das noch nicht einmal gegen Ende des ersten Schuljahres können.

3. Das Kind kann Sätze und ganze Texte phonetisch korrekt aufschreiben und lernt, beim Schreiben nach jedem Wort eine Lücke zu lassen.

4. Das Kind hat die gesamte Laut-Buchstaben-Zuordnung verinnerlicht und be- nötigt die Anlauttabelle nicht mehr.38

Vergleich der Modelle

Die Modelle sind sehr unterschiedlich aufgebaut. Während VALTIN und REI­CHEN z. B. auch Sätze berücksichtigen, beschränken BRÜGELMANN/ BRINKMANN ihre Ausführungen auf die Wortebene.

Da VATLIN einer Gruppe von Kindern jeweils die gleichen Sätze diktierte, führt sie ihre Stufen auf konkrete Schreibbeispiele zurück. BRÜGELMANN/ BRINKMANN benennen hingegen Einsichten, die ein Kind während der Schriftsprachentwicklung nach und nach gewinnt und beziehen ihre Erläuterun­gen u. a. auch auf das Lesen. REICHEN begrenzt seine Aussagen auf die Erfah­rungen, die er mit Kindern, die nach seinem Konzept zunächst schreiben und dann lesen gelernt haben, gesammelt hat. Auch die Anzahl der Stufen differiert jeweils (zwischen vier und sieben). Das liegt u. a. an dem Grad der Ausdifferen­zierung der einzelnen Teilleistungen der Kinder. Da sich REICHENS Aussagen beispielsweise auf das Lernen mit der Anlauttabelle beschränken, bezieht er we­der die Vorerfahrungen der Kinder mit Schrift („Kritzelstufe“), noch die Stufe der letztlich orthographisch korrekten Verschriftung mit ein. BRÜGELMANN/ BRINKMANN sowie VALTIN geben an, dass die einzelnen Schritte ihrer Mo­delle nicht als isoliert, also von den jeweils anderen abgegrenzt betrachtet wer­den dürfen. Sie gingen vielmehr fließend ineinander über. REICHEN macht diesbezüglich keine Angaben. Leider ist nur bei ihm eindeutig klar, welchem Lehrgang die Kinder folgten, die er für diese Erhebung beobachtet hat. Bei VA- LTIN wird durch das Beispiel in der dritten Stufe deutlich, dass die Schüler höchstwahrscheinlich mit einer Fibel unterrichtet wurden. An dieser Stelle ist nämlich von Lernwörtern die Rede, die aus einer Fibel stammen. Bei BRÜ- GELMANN/ BRINKMANN geht allein aus dem Modell nicht hervor, wie sie zu diesen Erkenntnissen gelangt sind. Da BRÜGELMANN ein erklärter Vertre­ter des „Spracherfahrungsansatzes“ ist, werden für den Fall, dass dem Modell eine Erhebung zugrunde liegt, die Kinder womöglich nach diesem Ansatz ge­lernt haben.

Da auch KOCHAN - die Gründerin des in der Einleitung angesprochenen Pro­jekts - eine Befürworterin dieses Verfahrens ist, an das sich auch ihr Konzept des entfaltenden schriftsprachlichen Anfangsunterrichts zu einem Großteil an­lehnt, soll dies im Folgenden kurz vorgestellt werden.

Der Spracherfahrungsansatz Wie oben gezeigt wurde, wird seit etlichen Jahren auf dem Gebiet des Schrift- spracherwerbs sehr viel geforscht und eine Vielzahl von Fachwissenschaftlern ist zu der Erkenntnis gelangt, dass - lernpsychologisch gesehen - der Schrift­spracherwerb als erweiterter Spracherwerb zu sehen ist. Auf die Theorien, die diesem sogenannten „Spracherfahrungsansatz“ zugrunde liegen, kann an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden, weil deren Darlegung - ange­sichts der Fülle an Literatur zu diesem Thema - den Rahmen der Arbeit spren­gen würde39. Nur so viel sei gesagt: Auch kleine Kinder verletzen - ähnlich wie es die Schulkinder beim Erlernen der Schriftsprache tun - ständig die Regeln unseres Sprachsystems. Sie ahmen Erwachsene nicht einfach nach, sondern er­finden nie gehörte Sprachformen - beispielsweise benutzen Kinder oft Vergan­genheitsformen, die sie nie so gehört haben („ich gehte“) - und dennoch entwi­ckeln fast alle von ihnen die Fähigkeit, ihre Umgebungssprache normgerecht zu sprechen. 40 Kleine Kinder bemächtigen sich also ihrer Muttersprache ohne je­mals einen Lehrgang oder Unterricht erhalten zu haben. Der Umkehrschluss die­ser Feststellung in Bezug auf den Spracherfahrungsansatz ist also der, dass für den Schriftspracherwerb unterrichtliche Bedingungen analog zu denen geschaf­fen werden müssen, unter welchen das Kind sprechen gelernt hat. Entsprechende Voraussetzungen, die im Prinzip den Grundsätzen41 eines pädagogisch guten Anfangsunterrichts im Lesen und Schreiben entsprechen, über die inzwischen fachdidaktische Einigkeit herrscht, erfüllt z. B. ein schriftkulturelles Umfeld.42 Dieses bietet den Kindern reichlich Gelegenheit - innerhalb eines möglichst me­thodenoffenen Unterrichts - eigenaktiv und selbstgesteuert lesen und schreiben zu lernen. Hierfür nennt BRÜGELMANN folgende Bedingungen:

- ein Klassenraum, der zum Lesen und Schreiben einlädt,
- die Gestaltung von kommunikativ bedeutsamen Situationen, die zum Lesen- und Schreiben herausfordern,
- Materialien und Aufgaben, die Einsichten in Regelungen und Prinzipien unse­res orthographischen Systems provozieren,
- Arbeitstechniken und Hilfsmittel, die das Lesen- und Schreibenlernen der Kin­der unterstützen,
- Ein veränderter Blick auf die Fehler der Kinder, die nicht schlichtweg als „falsch“ bezeichnet, sondern als Lernanlass genutzt werden sollten.43

Neben der Schaffung einer solchen Lernumgebung besteht ein weiterer wichti­ger Aspekt in der Motivation. Dem Kleinkind verhilft die Sprache, um Hand­lungsziele zu erreichen. Die Schule sollte folglich an den vorschulischen Lern­motiven (den Bezugspersonen nacheifern; unabhängig werden; Macht über die Umgebung gewinnen; etwas bewirken) der Kinder ansetzen, damit diese moti­viert werden, Lesen und Schreiben lernen zu wollen. Sie müssen das Schriftsprachhandeln also als persönlich bedeutsames Lernziel begreifen. Hierzu stellt BRÜGELMANN die Idee eines Briefkastens im Klassenraum vor, um die Kinder anzuregen einander Briefe zu schreiben. Die Motivation besteht folglich in der Erfahrung, dass man sich durch Lesen und Schreiben anderen mitteilen und von ihnen Informationen gewinnen kann. Als soziale Handlung (in der Form schriftsprachlichen Verständigungshandelns) sollte Lesen und Schreiben daher möglichst viele Aktivitäten im Klassenraum bestimmen und Folgen für das eigene Verhalten haben.44 Das wäre beispielsweise bei genannter Idee die Einsicht, dass man auf Dauer auch selbst Briefe schreiben muss, wenn man von anderen Post bekommen möchte.45 Wie an anderer Stelle noch gezeigt werden wird, bietet vor allem der Computer besondere Möglichkeiten bezüglich der Motivation.

Durch Vorschläge der genannten Art, wird der Spracherfahrungsansatz häufig missverstanden, als Verzicht auf eine systematische Förderung des Schrift- spracherwerbs. Unter dem Begriff „systematische Förderung“, versteht BRÜ­GELMANN jedoch die „Aktivierung der Erfahrungen und Fähigkeiten des ein­zelnen Kindes, so daß es seinen individuellen Zugang zur Schrift finden und in wachsendem Maße bewußt mitplanen kann“.46 Das Lernziel Lese- und Schreib­fähigkeit und der Gegenstand Schriftsprache sind dabei wichtige Bezugspunkte für die Interpretation von Lernfortschritten und -schwierigkeiten und für die Planung von Lernangeboten. Die Aufgaben der Lehrkraft sind demzufolge sogar recht vielfältig: Sie muss die Angebote vorstrukturieren, den Kindern bei ihrer Auswahl hinsichtlich ihres individuellen Lernstandes helfen und sie muss die Entdeckungen und Erfahrungen der Kinder gemeinsam mit ihnen systematisieren und verallgemeinern. Die Schaffung eines anregenden Schrift- umfeldes allein reicht folglich nicht aus.47

Dieses lernwegorientierte Vorgehen, bei dem also eine individualisierte und mo­tivierende Unterrichtsgestaltung in einer vielfältigen Lernumgebung favorisiert wird, ist eher schreib-orientiert: An den Beginn des Schriftspracherwerbs nach dem Spracherfahrungsansatz, wird das Schreiben mit einer Anlauttabelle ge­stellt. Damit wird von Anfang an die Lautanalyse geübt und somit die Einsicht in den Zusammenhang zwischen gesprochener und geschriebener Sprache her­ausgefordert. Diesbezüglich wird jedoch auch Kritik an extremen Formen des Spracherfahrungsansatzes geübt, die begleitendes Lesetraining geradezu vehe­ment ablehnen.48 Denn auch das Lager der Befürworter dieses Ansatzes ist ge­spalten. In einem Brief an REICHEN gibt SCHEERER-NEUMANN beispiels­weise zu bedenken, dass trotz der notwendigen Phonemanalyse beim Verschrieen der Wörter nicht automatisch die für das Lesen erforderliche Gra- phem-Phonem-Korrespondenz und die Phonemsynthese gelernt würden. 49 Aus demselben Grund beklagt auch VALTIN solch radikale Verfahren und schlägt eine Balance zwischen direkter Anleitung zur Erfassung der Struktur unserer Schrift und Gewährung von Freiräumen für selbstentdeckendes Lernen und selbstbestimmte Tätigkeiten vor.50

Wie der Computer und insbesondere eine speziell für den Schriftspracherwerb entwickelte Lernsoftware solcherlei Defizite ausgleichen können, wird im Ver­lauf der Arbeit noch gezeigt werden.

Ein didaktisches Konzept: entfaltender Unterricht Im Zuge des Projekts „Schreibwerkstatt für Kinder“, das im nächsten Kapitel vorgestellt wird, hat KOCHAN das Konzept entfaltenden schriftsprachlichen Anfangsunterrichts entworfen und zusammen mit SCHRÖTER weiterentwi­ckelt. Dieses Konzept ist für schriftsprachlichen Unterricht auch ohne Computer gültig. Aber es hat aus sich heraus eine Neigung zu bestimmten Merkmalen des Computers, soweit er als Werkzeug für Schriftsprachliches Handeln dient.51 Die besonderen Potenzen des Computers kommen u. E. nämlich nur dann zum Tra­gen, wenn die didaktischen Rahmenbedingungen sowohl den spezifischen Lern­strategien der Kinder als auch dem Wesen des Schreibprozesses gerecht wer­den.52 Diese Rahmenbedingungen bietet das Konzept des entfaltenden Unterrichts, das auf der Überzeugung beruht, dass Kinder das Schreiben (und dadurch auch das Lesen) beim schriftsprachlichen Kommunizieren lernen bzw. perfektionieren. KOCHAN bezeichnet nämlich auch die Kritzeleien von Klein­kindern schon als Schreiben, die es als wahr- und ernst zu nehmen gilt.53 Dem­zufolge ist eigentlich jeder, in einer Schriftkultur aufgewachsene Schulanfänger bereits Schreiber. Seine Schrifterfahrungen sind nach SCHRÖTER, BRÜGEL- MANN und RICHTER u. a. bereits so vielfältig, dass es pädagogischer Ignoranz gleichkäme, den schriftsprachlichen Anfangsunterricht an einem fiktiven Punkt Null mit einem für alle gleichen Lehrgang beginnen zu wollen.54 Wie bereits unter 2.1 dargestellt, gehen die meisten Wissenschaftler heute davon aus, dass Lernen ein eigenaktiver und höchst individueller Prozess ist und dass deshalb die Aufgabe der Schule hinsichtlich des Schriftspracherwerbs „nur“ darin be­steht, eine Lernumgebung im Sinne eines schriftkulturellen Umfeldes zu schaffen, die jedem Kind die Möglichkeit bietet, seine Schreiberfahrungen in einem nunmehr betreuten Lernraum zu erweitern.55 Diesbezüglich sieht KOCHAN die Entwicklung von Schreibkompetenz als Prozess der Entfaltung durch - ggf. unterstütztes - Schreiben und nicht als Folge von Stufen, die erst zum Schreiben hinführen. Anstelle eines Stufenmodells zur Rechtschreibent­wicklung hat sie daher ein ,Modell zur Interaktion von Schreibkomponenten im Schreibprozess’56 entworfen, um damit aufzuzeigen, was ein Mensch genau tut, wenn er schreibt. Mit dem Modell kennzeichnet sie Schreiben als einen von in­nen nach außen gerichteten Prozess, durch den sich Gedanken nach außen tragen lassen. Dieser Prozess verläuft geistig, technisch und sozial. Auf den geistigen Prozess verweisen zunächst die drei Teilkomponenten „Ideenflimmern“ (Ideen kommen in den Kopf), „internes Fassen“ (Ideen erfassen, auswählen, ordnen) und „Externalisieren“ (Verschriften). Die letztgenannte Komponente gehört in­sofern auch dem geistigen Prozess an, als der Schreiber beim Verschrieen sprachanalytisch tätig wird, indem er die Äußerung in Laute gliedert, denen er Buchstaben zuordnet. Hauptsächlich weist die Teilkomponente „Externalisie- ren“ aber auf den technischen Prozess, da die zuvor gedachte Schreibweise sichtbar gemacht werden muss. Dazu bedarf es einer Technik, wie beispielswei­se das Führen eines Stiftes über Papier, das Stempeln, das Drücken auf die Tas­tatur der Schreibmaschine oder des Computers, wodurch diese automatisch den entsprechenden Buchstaben auf einem Blatt oder auf dem Bildschirm erzeugen, etc.. Schreiben ist - nach KOCHAN - eine Form sozialen Handelns und erfolgt unter den Bedingungen eines schreibkulturellen Beziehungsgeflechts. Auf die­sen sozialen Prozess beziehen sich u.a. die Komponenten „situative Bedingun­gen“ (Ort, Zeit, Mittel etc.), „Motivation - sofern sie kommunikativer Art ist“ (Ziel) und „Leserreaktion“. Auf diese Weise wird von innen, also vom Ideenflimmern im Kopf des Schreibers, nach außen voranschreitend die Reakti­on des Lesers erreicht. Von innen nach außen meint aber auch, dass der Schrei­bende seinen eigenen Gedanken in schriftlicher Form begegnet und seinen Text somit auch selbst reflektieren kann. Die Komponente „Text“ bezieht sich jedoch nicht nur auf den fertigen, sondern auch schon auf den entstehenden Text. Die­sen unter dem Aspekt „begleitendes Wahrnehmen und Urteilen“ lesend, kann der Schreiber entweder zufrieden oder unzufrieden mit ihm sein. Nun muss er den Text „Ändern oder Bestätigen“, wodurch er eventuell zu anderen Gedanken gelangt. Dieses Wechselspiel zwischen entstehendem Text und entstehenden Gedanken nennt KOCHAN bezeichnenderweise: „Schreiben als geistige Inter­aktion mit sich selbst“57. Die „Leserreaktion“ kann auch in diese Interaktion einbezogen werden, also während der Text entsteht. Der Leser kann dem Ver­fasser dann mitteilen, wie der Text auf ihn wirkt. Das kann dem Schreibenden u. U. Anregungen geben und ggf. neues „Ideenflimmern“ in ihm auslösen. Ob Kri­tik oder Änderungsvorschläge angenommen werden, bleibt jedoch immer die Sache des Schreibers. Wechselwirkungen können sich zwischen allen Kompo­nenten ereignen. Insbesondere beim guten Schreiber ist dies - laut KOCHAN - der Fall, weil bei ihm der Aspekt „Lesen“ ein Auslöser für eine Vielfalt von Wechselwirkungen mit den anderen Komponenten ist.58 Lesen wird demnach als Subprozess innerhalb des Schreibprozesses gesehen, und somit als Fertigkeit, deren Aneignung u. a. durch das Schreiben provoziert wird.

Innerhalb dieses Wechselspiels sozialer, geistiger und technischer Aktivitäten im Schreibprozess, bestimmt das Kind im entfaltenden Unterricht alle Angele­genheiten des Schreibens selbst. Schreiben, als Form selbstgesteuerten Lernens, bedarf vieler Freiräume, damit das Kind seine Schreibkompetenz und damit ver­bunden auch seine Lesekompetenz autonom entfalten kann. Nach KOCHAN und SCHRÖTER muss das Kind frei darüber entscheiden dürfen, ob und wann es schreibt, was es schreibt, wie es schreibt, ob es allein oder mit einem Partner schreibt, mit welchem Werkzeug es schreibt, wie lange es schreibt, ob und wie es seinen Text veröffentlicht bzw. wer ihn lesen darf.59 Kurz gesagt: das Kind wird hier als Autor behandelt. Der Impuls zur Entfaltung der Schreibfähigkeit geht also von der Autorschaft des Kindes aus.

Wie KOCHAN mit ihrem Modell gezeigt hat, müssen beim Verfassen eines Textes einige, miteinander interagierende Prozesse vom Schreiber bewältigt werden. Das Kind ist also während des Schreibens kognitiv und motorisch sehr stark gefordert. Bei der Verschriftung mittels gewöhnlicher Schreibwerkzeuge wie beispielsweise Stift und Papier, wird vom Kind verlangt, dass es seine Ge­danken bereits vor dem Aufschreiben semantisch, syntaktisch und stilistisch auf die Reihe gebracht hat. Folglich muss der Schüler seinen Text vorab innerlich so strukturieren, wie er später äußerlich zu präsentieren ist.60 Dies erzeugt ein Spannungsverhältnis zwischen der Flatterhaftigkeit des geistigen und der Linea­rität des technischen Schreibprozesses. Flatterhaft ist der geistige Prozess inso­fern, als der Schreiber mit mehreren Problemen gleichzeitig umgehen muss (z. B. Inhalt, Wortwahl, Satzbau, Gliederung, Leserbezug, Layout, etc.). Seine Aufmerksamkeit springt zwischen diesen Punkten hin und her. Das gilt auch für den bereits entstandenen Text. Weil dieser jedoch bereits auf dem Papier fixiert ist, sperrt er sich gegenüber Änderungen.61 Im herkömmlichen Unterricht (z.B. Aufsatzunterricht) wird beim freien Schreiben zusätzlich schon recht früh die Anpassung an orthographische Normen gefordert. Dies hat zur Folge, dass schon eine kleine Unachtsamkeit innerhalb des komplexen Schreibprozesses ausreicht, um den Text später aufwendig überarbeiten62 zu müssen. Fast jedes Kind macht die Erfahrung, dass die technische Realisierung des Schreibens we­sentlich mehr Kraft erfordert, als es beim Vorsprechen des gleichen Textes der Fall ist. Dennoch schreiben - nach SCHRÖTER - nahezu alle Kinder mit großer Freude. Der nötige Wille, um all die Anstrengungen des Schreibens durchzu­stehen, wird dabei meist vom selbstbestimmten Ziel, einen eigenen Text verfas­sen zu wollen, aufgebracht. Hat das Kind aber erst einmal ein Schreibprodukt zustande gebracht, das seinen Vorstellungen und seinen Qualitätsansprüchen genügt, so kann es eine von außen herangetragene Forderung, diesen Text zu überarbeiten, nicht verständig nachvollziehen. SCHRÖTER zufolge, wird auf diese Weise befohlenes Überarbeiten, das der Schreiber nicht als relevant er­fährt, zu bloßem motivationsabnutzendem Abschreiben. Als Folge solcher Ver­fahren assoziiert der Schüler das Schreiben häufig mit Mühe oder Qual, was wiederum zur weitverbreiteten Schreibunlust in den Schulen führt.63 Die noch nicht ausgereiften Schreibfähigkeiten vieler Grundschüler sind im herkömmli­chen Unterricht also mit mancherlei unangenehmen Maßnahmen (z. B. wieder­holtes Abschreiben, schlechte Noten, etc.) verbunden.

Nun werden aber von nahezu allen Grundschullehrerinnen Zeugniserteilungen und damit Auskünfte über die Schreibfähigkeit bzw. Schreibentwicklung der Schüler verlangt. Für diesen Fall soll das Kind - KOCHANS Vorschlag gemäß - die zu bewertenden Texte selbst auswählen dürfen und vorher die Gelegenheit erhalten, diese nach eigenem Ermessen zu überarbeiten.64

Im Idealfall des entfaltenden Unterrichts hingegen gibt es keine vorgesetzten Lernziele und keine Leistungsbewertung. Die Lehrerin unterstützt das Kind bei Bedarf. Sie belehrt es nicht. Nach KOCHAN sind trotzdem oder gerade deshalb erstaunliche Leistungen und ein verblüffendes Maß an Anstrengung und Aus­dauer zu beobachten.65 Schließlich kann ein Kind nur dann eigenaktiv und selbstgesteuert handeln, wenn es die Lehrerin oder andere Erwachsene erlauben und sich in gewisser Weise zurücknehmen. Dieses Prinzip der Selbständigkeit durch Selbsttätigkeit setzt ein grundlegendes Vertrauen in die Leistungs- und Verantwortungsfähigkeit des Schülers und damit eine bestimmte Risikobereit­schaft der Lehrkraft voraus, die sich den Erfahrungen KOCHANS und SCHÖ- TERS zufolge jedoch in den meisten Fällen auszahlen.66

Die drei folgenden Punkte zeigen einige Charakteristika des Konzepts entfalten­den Unterrichts auf:

1. Ein Kind nimmt auf seine Weise bereits dann als Autor und Leser an Schrift­kultur teil, wenn es in dieser Rolle ernst genommen und unterstützt wird. Das gilt bereits für die Zeit, bevor es die Buchstabe-Laut-Beziehungen erfasst hat. Erst recht gilt das während der Zeit, in der es noch nicht normgerecht schreiben und in der es lesetechnisch noch unsicher ist. Deshalb wird der Unterricht von Anfang an als Schriftkultur gestaltet, in der das Kind als Autor und Leser - auf seinem jeweiligen Erfahrungsstand - zu schriftsprachlichen Kommunikations­handlungen herausgefordert, unterstützt und respektiert wird. Das bedeutet, dass es im Zuge seiner schriftsprachlichen Tätigkeiten seine eigenen Entscheidungen trifft. Die entstandenen Texte werden sowohl in, als auch außerhalb der Schule veröffentlicht, sofern das Kind damit einverstanden ist. Der Unterricht greift von Anfang an auch die außerschulische Schriftkultur auf.

2. Als Autor und Leser strebt das Kind nach eigener Zufriedenheit mit sich selbst und mit seinem Text. Es will sich als Autor und Leser vervollkommnen. In diesem Zusammenhang will es Schreiben und Lesen lernen. Dies tut es eigenaktiv, indem es sein schriftkulturelles Umfeld und sein eigenes schrift­sprachliches Handeln sowie seine eigenen Texte selbstkritisch beurteilt. Um aus seinen Fehlern herauswachsen zu können, ist das Kind auf zwei Dinge gleich­ermaßen angewiesen: auf den Respekt der Lehrerin vor seiner Theorie und auf vielfältige Begegnung und eigene geistige Auseinandersetzung mit dem Richti­gen (z. B. hinsichtlich der Rechtschreibung) und mit dem Schönen (z. B. hin­sichtlich der Literatur und der Entfaltung eines guten Schreibstils).

3. Damit die geistige Tätigkeit des Kindes ihm selbst und der Lehrerin bewusst und zugänglich wird, ist es wichtig, dass sie im Unterricht zur Sprache kommt. Deshalb sorgt der entfaltende Unterricht dafür, dass die Kinder miteinander und mit der Lehrerin über ihre Probleme und Entscheidungen beim Schreiben spre­chen können. Dazu fordert insbesondere das kooperative Schreiben heraus. Da­mit bietet der Unterricht vielfältige Gelegenheit, das gemeinsame Verfassen von Texten zu üben.67

Grundsätzlich lässt sich also sagen, dass entfaltender Unterricht günstige Bedin­gungen für die eigenaktive Entwicklung der Kinder als Schreiber und nicht zu Schreibern schafft. Er ermutigt und unterstützt jedes Kind darin, auf der Basis seiner individuellen Schreiberfahrungen seine eigenen Gedanken zu verschriften und Leser zu finden, die sich für diese Gedanken interessieren. Entfaltender Schreibunterricht ist also eine didaktisch organisierte Schriftkultur, die dem Lernenden eine Umgebung zur Verfügung stellt, welche reich an Material ist und den sozialen Kontakt zu anderen herausfordert. Dabei wendet sich das Kind nicht allem zu, was die Umgebung bietet, sondern es geht selektiv vor und wid­met sich denjenigen Erscheinungen, die es bedeutsam findet. Es handelt sich folglich um ein vermitteltes Zusammenspiel von Nachfrage seitens des Kindes und Angebot seitens der Umgebung sowie von Können und Herausforderung. Dabei lernen die Kinder schreiben nicht von allein und doch selbstgesteuert. Die Lehrerin belehrt die Kinder nicht, aber sie lässt ihrer Entfaltung auch nicht freien Lauf. Sie macht sich auf den Weg zu jedem einzelnen Kind in ihrer Klas­se und ermöglicht ihnen - durch den Gebrauch der Schriftsprache - neue Wege aufeinander zu, zur Welt und zum eigenen Ich.68

Schriftspracherwerb im Spiegel des Lehrplans

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den derzeitigen, zur Erprobung ausgestellten Lehrplan für die Grundschule in NRW des Faches Deutsch.69 Der Schriftspracherwerb wird innerhalb des Lehrplans hauptsächlich in die beiden Teilbereiche „Schriftliches Sprachhandeln, einschließlich Rechtschreiben“ (Schreiben lernen) und „Umgang mit Texten und Medien“ (Lesen lernen) unter­teilt. Dem Spracherfahrungsansatz entsprechend, stehen beide Bereiche unter der Leitidee, ein schriftkulturelles Umfeld zu entwickeln.

So heißt es im Bezug auf das schriftliche Sprachhandeln z. B.:

„Im Zusammenspiel von Schreiben und Lesen wird die Schriftlichkeit zu einem für die Schülerinnen und Schüler wichtigen Handlungsfeld. Das Verfassen von Texten fördert die sprachlich-geistige Entwicklung der Schülerinnen und Schü­ler, weil sich beim Schreiben Gedanken entfalten, weil Geschriebenes beraten, überarbeitet und neu gefasst werden kann. Damit die Schülerinnen und Schüler die grundlegende und beständige Erfahrung machen, dass Schreiben sinnvoll, bedeutsam und bereichernd ist, muss eine Lese-Schreib-Kultur aufgebaut wer­den.“70

Auf diese Weise sollen die Kinder von Anfang an Freude am Schreiben entwi­ckeln. Nur so kann das Schreiben- und Rechtschreibenlernen, das - laut Lehr­plan - in einem eigenaktiven Prozess stattfindet, gewährleistet werden.

Damit die Schüler verschiedene Funktionen von Schrift kennen lernen können, sind die Aufgabenschwerpunkte für das Schreibenlernen recht vielseitig: „alltäg­liches Schreiben“ zu vielen Gelegenheiten und Anlässen, um u. a. ein klares, gut lesbares Schriftbild einzuüben; „erzählendes, sachbezogenes und appellierendes Schreiben“, indem die Kinder Erlebnisse und Geschichten, Sachverhalte und Begebenheiten aus dem eigenen Leben, Bitten, Wünsche, Aufforderungen und Vereinbarungen in Wörtern und Sätzen aufschreiben; „poetisches Schreiben“ von Texten, z. B. in Anlehnung an Kinderlyrik; „Gestalten mit Medien“, bei­spielsweise am Computer; „Schreibprozess: Planen, Schreiben, Beraten, Über­arbeiten, Veröffentlichen von Texten“ durch das Suchen, Finden und Nutzen von Schreibideen; und „Rechtschreiben“, dessen Unterrichtsgegenstände für die ersten beiden Schuljahre das lautorientierte Verschriften von Texten, das Ken­nen lernen verschiedener Abweichungen von der rein lautorientierten Schreib­weise, das Sammeln und auf orthographische Merkmale hin untersuchen wichti­ger Wörter für das Verfassen eigener Texte, das Kennen und Anwenden wichtiger Regelungen auf der Satzebene (zur Großschreibung am Satzanfang und zu den Satzschlusszeichen) und das selbstständige Lernen und Üben mit Arbeitsmethoden sind.

Im Bereich „Umgang mit Texten und Medien“ geht es um das Lesen von Texten in den unterschiedlichen Medien. Dadurch sollen u. a. Voraussetzungen für die Medienkompetenz der Kinder geschaffen werden. Hinsichtlich eines schriftkul­turellen Umfeldes gilt für das Lesenlernen:

„Für den Aufbau einer Lese-Schreib-Kultur“ sind das genießende und das inte­ressegeleitete Lesen von besonderer Bedeutung, weil dadurch das Lesen im ei­genen Alltag eine positive Funktion erhält und eine überdauernde Lesemotivati­on gefördert wird. Die Förderung der Lesekompetenz berücksichtigt die unterschiedlichen Neigungen und Interessen von Mädchen und Jungen.“71

Auch hier steht wiederum die Lernfreude im Vordergrund. Die Kinder sollen nämlich erfahren, dass Lesen Spaß machen kann.

Während des Entwicklungsprozesses zur Lesegeläufigkeit müssen die Kinder verschiedene Teilfähigkeiten erwerben. Sie sollten:

- den Lautcharakter der Sprache begreifen,
- in der Lage sein, Graphem-Phonem-Korrespondenzen zu entdecken und diese beim Lesen, aber auch beim Schreiben zu realisieren,
- Wörter, Sätze und Texte akustisch und visuell zu durchgliedern vermögen,
- häufige Buchstabenfolgen und ihre Lautung geläufig erfassen können, und
- das sinnerwartende Erlesen lernen.

Die folgenden Aufgabenschwerpunkte zum Lesenlernen sollten in den Unter­richt miteinbezogen werden: „Selbstvergessenes Lesen“ durch das interessenbe­zogene Auswählen von Texten in einer leseanregenden Lernumgebung und das Genießen vorgelesener und selbst gelesener Kinderliteratur; „Informierendes Lesen“, indem die Kinder kurze Anweisungen in Texten verstehen und ihnen folgen; „Interpretieren“ dadurch, dass Textinhalte mit eigenen Erfahrungen ver­bunden werden und sich die Schüler darüber austauschen, dass handelnd mit Texten umgegangen wird, indem man sie beispielsweise in Szene setzt oder sie bildlich darstellt und außerdem dadurch, dass Gedichte u. a. auch auswendig vorgetragen werden; „Nutzen von Medien“, um sich zu einem Thema nach ei­genem Interesse zu informieren, um Sprech-, Schreib- und Leseanreize zu erhal­ten und um sich über Medienerfahrungen auszutauschen; „Nutzen von Lesestra­tegien“, wie das textbezogene Antizipieren, das genaue und das zeilenübergreifende Lesen und das Auffinden von Textstellen.

Innerhalb des Schriftspracherwerbsprozesses unterstützen sich Lesen- und Schreibenlernen gegenseitig. Sie haben die Druckschrift als gemeinsame Aus­gangsschrift.

Die aufgrund des Themas dieser Arbeit zu betrachtenden, verbindlichen Anfor­derungen am Ende des 2. Schuljahres sind:

Bezüglich des Schreibens:

„Jede Schülerin/ jeder Schüler kann

- Schreibgelegenheiten zum eigenen Schreiben nutzen;
- eine Begebenheit oder einen Sachverhalt aus seinem Lebensbereich verständ­lich aufschreiben;
- eigene Texte in Druckschrift formklar und flüssig schreiben;
- eigene Texte, bezogen auf die Rechtschreibung, lesbar schreiben;

dabei muss erkennbar sein, dass über die lautorientierte Schreibweise hinaus auch bereits einfache Abweichungen, Rechtschreibmuster und rechtschriftliche Kenntnisse verwendet werden (Schreibungen von au, ei, eu, ch, sch, st, sp, qu; Endungen - en, -er; Einhalten von Wortgrenzen, Großschreibung nach Satzschlusszeichen);

- einen verstandenen Text unter Nutzung sinnvoller Abschreibtechniken weitge­hend korrekt abschreiben.“72

Bezüglich des Lesens:

„Jede Schülerin/ jeder Schüler kann

- Texte zum eigenen Lesen auswählen;
- eine schriftlich gegebene Arbeitsanweisung verstehen und ausführen;
- kurze altersgemäße Texte still oder mitflüsternd erlesen und textbezogene Fra­gen zum Inhalt beantworten.“73

Computer und Schriftspracherwerb

Ein Projekt mit zukunftsweisenden Ergebnissen

1986 gründete Frau Professor Barbara KOCHAN an der Technischen Universi­tät (TU) Berlin die „Schreibwerkstatt für Kinder“ („SWK“). Ursprünglich war geplant, eine Schreibwerkstatt in einer Berliner Grundschule einzurichten, um in der Unterrichtswirklichkeit ein didaktisch reflektiertes Für und Wider des Schreibwerkzeugs Computer gegenüber dem Schreiben mit der Hand zu erfor­schen. Doch traf dieses Projekt damals selbst bei Erziehungswissenschaftlern des eigenen Fachbereichs auf Ablehnung und wurde seitens der Schulbehörde nicht genehmigt. Die Motive dafür wurden bereits in der Einleitung genannt. Sie gaben Anlass für die Gründung der „Schreibwerkstatt für Kinder“ in der TU. Dort werden seither Kleingruppen von 5- bis 12jährigen Kindern beim selbstge­steuerten Schreiben mit verschiedenen Werkzeugen (Stifte, Druckerei, Schreib- maschine und Computer) betreut.74

Im Jahre 1992 konnte das Projekt um Feldstudien in der Schule erweitert wer­den. Seit 1993 ist die Grundschulpädagogin Elke SCHRÖTER mit ihrer Durch­führung befasst. Die realen pädagogischen Bedingungen des Unterrichts bergen umfangreichere Möglichkeiten, Schreibsituationen noch offener als in der Schreibwerkstatt an der TU Berlin gestalten zu können. Mit der Integration von sechs Grundschulklassen in das Projekt „SWK“ sind jährlich ca. 140 Kinder ab dem Vorschulalter in die Untersuchungen einbezogen.75

Die Erfahrungen, die KOCHAN und SCHRÖTER innerhalb des heute unter dem Namen „ComputerLernWerkstatt“ („CLW“) bekannten Projekts sammeln konnten, sprechen eindeutig für den Einsatz des Computers im Unterricht vom ersten Schultag an. Dies jedoch nur dann, wenn dem Unterricht ein didaktisches Konzept zugrunde liegt, das dem Entwurf KOCHANS gleicht, bei dem sich also das Kind als Autor frei entfalten kann. Denn nur in solch einem didaktischen Kontext, der den Kindern eine Schreibumgebung zur Verfügung stellt, die sie zum selbstgesteuerten, entdeckenden Erwerb und Gebrauch der Schriftsprache herausfordert, kommt dem Computer als Schreibwerkzeug Bedeutung zu.76 Welche Besonderheiten dieses Werkzeug nun ausmachen und was es zu leisten vermag, wenn Kinder es für ihre Schreibhandlungen in Gebrauch nehmen dür­fen, soll im folgenden Abschnitt gezeigt werden.

Der Computer als Möglichkeit im Konzept entfaltenden Unterrichts

Im Konzept entfaltenden schriftsprachlichen Anfangsunterrichts werden haupt­sächlich folgende Computermerkmale zur Unterstützung des Schreibprozesses genutzt:

- die Tastatur,

- der Drucker,

- die Löschfunktion in Verbindung mit dem Monitor und

- die Internetanbindung.

Zur Tastatur

Allein die Standardtastatur entlastet das Kind sowohl motorisch als auch kogni­tiv: Da beim Schreiben mit einem Textverarbeitungsprogramm der mühevolle Akt des Malens von Buchstaben mittels Stift o. ä. entfällt, ist die motorische Entlastung eindeutig. Die kognitive Erleichterung besteht darin, dass das Kind die Form des jeweiligen Buchstabens nicht auswendig können und diese somit nicht erst aus dem Gedächtnis hervorholen muss. Die Tastatur liefert nämlich eine Übersicht über alle Buchstaben, und das Kind braucht zunächst nur die Merkmale zu kennen, in denen sie sich unterscheiden.77 Die geringere physische Beanspruchung erlaubt dem Kind auch quantitativ mehr zu schreiben. Die Län­ge des Textes hängt nun stärker vom Umfang dessen ab, was das Kind mitteilen will, und nicht mehr so sehr von seinem schreibmotorischen Durchhaltevermö­gen. 78

KOCHAN u. a. stellen den Kindern anfangs eine Anlauttastatur zur Verfügung, die ihnen erlaubt, eigene Texte zu schreiben, sobald sie Anlaute isolieren kön­nen, aber noch bevor sie die entsprechenden Buchstaben kennen. Damit knüpfen sie, wie die Vertreter des Spracherfahrungsansatzes auch, an REICHENS Idee an, dessen Anlauttabelle in Printform inzwischen weite Verbreitung in den Grundschulen gefunden hat. Dennoch distanzieren sie sich in gewisser Hinsicht von REICHENS didaktischem Gesamtkonzept. Beim Zulassen zunächst noch nicht orthographischen Schreibens, verlangen sie von den Kindern - im Gegen­satz zu REICHEN - nämlich nicht einmal phonetisch vollständige Verschriftun- gen, sondern sie akzeptieren auch noch weniger entfaltete Schreibweisen, u. a. auch solche, die noch gar keine Buchstaben enthalten.79 Nach REICHENS Kon­zept müssten die Kinder von Anfang an zu einer vollständigen Lautanalyse fähig sein, was - wie die Stufenmodelle von VALTIN und BRÜGELMANN/ BRINKMANN zeigen - jedoch eine relativ späte Errungenschaft ist. Erst wenn diese Phase erreicht ist, wird der Gebrauch einer Anlauttabelle bzw. einer An­lauttastatur überhaupt sinnvoll.

Der Gebrauch einer auf Papier gedruckten Anlauttabelle erfordert, dass das Kind den gefundenen Buchstaben abzeichnen muss. Bei der Benutzung von KOCHANS Anlauttastatur braucht das Kind lediglich das Bild zum gesuchten Laut aufzufinden80 und kann somit den dazugehörigen Buchstaben, durch bloße Berührung des Anlautfeldes, auf dem Monitor erzeugen. Dadurch erfährt das Kind die Funktion der Buchstaben beim Schreiben, noch bevor es im Stande ist, diese selber durch entsprechende Schreibbewegung zu formen.81 Demzufolge kann es sich besser auf die Gedanken konzentrieren, die es mittels der Buchsta­ben zum Ausdruck bringen will.

Diese Verlegung des Schreibens von Texten vor das Buchstabenlernen ist, nach KOCHAN, ein äußerst wirksamer Anreiz für das Buchstabenlernen. Nach Er­fahrungen KOCHANS wollen die Kinder alsbald die richtige Computertastatur benutzen können, da sie rasch begreifen, dass das Schreiben schneller geht, wenn man erst einmal einige, zu bestimmten Lauten benötigte Buchstaben aus­wendig kennt. Sobald sie dazu imstande sind und noch dazu wissen, wo unge­fähr sich manche Buchstaben auf der Standarttastatur befinden, erklären sie die Anlauttastatur zur „Baby-Tastatur“.82 Der Umstieg wird dadurch unterstützt, dass die Anlauttastatur parallel zur Standardtastatur an den Computer ange­schlossen wird, wobei die Anlauttastatur ausschließlich der Buchstabeneingabe dient. Für alle anderen Zeichen und Funktionen, z. B. Leer- und Löschtaste, muss das Kind die Standarttastatur benutzen. So entdeckt es die einzelnen Buch­staben auf der Standardtastatur allmählich nebenbei, ohne irgendein von außen gesetztes Lernziel. Übergangsweise wird für die noch nicht ausreichend bekann- ten Buchstaben zunächst weiterhin die Anlauttabelle benutzt.83

Wie eingangs gezeigt, können derartige Texte, die lautorientiert geschrieben wurden, nicht orthographisch korrekt sein. Lauttreue oder zumindest lautnahe Verschriftungen wie „Himl“ für „Himmel“, „dea“ für „der“, „Kata“ für „Kater“ sowie „Fagelt“ für „Fahrgeld“ und „Boimä“ für „Bäume“ sind aber durchaus schon kommunikationstauglich. Und dies ist genau das, worauf es zunächst an­kommt: Die Lernenden sollen auf primärer Ebene die Erfahrung machen, dass Schrift ein Träger von Information ist, die u. a. dem Sichtbarmachen sprachlich formulierter Gedanken dient, damit diese für sich selber fixiert oder anderen er­öffnet werden können.84

Viele Lehrerinnen befürchten, dass das Tastaturschreiben zur Vernachlässigung des handschriftlichen Schreibens und vor allem zur Geringschätzung der Indivi­dualität von Handschrift führe. KOCHAN hat das Gegenteil beobachtet: Das Erlebnis, mit dem Computer auch umfangreichere Texte verfassen, um somit auch komplexere Gedanken schreibend aus dem Kopf nach außen bringen zu können, überträgt das Kind auch auf das Schreiben mit der Hand. Seine Schreibbereitschaft erhöht sich. Es schreibt dadurch auch mit einem Stift lieber und mehr als ein anderes Kind, das diese Erfahrung nicht gemacht hat.85 Das Kind wählt ganz bewusst schon sehr früh zwischen den verschiedenen Schreib­werkzeugen und strebt damit die Unabhängigkeit von einer Maschine an, um überall schreiben zu können. Ganz generell schätzt es am Tastaturschreiben, dass sein Text letztlich in einem Schriftbild ausgedruckt wird, das gegenüber der eigenen Handschrift nicht kindlich wirkt. Das ist ihm äußerst wichtig, denn viele Kinder machen - KOCHANS Ausführungen nach - leider die Erfahrung, dass ihre Texte ernster genommen werden, wenn sie so aussehen wie diejenigen von Erwachsenen. Dies liegt u. a. daran, dass von Kindern verfasste Texte oftmals zuallererst daraufhin geprüft werden, was alles noch nicht gut oder richtig an ihnen ist. Des Weiteren hat die bessere Lesbarkeit der Computerschrift auch Vorzüge beim Lesen des eigenen Textes, was insbesondere für den noch ungeübten Leser von großem Vorteil ist.86 Die Handschrift bleibt für das Kind aber trotz gelegentlichen Tastaturschreibens so lange attraktiv, wie sie auch in seinem außerschulischen Umfeld, besonders von den Erwachsenen praktiziert und geschätzt wird. Bei etwa ein bis drei Computern pro Klassenraum ist routi- nemäßiges Tastaturschreiben ohnehin nicht möglich.87

Zum Drucker

Der Drucker animiert das Kind, seine Texte zu veröffentlichen. Durch ihn erhält es die Möglichkeit, sich mit mehreren Exemplaren an mehrere Leser - sowohl in- als auch außerhalb der Schule - zu wenden. Auf diese Weise wird dem Kind bewusst, dass es u. a. für Leser schreibt, wodurch es ein grundsätzliches, bestän­diges Motiv zum Verfassen von Texten gewinnt. Damit die lautorientierten Ver- schriftungen des Kindes überhaupt oder zumindest leichter gelesen werden kön­nen, sollte die Lehrerin eine Version des Textes in orthographisch korrekter Schreibweise erstellen und diese dem unversehrten Originaltext des Kindes bei­fügen. Laut KOCHAN sollte die rechtschriftliche Ausführung nicht als die rich­tige, sondern als „Schreibweise für den Leser“88 89 bezeichnet werden. Das würdigt die eigenen Schreibungen nicht herab und das Kind erfährt Orthographie als das, was sie hauptsächlich ist: als Freundlichkeit gegenüber den Lesern. In der „SWK“, bzw. „CLW“ hat KOCHAN die Erfahrung gemacht, dass sich das Kind nach einiger Zeit selbst um diese Freundlichkeit bemüht. Wenn nämlich die Texte der anderen Kinder als Lektüre im Klassenraum verfügbar sind, stellt das Kind irgendwann fest, dass es schwieriger ist, all die verschiedenen persönlichen Schreibungen zu lesen, als die in Büchern vorhandene und stets gleichbleibende Schreibweise derselben Wörter. Somit wird die Bücherschreibweise bzw. die

Rechtschreibung für das Kind interessant und es kann sich ihr nach und nach zuwenden, ohne dabei das lautorientierte Verschriften gänzlich aufzugeben.90 Ergebnis dieser Zuwendung sind die bereits angesprochenen Übergeneralisie­rungen, die zeigen, dass sich das Kind auf dem besten Weg zur Aneignung der Normschrift befindet.

Die Absicht, den Text mit Hilfe des Druckers zu veröffentlichen, regt das Kind des weiteren dazu an, das Aussehen des Produkts zu gestalten. Die Möglichkeit der Variation zwischen Schriftart, Schriftgröße, Farben und der Textanordnung auf der Seite veranlasst u. a. auch zur Beschäftigung mit dem Inhalt. Gerade bei jüngeren Schülern gehören auch Bilder zum Text. Auf Papier gefertigte Zeich­nungen können beispielsweise mit einem Scanner in den gespeicherten Text in­tegriert werden, um anschließend beides zusammen ausdrucken zu können.91 Solcherlei individuelle Textgestaltungen dienen nicht zuletzt als Wiedererken­nungsmerkmal der eigenen Schreibprodukte, deren Vorhandensein für Kinder von großer Bedeutung ist. Ich habe in einem Praktikum die Erfahrung gemacht, dass Inhalte, von weit im Voraus verfassten Texten, durch derlei Merkmale auf einen Blick wieder präsent sein können. Allein durch das Sichten von beigefüg­ten Bildern o. ä., konnten mir verschiedene Kinder eines zweiten Schuljahres sagen, worum es in so mancher, selbst erfundener Kurzgeschichte (meist beste­hend aus zwei bis drei Sätzen), die teilweise drei Wochen zuvor geschrieben wurden, ging. Diese Leistung finde ich bis heute erstaunlich.

Zur Löschfunktion in Verbindung mit dem Monitor

Die Löschfunktion soll die Schüler ermutigen, das Wagnis des Schreibens trotz Unsicherheit zu riskieren und sich experimentierend auf das Schreiben als geistiges und soziales Abenteuer einzulassen.92 Mit ihrer Hilfe ermöglicht der Computer als Schreibwerkzeug nämlich ein komplett anderes Verhältnis zwi­schen dem geistigen und dem technischen Prozess. Der Schreiber muss das line- ar zu strukturierende Produkt nicht mehr auf lineare Weise produzieren.93 Der Monitor präsentiert den eingegebenen Text schließlich nur in einem vorläufigen Zwischenstadium, in dem der Schreiber noch allerlei Veränderungen am Text vornehmen kann, bevor er ihn speichern oder ausdrucken und somit gewisser­maßen fixieren lässt.94 So müssen nicht mehr alle Entscheidungen quasi zugleich und vor dem eigentlichen Schreibvorgang getroffen werden. Auf der Grundlage des ersten Entwurfs kann das Kind diese nacheinander bzw. gesondert beden­ken, prüfen und ggf. revidieren. Es kann sich - ohne den Text optisch zu ver­schandeln und ohne ihn letztlich sauber abschreiben zu müssen - fragen, ob das, was es geschrieben hat, schon zum Ausdruck bringt, was es sagen will. Die Ver­neinung dieser Frage hat nicht so aufwendige Folgen, als wenn der Text bereits auf Papier fixiert wäre. Das Kind kann ihn unter jeweils anderen Gesichtspunk­ten immer wieder durchgehen und ggf. überarbeiten. „Es wird dabei zum kriti­schen Leser seines eigenen Textes.“95

An dieser Stelle stellt sich jedoch die folgende Frage: Verfügen Schulanfänger bei ihrer Schreibtätigkeit überhaupt über die zur Reflexion ihres Schreibproduk­tes erforderliche Lesefähigkeit?

Nach SCHRÖTER wird die Fähigkeit zum Lesen im eigenen Text von Schreibdidaktikern oft ohne weiteres vorausgesetzt. Innerhalb der „CLW“ hat sie u. a. die Frage nach der Bedeutung des Lesens beim Schreiben für die Schreibentwicklung beschäftigt. Sie vertritt die Ansicht, dass ein schreibanregender Unterricht für Lernanfänger zugleich auch ein leseanregender Unterricht sein muss, in dem von Anfang an frei geschriebene Texte gleichbe­rechtigt neben Büchertexten zur Verfügung stehen. Innerhalb der „CLW“ fiel ihr auf, dass Kinder, die noch nicht lesen können, zwar auch löschen, doch nicht mit der Absicht, den Text zu überarbeiten. Ihr Löschen dient u. a. dazu, das aktuelle Drücken einer falschen Taste rückgängig zu machen oder aber spielerisch belie­bige Buchstaben auf dem Monitor erscheinen zu lassen, um sie anschließend mit demselben Vergnügen mit der Löschtaste wieder entfernen zu können.96

Die Anwendung der Löschfunktion ist also erst für die Kinder sinnvoll, die be­reits ein bestimmtes Niveau an Lesekompetenz erreicht haben. Ihnen bieten Löschtaste und Monitor die folgenden Vorteile:

- Man kann Textteile, vom Buchstaben bis hin zu ganzen Abschnitten, löschen, ohne dass eine Lücke zurückbleibt, denn diese schließt sich auf dem Monitor automatisch, indem der auf die gelöschte Stelle folgende Text heranrückt.
- Man kann beliebig lange Textpassagen mühelos einfügen. Der nachfolgende Teil des Textes verschiebt sich dabei um den benötigten Platz nach hinten.
- Am Monitor können neben dem Schreiber noch andere Personen das Entstehen des Textes besser verfolgen als auf einem Blatt Papier, über das sich insbeson­dere der kindliche Schreiber zumeist beugt. Der Monitor macht den vorläufigen Text also bereits während des Verfassens gemeinsamer Besprechung zugäng- lich.97

Zur Internetanbindung

Aus didaktischer Sicht auf das Schreiben und Lesen ist das Internet zum einen eine Steigerung des Druckers (Schreibprodukte veröffentlichen) und zum anderen eine neue Form der Lektüre. Über die selbstbestimmte Nutzung des In­ternets können Lesen und Schreiben eine stärkere Bedeutung erlangen als je zu­vor.98 Ein E-Mail-Anschluss ermöglicht den schnellen schriftlichen Austausch auch mit weit entfernten, bekannten oder unbekannten Personen.99 Eine Antwort derselben bietet u. U. einen erneuten Schreibanlass, der in einen regen E-Mail­Verkehr ausarten kann. Während diese Form des Verständigungshandelns - ähn­lich wie die Briefpost - gewissermaßen intim funktioniert, ist Schreiben auch im öffentlichen Raum des Internets möglich. Hier können die Kinder z. B. auf einer klassen- oder schuleigenen Homepage ihre Texte selbstständig veröffentli­chen.100 Nach KOCHAN sollte ihre Öffentlichkeit jedoch nicht dazu verleiten, von den Beiträgen der Kinder besondere Perfektion zu verlangen. Auch die Homepage muss Angelegenheit der Kinder sein, nicht eine Basis zur Selbstdar­stellung der Lehrkraft.101

Ein moderner Computer bietet also bereits einige Vorzüge, um den Schrift­spracherwerb zu fördern. Seine Besonderheiten sollen die Entfaltung der Kinder als Schreiber unterstützen. Ein Computer ist aber letztlich nur so gut, wie die jeweilige Software mit der er ausgerüstet ist. Wie allein ein einfaches Textverar­beitungsprogramm die Lese- und Schreibanfänger motivieren kann, wurde in diesem Abschnitt bereits gezeigt. Es bleibt die Frage, ob eine speziell entwickel­te Lernsoftware den Nutzen des Computers für den Erwerb der Schriftsprache noch vergrößern kann. Dieser Frage soll im folgenden Kapitel nachgegangen werden.

Lernsoftware

Besondere Qualitäten von Lernsoftware

Durch die multimediale102 Form der Präsentation - im Vergleich zu bisher übli­chen Arbeitsmaterialien wie z. B. Buch, Heft oder Arbeitsblatt - ergeben sich bei der Benutzung von Lernsoftware zahlreiche neuartige Möglichkeiten, so­wohl in didaktischer, als auch in gestalterischer Hinsicht. Für die Konzeption von Lernprogrammen bedeutet die Möglichkeit, eine große Vielfalt an unter­schiedlichen auditiven103 und visuellen104 Informationsquellen in einem einzigen Programm so zu integrieren, dass die Schüler sich nicht mehr um technische De­tails kümmern müssen, sondern sich auf die Inhalte und Themen konzentrieren können, einen enormen Vorteil gegenüber jedem Einzelmedium. Das wesentli­che Potenzial von Multimedia liegt außerdem darin, dass die Technik weitge­hend flexibel ist und an unterschiedliche Lernsituationen - durch verschiedene Grade der Benutzerführung - anpassbar ist. Aufgrund ihrer nichtlinearen Struk­tur und der Möglichkeit der Integration reichhaltiger Darstellungsformen ist eine didaktisch hochwertige Lernsoftware jedoch besonders für die Unterstützung selbstgesteuerten, problemorientierten Lernens geeignet.105

Lernsoftware ist jedoch wiederum nicht gleich Lernsoftware. ARENHÖVEL ist der Überzeugung, dass für die Konzeption eines qualitativ guten Programms für die Grundschule drei „Fachleute“ gleichrangig beteiligt sein müssen:

1. eine Lehrkraft, die den didaktisch-methodischen Rahmen absteckt;
2. ein Programmierer, der die Ideen technisch umzusetzen vermag;
3. Kinder, die mit der Software arbeiten, sie ausprobieren und auf Fehler auf­merksam machen. 106

Genau diesem Anliegen sind die Entwickler der nun vorzustellenden Lernsoft­ware gefolgt.

LolliPop Multimedia - Lernsoftware mit hohem didaktischen Anspruch Anknüpfend an die Erfahrungen, die KOCHAN und SCHRÖTER innerhalb der Arbeit mit den Kindern der Computerlernwerkstatt sammeln konnten, entwi­ckelten sie gemeinsam das didaktische Konzept zur multimedialen Lernsoftware LolliPop Multimedia Deutsch. In weiterer Zusammenarbeit mit einem Team von Programmierern und Graphikern ist daraus eine komplexe, bis ins Detail ästhe­tisch und zweckmäßig gestaltete Lernwelt im 3D-Format entstanden. Diese digi­tale Welt ist nicht starr, sondern lebendig und flexibel. Sie steckt voller Überra­schungen. Didaktisch übernimmt sie die Funktion eines schriftkulturellen Umfeldes.107 LolliPop Multimedia nimmt Kinder als Lerner ernst und bietet ihnen kontinuierlich Handlungsanlässe, um aktiv und selbstbestimmend etwas zu erkunden, um nachzuforschen, zu lernen, zu üben und auch problemlösend zu handeln. Indem sie sich auf diese Weise lernend mit Lesen und Schreiben, der Rechtschreibung und ersten grammatikalischen Inhalten auseinander setzen, wird den Schülern nicht nur zu selbst erarbeiteten Lernerfolgen verholfen, son­dern es wird auch anhaltende Lernfreude in ihnen geweckt, die die Basis für ein lebenslanges Lernen bildet.108 Die Notwendigkeit lebenslangen Lernens ver­langt, dass Kinder schon vom 1. Schuljahr an hilfreiche Lernstrategien, die in der Wissensgesellschaft erforderlich sind, erwerben, also „das Lernen lernen“109.

LolliPop Multimedia Deutsch weist demzufolge in die Zukunft des allerorts ge­forderten neuen Lernens, das von den technischen Möglichkeiten der Informati­onsgesellschaft konstruktiv und konsequent Gebrauch macht. Ein Merkmal die­ser neuen Perspektive auf das Lernen ist der bereits mehrfach angedeutete Aspekt der Selbststeuerung, denn lebenslanges Lernen erfordert insbesondere die Fähigkeit selbstständig zu lernen. Selbstgesteuertes Lernen mit einer guten Lernsoftware beinhaltet z. B. folgende Elemente: Die Kinder können die Inhalte, die Themen, die einzelnen Übungen sowie die Reihenfolge selbst auswählen; sie können individuell in ihrem eigenen Tempo und einem ihrem Lernstand ent­sprechenden Schwierigkeitsgrad arbeiten, die Übungen beliebig oft wiederholen und bei Bedarf zusätzlich Hilfe abrufen. Auf diese Weise können nicht nur der Lernweg und das Lerntempo vom Kind selbst gesteuert werden, auch die Be­wertung des eigenen Lernerfolgs kann aus der Hand des Lehrers in eigene Regie übergehen. Die sachlichen Rückmeldungen eines guten Programms informieren die Kinder in erster Linie über ihre eigenen Lernfortschritte (individuelle Be­zugsnorm) und messen sie nicht an sozialen Vergleichsnormen (z. B. Klassen­durchschnitt). Dies kann gerade bei schwächeren Schülern einen hohen Motiva­tionseffekt mit einhergehender Stärkung des kindlichen Selbstvertrauens bewirken, da durch die Anonymität u. a. auch Versagensängste abgebaut wer­den, indem bei Fehlern oder sehr langsamem Arbeitstempo kein Spott seitens der anderen befürchtet werden muss.110

Diesen Forderungen Rechnung tragend nutzt LolliPop Multimedia die aktuellen technischen Möglichkeiten des Computers und verbindet sie mit den neuen lern­theoretischen Erkenntnissen und darauf basierenden didaktischen Konzepten zum Erlernen der Kulturtechniken Lesen und Schreiben.111

Da Lernen ein äußerst individueller Prozess ist und es nach SCHRÖTER demzufolge kein einzigartiges Verfahren zur Gestaltung des Schriftspracher- werbs gibt, orientiert sich auch LolliPop Multimedia an keiner speziellen Me­thode zum Lesen- und Schreiben-lernen. Vielmehr setzt es die genannten Er­kenntnisse so um, dass das Kind umfassenden Raum zum Explorieren von Schriftsprache erhält.112

Dafür wurde sie mit mehreren Preisen geehrt. Herausragend dabei ist der Deut­sche Bildungssoftware-Preis „Digita“, der in Deutschland gemeinsam von dem Institut für Bildung in der Informationsgesellschaft, der Stiftung Lesen und dem Magazin „Bild der Wissenschaft“ anlässlich der Bildungsmesse vergeben wird. Er wird ausschließlich an Software verliehen, die auf hiesige Schul- und Ausbil­dungsanforderungen abgestimmt ist. Ausschlaggebend für die Prämierung ist neben hervorragender inhaltlicher und didaktischer Qualität auch die gelungene technische Realisierung.113

LolliPop Multimedia ist jedoch nicht nur für jede Klassenstufe der Grundschule im Bereich Deutsch erhältlich, sondern auch für die Fächer Mathematik und Englisch. Aufgrund des Themas dieser Arbeit werden sich die weiteren Ausfüh­rungen jedoch auf die Software für das Fach Deutsch im ersten Schuljahr be­schränken.

LolliPop Multimedia Deutsch Klasse 1

LolliPop Multimedia Deutsch Klasse 1 ist eine komplexe Lernsoftware, die spe­ziell für die Phase des Schriftspracherwerbs konzipiert wurde und somit alle grundlegenden Lehrplanforderungen zum Schriftsprachlernen im ersten Schul­jahr medienspezifisch umsetzt. Sie hat sowohl Medium- als auch Schreibwerk­zeugcharakter. So findet in der digitalen Lernwelt Lolopolis lehrplanorientiertes,

systematisches Lernen statt, während das kindgerechte Schreibtool114 im Persön­lichen Assistenten („PA“ genannt) dem Kind freies Schreiben ermöglicht.115

Das Programm ist so facettenreich, dass es sich für alle Kinder gleichermaßen eignet, jedoch für verschiedene Lerntypen und Lernniveaus auf unterschiedliche Weise. Hierzu macht das der Software beiliegende Begleitheft folgende Anga­ben116:

Es gibt zahlreiche Kinder, die schon vor ihrem Eintritt in die Schule lesen und/oder schreiben lernen wollen. LolliPop Multimedia eignet sich insofern für sie, als dass es weder Vorkenntnisse über Schrift voraussetzt, noch trockene Vorkenntnisse vermittelt, sondern die Kinder in das Leben mit Schrift einbezieht und dabei zu individuellen Entdeckungen herausfordert.

Viele Kinder sind auch daran interessiert, parallel zum Lesen- und Schreibenler­nen in der Schule das bereits Gelernte anzuwenden und weiter zu vertiefen, wozu ihnen die Software vielfältige Möglichkeiten bietet.

Andere Kinder meiden das Lesen und Schreiben. Sie haben trotz Unterrichts einfach keine Lust dazu. Wieder andere haben trotz guten Willens nur wenig Erfolg im Unterricht. Für sie eignet sich das Programm, weil es ganz andere, als die schultypischen Anreize bietet. Es erlaubt ihnen Freiheiten, die ihnen neuen Mut machen, ihr lernnotweniges Selbstvertrauen stärken und Neugier wecken. Besonders begabte Schüler, auf die im Unterricht nicht immer eingegangen werden kann, werden in der Regel über kurz oder lang unterfordert und sind deshalb gefährdet, ihr anfängliches Interesse am Lernen zu verlieren. Ihnen ver­schafft LolliPop Multimedia anspruchsvollere Lernanreize. Auch diejenigen, die über den normalen Unterricht hinaus eine besondere Förderung beim

Schreiben- und Lesenlemen benötigen, finden in dem Programm neue spezifi­sche Lemchancen, indem sie auf ihrem persönlichen Leistungsniveau gefördert und gefordert werden und dabei genau auf das jeweilige Problem ausgerichtete Hilfen nutzen können.

Eine besondere Motivation für alle Kinder ist das Internet-Haus : Durch das Verschicken von E-Mails erfahren sie hier u.a., wie sie mit Hilfe von Lesen und Schreiben mit anderen Menschen in Kontakt treten können.

Lesen und Schreiben lernen mit LolliPop Multimedia Deutsch Klasse 1

Durch die bereits angesprochenen Qualitäten, kann eine gute Lernsoftware den Erwerb der Schriftsprache auf einzigartige Weise verbessern helfen. Mit LolliP­op Multimedia, das „als Partner und Lernwerkzeug des Kindes - nicht als Er­satz- oder Nachhilfelehrer“118 gestaltet wurde, können Kinder individuell und autonom Lesen und Schreiben lernen:

In der aus Knetgummi kindgerecht gestalteten 3D-Lernwelt Lolopolis erwarten sie viele Überraschungen. Hier trifft man auf Lolli und Pop119 (s. Abb. 1), zwei sympathische Koboldkinder, die mit guten Ratschlägen weiterhelfen.

[...]


1 Vgl. SCHRÖTER, 1999, 65. (Die genaueren Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Dieses Verfahren gilt für die gesamte Arbeit).

2 BLK, 1987, 12.

3 BLK, 1987, 12.

4 Vgl. KOCHAN, 1996, 134.

5 Vgl. KOCHAN, 1996, 134.

6 SCHRÖTER, 1999, 65.

7 Wie u.a. auch zahlreiche Titel, der für diese Arbeit herangezogenen Literatur zeigen. Vgl. Literaturverzeichnis.

8 Vgl. MITZLAFF, 1996, 23.

9 THOME, 1999, I (Vorwort und Benutzungshinweise).

10 Vgl. KOCHAN, 1993, 58.

11 Vgl. MEIERS, 1998, 33.

12 Vgl. ULRICH, 2001, 68.

13 Vgl. MEIERS, 1998, 33.

14 Sämtliche Grundregeln der deutschen Rechtschreibung haben beispielsweise AUGST/DEHN zusammenge­stellt. Diese sind so umfassend, dass sie hier nicht aufgeführt werden können. Vgl. AUGST/ DEHN, 1998, 89­200.

15 Diese beiden Lager stritten sich darum, ob das Lesen von den Elementen (den Buchstaben und Lauten => synthetisch) oder von der Ganzheit der Wörter (analytisch) her zu unterrichten sei. Vgl. ULRICH, 2001, 64.

16 Vgl. ULRICH, 2001, 64.

17 Vgl. KOCHAN, 1979, 298.

18 Vgl. THOMÉ, 1999, 1.

19 Vgl. BRÜGELMANN/ RICHTER, 1994, 11.

20 Teilweise überarbeitet: BRÜGELMANN/ BRINKMANN, 1994; DEHN, 1983; SPITTA, 1994; VALTIN, 2000; u.a.

21 Vgl. BRÜGELMANN/ RICHTER, 1994, 21.

22 Vgl. VALTIN, 2000, 21.

23 SCHRÖTER, 2002, 119.

24 Vgl. KOCHAN, 1999, 45.

25 Vgl. BRÜGELMANN/ BRINKMANN, 1998, 53.

26 Vgl. SPITTA, 1994, 71.

27 VALTIN, 1991, 44-47.

28 VALTIN, 2000, 17-21.

29 Vgl. BRÜGELMANN/ RICHTER, 1994, 44-47.

30 Genaueres dazu siehe BRÜGELMANN/ BRINKMANN, 1994, 47-52.

31 BRÜGELMANN, 1994, 24.

32 Siehe Anhang, I.

33 Vgl. ULRICH, 2001, 124.

34 Siehe Anhang, III.

35 REICHEN, 2003, 84.

36 REICHEN, 2003, 84.

37 Vgl. REICHEN, 2003, 84.

38 REICHEN, 2001, 18f.

39 Es sei daher u. a. auf folgende Literatur verwiesen: BRÜGELMANN, 1997; REICHEN, 2001; SPITTA, 1994.

40 Vgl. BRÜGELMANN/ DRECOLL, 1994, 55.

41 Sie besagen i.w.S., dass die Lernprozesse der Kinder gefördert werden können, indem man ihnen Raum zum Entdecken und Ausprobieren der orthographischen Prinzipien gibt. (Vgl. VALTIN, 2000, 22.).

42 STEINIG/ HUNEKE, 2002, 97.

43 Vgl. BRÜGELMANN/ BRINKMANN, 1998, 55.

44 Vgl. BRÜGELMANN, 1997, 175.

45 Vgl. BRÜGELMANN/ DRECOLL, 1994, 55.

46 BRÜGELMANN, 1997, 174.

47 VALTIN, 1998b, 66.

48 REICHEN verbietet Leseübungen und das Einführen einzelner Buchstaben sogar regelrecht; vgl. REICHEN, 2003, 85.

49 Vgl. SCHEERER-NEUMANN, 1995, 13ff.

50 Vgl. VALTIN, 1998a, 77f.

51 Vgl. KOCHAN, 1999, 41.

52 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 72.

53 Vgl. KOCHAN, 1993, 59.

54 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 73 und BRÜGELMANN/ RICHTER, 1994, 62-77.

55 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 73.

56 Siehe Anhang, IV.

57 KOCHAN, 1993, 61.

58 Vgl. KOCHAN, 1993, 59-62.

59 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 73f und KOCHAN, 1999, 42.

60 Vgl. KOCHAN, 1996, 139.

61 Vgl. KOCHAN u. a., 1994, 28f.

62 Im Sinne des mehrmaligen Abschreibens falsch geschriebener Wörter, was - nach eigenen Erfahrungen - noch immer von vielen Lehrkräften praktiziert wird.

63 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 75f.

64 Vgl. KOCHAN, 1996, 144.

65 Vgl. KOCHAN, 1999, 42.

66 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 74f.

67 Vgl. KOCHAN, 1999, 41f.

68 Vgl. KOCHAN, 1996, 142f.

69 Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung, 2003, 9-18.

70 Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung, 2003, 9.

71 Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung, 2003, 13.

72 Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung, 2003, 18.

73 Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung, 2003, 18.

74 Vgl. KOCHAN, 1996, 135.

75 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 71.

76 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 72.

77 " Vgl. KOCHAN, 1999, 43.

78 Vgl. KOCHAN/HERZ, 1988, 26.

79 Vgl. KOCHAN, 1999, 58.

80 Was jedoch auch häufig ein Problem darstellt. Vgl. Kap. 4.3.I.2.

81 Vgl. KOCHAN, 1999, 43f.

82 Vgl. KOCHAN, 1999, 44.

83 Vgl. KOCHAN, 1998, 228f.

84 Vgl. LolliPop Lehrerhandreichung, 2001, 14.

85 Vgl. KOCHAN, 1999, 46.

86 Vgl. KOCHAN, 1996, 147.

87 Vgl. KOCHAN, 199Q, 46.

88 Vgl. KOCHAN, 199Q, 47.

89 Vgl. KOCHAN, 199Q, 47.

90 Vgl. KOCHAN, 1998, 234.

91 Vgl. KOCHAN, 1998, 234f.

92 Vgl. KOCHAN u. a., 1994, 29.

93 Vgl. KOCHAN u. a., 1994, 29.

94 Vgl. KOCHAN/ HERZ, 1988, 25.

95 KOCHAN/ HERZ, 1988, 26.

96 Vgl. SCHRÖTER, 1997, 81f.

97 KOCHAN/ HERZ, 1988, 25f.

98 Vgl. KOCHAN, 199Q, 52.

99 Vgl. KOCHAN u. a., 1994, 28.

100 Vgl. KOCHAN, 1999, 52f.

101 Vgl. KOCHAN, 1998, 235.

102 multimedial: „Angebote, die auf unterschiedliche Speicher- und Präsentationstechnologien verteilt sind, aber integriert präsentiert werden, z.B. auf einer einzigen Benutzerplattform.“ (WEIDENMANN, 1997, 67).

103 auditive Elemente: Sprache, Musik, Töne, Geräusche.

104 visuelle Elemente: Bewegtbilder, Standbilder, Schriftzeichen, Symbole.

105 Vgl. KANDLER, 2002, 59f.

106 Vgl. ARENHÖVEL, 1997, 41.

107 Vgl. SCHRÖTER, 2002, 117.

108 LolliPop Begleitheft, 24.

109 SCHRÖTER/ KOCHAN, 2001, 22.

110 Vgl. KANDLER, 2002, 13.

111 Vgl. LolliPop Begleitheft, 24.

112 Vgl. SCHRÖTER, 2002, 116.

113 Vgl. Cornelsen Lernsoftware-Katalog, 1999, 36.

114 Vgl. Kap. 4.3.1.2.

115 Vgl. SCHRÖTER, 2002, 115f.

116 Vgl. LolliPop Begleitheft, 2000, 25f.

Ende der Leseprobe aus 246 Seiten

Details

Titel
Schreiben lernen. Methoden des Schriftspracherwerbs im Vergleich
Autoren
Jahr
2013
Seiten
246
Katalognummer
V263209
ISBN (eBook)
9783656518983
ISBN (Buch)
9783956870910
Dateigröße
5227 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
schreiben, methoden, schriftspracherwerbs, vergleich
Arbeit zitieren
Beate Womelsdorf (Autor:in)Julia Becker (Autor:in)Ariane Wolfram (Autor:in), 2013, Schreiben lernen. Methoden des Schriftspracherwerbs im Vergleich, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263209

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