Dezentralisierte Demokratie als Alternative zur parlamentarischen Demokratie der BRD?

Die Idee einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption zur Verwirklichung einer sozialistischen Demokratiealternative


Essay, 2012

12 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Einleitung

Die gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise, die seit über vier Jahren regelmäßig die Titelseiten unserer Zeitungen füllt, verdeutlicht aufs Neue, dass das gegenwärtige kapitalistische Wirtschaftssystem nicht zur Lösung sozialer, ökologischer und ökonomischer Probleme beitragen kann, sondern die Quelle all jener Probleme ist. Grund genug, über grundsätzliche, gesellschaftliche Veränderungen nachzudenken – über eine Systemalternative.

Dieses Review-Essay setzt sich mit einer modernen Sozialismuskonzeption auseinander, die Dr. Manfred Sohn in seinem Buch Der Dritte Anlauf (erschienen 2012 im Verlag Papy Rossa) beschreibt.

Dr. Sohn stellt in kritischer Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Pariser Commune - dem ersten Anlauf zu einer sozialistischen Gesellschaft - und denen der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten als zweitem Anlauf eine neue sozialistische Gesellschaftskonzeption vor, die sich kommunal und dezentral organisiert und sich durch einen hohen Grad an demokratischer Partizipation insbesondere in wirtschaftlichen Bereichen auszeichnet.

Aus der Analyse des Scheiterns der ersten beiden Anläufe zieht Dr. Sohn Schlussfolgerungen für einen erneuten Anlauf. Der autoritäre und stark zentralisierte Sowjetbolschewismus ist seiner Meinung nach eine Folge aus der Niederschlagung der Pariser Commune, ist aber gerade wegen seiner extrem autoritären und zentralisierten Strukturen selbst zum Scheitern verurteilt gewesen. Deshalb setzt Sohn wieder beim Ansatz der Pariser Commune an und stellt die Kommune/Gemeinde und ihre Entscheidungsgremien in den Vordergrund seiner Überlegungen, da diese die größtmögliche Basis für Mechanismen direkter Demokratie und Wirtschaftsdemokratie liefern. Er vergleicht die deutsche Kommunalverfassung und die institutionellen Strukturen der Pariser Commune und macht deutlich, wo in unserer Kommunalverfassung demokratische und finanzielle Defizite bestehen.

Er bezieht die Debatten um regionalisierte Wirtschaftskreisläufe, denen er eine große Bedeutung in seiner Konzeption eines dezentralisierten Sozialismus einräumt, mit ein.

Ein weiteres Augenmerk legt der Autor auf die Rolle der Frau bei den gesellschaftlichen Transformationsprozessen der Pariser Commune und der Oktoberrevolution und überlegt, in wiefern diese auch in einem erneuten Systemwechsel zum Tragen kommen könnte. Diesen Aspekt werde ich jedoch in meinen Review-Essay ausklammern.

Ziel dieses Review-Essays ist es, die von Sohn skizzierte Gesellschaftskonzeption zu beschreiben, die besonderen Elemente hervorheben und sie mit der parlamentarischen Demokratie der BRD als Form einer kapitalistischen Demokratie zu vergleichen. Im Zentrum steht die Frage, ob und inwiefern der skizzierte Transformationsprozess, der eine – in Hinblick auf Dezentralisierung, direkte Demokratie und Wirtschaftsdemokratie - demokratischere Gesellschaft zu Ziel hat, eine realisierbare Alternative darstellt.

„Der Dritte Anlauf – Alle Macht den Räten“ - eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie der BRD?

I. Der „Dritte Anlauf“ im Kontext von Pariser Commune und Staatssozialismus

Bevor ich untersuche, worin die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Sohns Konzeption und dem Realzustand im Detail bestehen, möchte ich mich kurz einem historischen Exkurs widmen. Wie schon in der Einleitung beschrieben, setzt sich Sohns Sozialismuskonzeption mit den Erfahrungen der Pariser Commune zwischen dem 18. März und 28. Mai 1871 und dem Staatssozialismus zwischen 1917 und 1989 auseinander.

Die Pariser Kommune – ein Kind des deutsch-französischen Krieges - war der Versuch des revolutionären Pariser Stadtrats gegen dem Willen der Zentralregierung Paris nach sozialistischen Vorstellungen umzugestalten. Sohn bezeichnet sie zu Recht als den ersten Anlauf zum Sozialismus und bezieht sich hierbei auf Engels, der sie 20 Jahre später als Beispiel für die Verwirklichung der Diktatur des Proletariats heranzog (Sohn 2012: 25). In der Zeit der Pariser Autonomie wurde eine Reihe von ökonomischen und sozialen Maßnahmen umgesetzt, die vor allem den benachteiligten Bevölkerungsschichten von Paris zu Gute kamen.[1] Zudem ermöglichte die Direktwahl aller Funktionsträger der Gemeinde, die Verantwortlichkeit gegenüber dem Urwahlkörper und die daraus resultierende permanente Möglichkeit der Abwählbarkeit eine hohe Qualität an direkter Demokratie (Sohn 2012: 28). Der erste Anlauf zum Sozialismus war jedoch nur von kurzer Dauer und existierte lediglich 72 Tage. In der sog. blutigen Maiwoche (21. bis 28. Mai) gelang es Regierungstruppen in Paris einzufallen und die militärisch eindeutig unterlegenden Kommunarden niederzuschlagen. Infolge der Straßenkämpfe und der anschließenden Massenexekutionen kamen bis zu 30.000 Menschen ums Leben. Die Pariser Commune war gescheitert.

Die logische Schlussfolgerung aus der Verarbeitung dieses historischen Momentes mündete in der Konstruierung der Antithese. Wenn – wie Engels schrieb – der schwerste politische Fehler darin bestand, dass „man vor der Toren der Bank von Frankreich ehrerbietig stehenblieb“ (MEW Band 17: 662), heißt das im Umkehrschluss, dass der fehlende Zentralismus bei der Verteidigung und dem Ausbau der sozialen und ökonomischen Errungenschaften durch ein Netz autonomer Kommunen über ganz Frankreich Grund für das Scheitern der Commune war. Zu dieser Einschätzung kamen auch die Bolschewiki, allen voran Lenin. Wenn die dezentralen Strukturen bei der militärischen Verteidigung und der Verbreitung der Revolution Schuld am Scheitern der Pariser Commune gewesen seien, so schlussfolgerten die Bolschewiki, könne nur ein straffer Zentralismus die sozialistische Revolution gegen die „contra-revolutionären Bestrebungen der Bourgeoisie“ verteidigen. Die weitere Entwicklung ist bekannt: Der Zentralismus Lenins beschränkte sich bekanntlich nicht nur auf das militärische Agieren, sondern wurde auf das sämtliche politische und ökonomische Bereiche ausgeweitet. So entstand der sog. demokratische Zentralismus auf der politischen Ebene, der den uneingeschränkten Führungsanspruch der marxistischen-leninistischen Partei bzw. der Parteiführung vorschreibt, dessen demokratisches Element zunehmend zu einer leblosen Hülle degradiert wurde. Im Bereich der Ökonomie entstand die sog. Zentralverwaltungswirtschaft, die individuelle Gestaltungsräume für die Betriebe vor Ort kaum zuließ und sich zwangsläufig zu einer Mangelwirtschaft entwickeln musste. Die aus den Fehlern der Pariser Commune gezogenen Lehren der Bolschewiki zerschlugen nicht nur sämtliche dezentrale Strukturen, sondern auch sämtliche Selbstbestimmungsrechte und mündeten letztlich im Totalitarismus mit all seinen menschenverachtenden Eigenschaften. Das Scheitern des zweiten Anlaufes war somit vorprogrammiert und politisch berechtigt.

[...]


[1] Dazu zählen unter Anderem die Begrenzung der Nachtarbeit, die Trennung von Staat und Kirche, den Erlass von Mietrückständen, die Versorgung von Witwen, Weisen und Familien gefallener Kommunarden, die Einrichtung von Schulen, die Übergabe von herrenlosen Fabriken an Arbeitergenossenschaften, die Angleichung von Beamten- und Arbeitergehältern, die Einführung von Höchstpreisen für Grundnahrungsmittel und die Angleichung der Löhne von Männern und Frauen (Sohn 2012: 26).

Ende der Leseprobe aus 12 Seiten

Details

Titel
Dezentralisierte Demokratie als Alternative zur parlamentarischen Demokratie der BRD?
Untertitel
Die Idee einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftskonzeption zur Verwirklichung einer sozialistischen Demokratiealternative
Hochschule
Universität Osnabrück
Note
1,3
Autor
Jahr
2012
Seiten
12
Katalognummer
V263263
ISBN (eBook)
9783656520283
ISBN (Buch)
9783656524076
Dateigröße
440 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Ein Review-Essay über das Buch „Der Dritte Anlauf – Alle Macht den Räten“ von Dr. Manfred Sohn, Papy Rossa Verlag, 2012
Schlagworte
dezentralisierte, demokratie, alternative, idee, wirtschafts-, gesellschaftskonzeption, verwirklichung, demokratiealternative
Arbeit zitieren
B.A. Karsten Stöber (Autor:in), 2012, Dezentralisierte Demokratie als Alternative zur parlamentarischen Demokratie der BRD?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263263

Kommentare

  • M.A. Karsten Stöber am 17.10.2013

    Dieses Essay basiert auf dem lesenswerten Buch "Der dritte Anlauf" von Dr. Manfred Sohn. Neben einer Analyse des Scheiterns vom ersten (Pariser Commune) und zweiten (1917-1989) Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren, werden interessante Parallelen zur heutigen Finanzierungsnot unserer Kommunen und der Bedeutung dieser für unsere Demokratie aufgezeigt.

Blick ins Buch
Titel: Dezentralisierte Demokratie als Alternative zur parlamentarischen Demokratie der BRD?



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