Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1) Einleitung
2) Forschungsstand / Literaturübersicht
3) Konzeptualisierung
3.1) Forschungsfrage und –hypothese
3.2) Methodologie
4) Kritischer Blick
5) Konklusion
1.) Einleitung
Es steht außer Frage, dass die Mehrheit der afrikanischen Staaten auch im neuen Jahrtausend instabile Staatsstrukturen aufweist. Nach der Unabhängigkeit sind viele dieser Staaten in Bürgerkriege verfallen, einige fanden eine gewisse Stabilität erst in autoritären Regimen mit zweifelhaften Staatsoberhäuptern. Einen Höhepunkt der Gewalt stellt sicherlich der Völkermord in Ruanda von 1994 dar. Je nach Schätzung wird von bis zu 800.000 Opfern dieses Genozides gesprochen. Dem schrecklichen Ereignis waren Jahrzehnte der Militärdiktatur durch Ex-Verteidigungsminister Juvénal Habyarimana vorausgegangen. Im Angesicht solcher Eliten stellte Jean-Pierre Bekolo, einer der bekanntesten afrikanischen Filmregisseure, in einem Interview kürzlich die Forderung auf, „que les blancs reviennent à l’Afrique“ (Dialo, Claire (2011): Que les blancs reviennent à l’Afrique, in: Slate Afrique). Diese Forderung möchte die die vorliegende Arbeit jedoch nicht weiter aufgreifen; der Autor vertritt vielmehr die Ansicht, dass es noch andere Wege der Konfliktlösung als jenen der Re-Kolonialisierung geben muss.
Ruanda ist schließlich wie nur wenige andere afrikanische Länder gleichfalls ein interessanter Fall im Umgang mit indigenen afrikanischen Traditionen. Sogenannte „Gacaca-Courts“ („Gacaca“ kann aus der ruandischen Nationalsprache Kinyarwandain etwa mit „Graswurzeln“ übersetzt werden) wurden im Anschluss an den Völkermord von Ruanda eingesetzt, um aufzuklären und Täter und Opfer in der Bevölkerung wieder zu versöhnen. Viele wissenschaftliche Arbeiten haben seither die Rolle der Gacaca-Courts als Vorbild für andere afrikanische Staaten angepriesen. Doch die vorliegende Arbeit wagt einen grundsätzlichen, kritischen Gedanken: was, wenn „Gacaca“ keine afrikanische Tradition ist? Eric Hobsbawm und Terence Ranger haben bereits vor einigen Jahrzehnten gewachsene, ursprüngliche Traditionen von jenen unterschieden, welche unter kolonialem Einfluss entstanden sind (Hobsbawm/Ranger 1983). Das Ergebnis zahlreicher Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte lässt sich mit den Erkenntnissen vergleichen, welche Peter Geschiere in seinem Journalbeitrag „Chiefs and colonial rule in Cameroon: Inventing Chieftaincy, French and British Style“ (1993) beschreibt. Zu den von der Kolonialmacht eingesetzten Chiefs bemerkt Geschiere: „The chiefs and their descendants played only a minor role in this elite“ (Geschiere 1993:156f.). Denn: „To them [the people] the chiefs remained the ruthless executors of highly unpopular government measures” (ibid). Um es mit einem Satz auszudrücken: “invented tradition” trifft in der Bevölkerung häufig auf deutlich weniger Akzeptanz, wenn nicht gar Abweisung.
Dieses Research Design möchte nun dazu anregen, die Gacaca-Courts einmal kritisch zu beleuchten. Denn unzweifelhaft lag die Entstehung von Gacaca-Courts im Interesse der ruandischen Regierung. Doch wie weit ging der staatliche Einfluss? Macht es Sinn, von einer „invented tradition“ zu sprechen? Was würde das für die Akzeptanz der Gacaca-Courts durch die ruandische Bevölkerung bedeuten? Ist gar ein Legitimitätsverlust zu befürchten? Besonders die Beantwortung der letzten Frage würde schließlich einen wertvollen Beitrag zu der folgenden, äußerst populären Diskussion liefern: lässt sich der Konfliktlösungsmechanismus der Gacaca-Courts auch auf andere afrikanische Länder anwenden?
2.) Literature Review
Die Literatur zum Völkermord in Ruanda und auch zu den Gacaca-Courts im Speziellen ist sehr umfassend. Dies ist nicht sehr überraschend: nachdem die Regierung die Gacaca-Gerichte nicht nur billigend, sondern auch tatkräftig und fordernd unterstützte, hat die Re-Institutionalisierung der Gerichte große mediale Aufmerksamkeit erfahren. Für die (Politik-)Wissenschaft sind die Gerichte ein spannendes Beispiel der Einbindung indigener Traditionen in das moderne afrikanische Staatswesen. Im Allgemeinen can be stated, dass die Mehrheit dieser Literatur jedoch entweder die verschiedenen Vor- und Nachteile der Gacaca-Gerichte evaluiert oder sich auf eine Beschreibung des Ablaufs der Verfahren reduziert. Die im Folgenden genannte Literatur bildet hier keine Ausnahme. Meistens erscheinen lediglich kurze Textabschnitte für die vorgeschlagene Forschungsarbeit relevant. Die folgende Literatur wurde trotzdem ausgewählt, um zum einen die verschiedenen Positionen und Meinungen in der Debatte exemplarisch wieder zu geben. Die ausgetauschten Argumente erscheinen hier insbesondere mit Blick auf den ersten Teil der später näher erläuterten Forschungsfrage relevant. Zum anderen bietet sich die vorgestellte Literatur gut als Einführung zur Recherche für die vorgeschlagene Forschungsarbeit an. Drittens wird hierfür im Folgenden eine qualitative Analyse vorgeschlagen, die Literatur mag jedoch zudem Ansätze liefern, den zweiten Teil der Forschungsfrage mit quantitativen Methoden zu erheben.
Als Einführung in die Thematik bietet sich zunächst Bert Ingelaere an. In seinem 2008 erschienenen Buchkapitel „The Gacaca Courts in Rwanda“ des Buches „Traditional Justice and Reconciliation After Violent Conflict – Learning from African Experiences” by Luc Huyse and Marc Salter geht Ingelaere anfangs ausführlich auf den Konflikt in Ruanda ein: er beschreibt Hergang, Ablauf sowie die Situation nach dem ruandischen Genozid. Für die in diesem Rahmen vorgeschlagene Forschungsarbeit mag allerdings vor allem seine Analyse der Gacaca-Gerichte vor und nach dem Genozid relevant sein. So fällt er über die derzeitigen Gerichte ein klares Urteil: „The „new“ Gacaca courts are in the truest sense an ‚invented tradition‘“ (Ingelaere 2008:32). Eine Evaluation der Vor- und Nachteile von Gacaca-Gerichten schließt das Kapitel ab.
Auch Jeremy Sarkin kommt zu einem kritischen Schluss über die Gacaca-Gerichte. In seinem Beitrag „The tension between justice and reconciliation in Rwanda: politics, human rights, due process and the role of the Gacaca Courts in dealing with the genocide” (2001) zum “Journal of African Law” beurteilt Sarkin das Potenzial der Gacaca-Courts sowie des formellen ruandischen Justizsystems, zur Aufarbeitung des Genozides beizutragen. In diesem Zuge stellt er einen Einfluss der Regierung auf die Zielsetzung der Gacaca-Courts und somit eine gewisse Instrumentalisierung fest (Sarkin 2011:159). In seiner Konklusion bringt er seine Sorge um mögliche negative Konsequenzen zum Ausdruck: „The government should not change the nature of gacaca by making them play a role they have not traditionally played. Using them in the way envisaged by the new legislation (…) will most probably undermine any role they are able to play in the future” (Sarkin 2011:170).
Der Journalbeitrag von Peter Uvin und Charles Mironko „Western and Local Approaches to Justice in Rwanda“ (2003) zum Journal „Global Governance“ erscheint gleich auf zweierlei Weise relevant: zum einen beschreibt der Beitrag einen guten, kurzen Überblick über die Verfahren und den Ablauf eines Gacaca-Gerichts. Zum anderen vergleicht er neben der Effizienz auch die Legitimität der verschiedenen Verfahren (ICTR, state courts, Gacaca courts) zur Aufarbeitung des Genozids in Ruanda. Im Ergebnis plädieren die Autoren für „Gacaca“: „Perhaps the strongest element in favor of gacaca is the lack of an alternative. Neither the ICTR nor the formal justice system seems capable of providing the basis for justice (…) in Rwanda” (Uvin/Mironko 2003:227). Dieses Plädoyer wird durch die empirischen Ergebnisse ihrer Studie untermauert: 95% der Bevölkerung seien bereit, in Gacaca-Courts zu partizipieren.
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