Entfremdung und Gattungswesen bei Marx (1843-1845)


Magisterarbeit, 2012

192 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Zu dieser Ausarbeitung
1.1 Meine Fragestellung
1.2 Zur Struktur dieses Textes
1.3 Zur Form meiner Darstellung

2 Entfremdung als undialektischer Epochenbruch
2.1 Isabel Monal: Verlust und Wiedererlangung des Gattungswesens
2.2 Michael Heinrich und Stefan Grigat: Überwindung von Wesensphilosophie und Entfremdungsbegriff
2.2.1 Marx' Anthropologie: Gattungswesen konstituiert sich als entfremdetes
2.2.2 Bruch im Marxschen Werk
2.2.3 István Mészáros' gegenteilige Auffassung: Kontinuität des Marxschen Werks
2.2.4 Heinrichs Anthropologismus-Vorwurf
2.2.5 Mészáros' Interpretation der Marxschen Anthropologie
2.2.6 Heinrichs Individualismus-Vorwurf an den jungen Marx

3 Historische Entfaltung des Gesellschaftlichen als Dialektik von Gattungswesen und seiner Entfremdung
3.1 Ursprünglichkeit wird abgewiesen
3.2 Dialektik von Entfremdung und Gattungswesen
3.2.1 KHS: Staat als formelle Allgemeinheit tritt der Gesellschaft als fremde Macht gegenüber
3.2.2 Judenfrage: Drei Sphären der Entfremdung – Religion, Staat und Ökonomie
3.2.3 KHR: Religionskritik führt zu Entfremdungs- und Partikularitätskritik..
3.2.4 Ms 44 (I): Die Menschen produzieren gesellschaftlich ihr Gattungswesen
3.2.5 Ms 44 (II): Je mehr Gattungswesen, desto mehr Entfremdung
3.2.6 Ms 44 (II-a): Trennung von Arbeit und Kapital
3.2.7 Ms 44 (II-b): Privateigentum als entfremdetes Gattungswesen
3.2.8 Ms 44 (II-c): Teilung der Arbeit als entfremdete Gattungstätigkeit
3.2.9 Ms 44 (II-d): Kapital als tote Arbeit und fremde Mac
3.2.10 Ms 44 (II-e): Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation.
3.2.11 Ms 44 (II-f): Geld als entfremdetes Gattungswesen und Verkehru
3.2.12 Ms 44 (II-g): Unglück der Gesellschaft als Zweck der Nationalökonomi
3.2.13 Ms 44 (III): Gattungswesen ist noch nicht, sondern wird erst..
3.3 Vierfacher Entfremdungsbegriff der Arbeit
3.4 Historizität der Wesensbegrifflichkeit
3.4.1 KHS: Menschliches Wesen ist sozial, historisch und praktisch..
3.4.2 Judenfrage: Flimmernde Wesensbestimmungen
3.4.3 Ms 44: Arbeit, Industrie und Naturwissenschaft als Produzenten des menschlichen Wese
3.4.4 ThF: Historisches und gesellschaftliches Wesen des Menschen
3.5 Rückkehr aus der Entfremdung und Wiederaneignung des Entfremdeten.
3.6 Zu den Anhängen 6 b
3.6.1 Gattungswesen und Gesellscha
3.6.2 Dialektik von Individuum und Gesellscha
3.6.3 Wirklich menschliches Wese
3.6.4 Feuerbach-Kritikfigur: Verkehrung muss real-praktisch sein
3.6.5 Erste und zweite Natur

4 Resüme
4.1 Entfremdung und Gattungswesen entfalten sich in dialektischer Einhe
4.2 Marx provoziert vereinzelt das Fehlverständnis eines Epochenbruchs in seinem Entfremdungsbegri
4.3 Alternative Interpretationen, die das Fehlverständnis umgehe
4.4 Praktische Revolutionierung der Verhältnisse als leitendes Interesse der Begriffe von Entfremdung und Gattungswes

Anhänge
Zur Vorgehensweise.
Verzeichnis der Anhangszitate (A1 - A256)
Anhang 1 Ursprünglichkeit wird abgewiesen (A1 – A
Anhang 1.1 KHR (A1)
Anhang 1.2 Ms 44 (A2 – A9)
Anhang 2 Dialektik von Entfremdung und Gattungswesen, Einheit von Trennung und Einheit (A10 – A779)
Anhang 2.1 KHS (A10 – A25)
Anhang 2.2 Judenfrage (A26 – A41)
Anhang 2.3 KHR (A42/A4
Anhang 2.4 Ms 44 (A44 – A79)
Anhang 3 Vier Dimensionen der Entfremdung (A80 – A93)
Anhang 3.1 Judenfrage (A80 – A82)
Anhang 3.2 Ms 44 (A83 – A93)
Anhang 4 Immanenter Wandel in Wesensbegriffen durch Betonung der Historizität ihres Zusammenhangs (A94 – A113)
Anhang 4.1 KHS (A94 – A97)
Anhang 4.2 Judenfrage (A98 – A102)
Anhang 4.3 Ms 44 (A103 – A112)
Anhang 4.4 ThF (A113).
Anhang 5 „Rückkehr“ zu nicht-entfremdeter Gesellschaftlichkeit (A114 – 120)
Anhang 5.1 KHR (A114)
Anhang 5.2 Ms 44 (A115 – A120)
Anhang 6 Gattungswesen = Gesellschaft (A121 – A136)
Anhang 6.1 Judenfrage (A121 – A124)
Anhang 6.2 Ms 44 (A125 – A134
Anhang 6.3 ThF (A135/A136)
Anhang 7 Menschliches Wesen und Gattungswesen, Dialektik von Individuum und Gesellschaft (A137 – A16
Anhang 7.1 KHS (A137 – A148)
Anhang 7.2 Judenfrage (A149 – A152)
Anhang 7.3 Ms 44 (A153 – A166)
Anhang 7.4 ThF (A167 – A169)
Anhang 8 Wirklich menschliches Wesen (A170 – A211)
Anhang 8.1 KHS (A170 – A172)
Anhang 8.2 Judenfrage (A173 – A182)
Anhang 8.3 KHR (A183 – A188)
Anhang 8.4 Ms 44 (A189 – A209)
Anhang 8.5 ThF (A210/A211)
Anhang 9 Kontinuität der Feuerbach-Kritikfigur – Verkehrung muss real sein (A212 – A239)
Anhang 9.1 KHS (A212)
Anhang 9.2 Judenfrage (A213 – A222)
Anhang 9.3 KHR (A223 – A225)
Anhang 9.4 Ms 44 (A226 – A237)
Anhang 9.5 ThF (A238/A239)
Anhang 10 Erste Natur und zweite Natur (A240 – A256)
Anhang 10.1 KHS (A240)
Anhang 10.2 Judenfrage (A241/A242)
Anhang 10.3 Ms 44 (A243 – A256)

Siglen- und Literaturverzeichnis
1. Schriften von Marx
Quellen
Sigl
2. Schriften anderer Autore
3. Websites

Erklärung des Studierenden – „Der Anti-Gutti

1 Zu dieser Ausarbeitung

1.1 Meine Fragestellung

Wiederholt ist mir in Diskussionen innerhalb und außerhalb des akademischen Rahmens aufgefallen, dass dem Begriff der Entfremdung eine gewisse historisierend-anthropologische Deutung fast zwanghaft untergeschoben wird, wonach er zu einem früheren historischen Zustand eine ähnliche Stellung einnimmt wie der biblische Sündenfall zum Paradies: Er scheint auf einen authentischen, vollständigen, glücklichen, problemlosen, gar natürlichen[1] Zustand der menschlichen Geschichte zu rekurrieren, von dem er die Menschen gleichwohl als radikaler Bruch trennt. Dies mag angesichts der vielfältigen Diskussionen, in denen der Entfremdungsbegriff in verschiedenen akademischen Disziplinen, politischen Kontexten und sogar in der Alltagssprache Verwendung findet, nicht weiter verwundern.[2] Wo es aber in inner- und außerakademischen Debatten um die Erarbeitung eines streng terminologischen Gehalts des Begriffs im Sinne derjenigen Verwendung geht, die Marx von ihm in bestimmten Texten macht, irritiert mich dieser häufig beobachtete Gebrauch des Entfremdungsbegriffs, der eine Verfallsgeschichte der Menschen von einem nicht-entfremdeten Zustand zu einem vielseitiger Entfremdung impliziert. So fragten etwa auch in einem Seminar an der Universität Bremen zu den Marxschen Frühschriften im Wintersemester 2010/2011, das den Anstoß zu dieser Ausarbeitung gab, die Referentinnen des Abschnitts zur entfremdeten Arbeit in Ms 44 sich und das Auditorium sinngemäß, ob es schon einmal ein Gattungswesen gegeben habe, das als nicht-entfremdet vorstellbar sei. Da es sich m. E. bei solchen Vorstellungen, die dem Marxschen Entfremdungsbegriff die Bedeutung einer Zeitenwende unterschieben, welche eine un-entfremdete Epoche von einer entfremdeten scheidet, um ein Fehlverständnis handelt, das sich gleichwohl hartnäckig hält und regelmäßig wiederkehrt, habe ich mir in dieser Ausarbeitung vorgenommen, die Marxsche Verwendung des Entfremdungsbegriffs insbesondere in den diesen Begriff zentral herausarbeitenden Ms 44 sowie vier anderen wichtigen Texten der Jahre 1843-1845 ( KHS, Judenfrage, KHR und ThF ) daraufhin systematisch zu überprüfen,

- ob mein Urteil, dass es sich bei der Vorstellung eines durch den Entfremdungsbegriff gesetzten Epochenbruchs um ein Fehlverständnis handelt, absolut oder wenigstens in der großen Tendenz haltbar ist,
- ob Marx eine solche Fehldeutung dennoch nahelegt bzw. ob er zumindest teilweise Aussagen formuliert, die eine solche Interpretation stimmig erscheinen lassen – womit zumindest verständlicher wäre, warum diese Interpretation so häufig begegnet –, und
- ob gegebenenfalls solche, die Fehlinterpretation stützenden Aussagen auch konträr zum Verständnis der Fehlinterpretierenden ausgelegt werden können oder ob es sich eher um eine Bedeutungsambivalenz bei Marx handelt, die es schwierig macht, eindeutig von einer fehlerhaften Interpretation zu sprechen.

Bei dieser Überprüfung wird es selbstverständlich unumgänglich sein, einen möglichst exakten Begriff des Entfremdungsbegriffs bei Marx zu erarbeiten, der von ihm vor allem in den Ms 44 programmatisch entwickelt wird, insgesamt in seinen Schriften in den Jahren 1843 und 1844 eine zentrale Rolle spielt, aber auch in seinem späteren Werk nicht fallen gelassen oder in grundsätzlich anderer Bedeutung verwendet wird.[3] Zur Bestimmung des Entfremdungsbegriffs werden nationalökonomische Kategorien, wie insbesondere die Begriffe Arbeit und Privateigentum, von zentraler Bedeutung sein. In den betrachteten Texten von Marx geht der Entfremdungsbegriff allerdings auch vielfältige Beziehungen mit dem zwischen anthropologischem, soziologischem und reflexiv-philosophischem Bedeutungsgehalt schillernd changierenden Begriff des Gattungswesens ein, einem „der Schlüsselbegriffe des jungen Marx“ (Monal 1999: 1248), der entsprechend in einer Analyse des Entfremdungsbegriffs eine herausragende Rolle erhält. Zudem lässt sich die Argumentationsfigur, die dem Entfremdungsbegriff zugrunde liegt, auch an anderen Marxschen Begriffen der frühen Schriften festmachen, etwa an denen der Trennung, des Gegensatzes, der Veräußerung und Verselbständigung etc.

Die eben genannten Fragestellungen ergaben sich für mich aus meiner grundlegenden Überzeugung, dass Marx' Entfremdungsbegriff als kritische Reflexionsfigur der Mängel einer Fortschrittlichkeit insbesondere der bürgerlichen Vergesellschaftungsformen diese Fortschrittlichkeit[4] zugleich als unhintergehbaren historischen Horizont gesetzt vorfindet, an dem er sowohl festhalten wie dessen Beschränkungen kritisch erkennen und praktisch überschreiten möchte. Eine Regression auf Phantasien über nicht-entfremdete Formationen menschlichen Miteinanders ursprünglich herrschaftsfreier menschlicher Gruppierungen liegt gar nicht im Horizont der Marxschen Kritik. Denn die kritische Reflexionsgestalt des Marxschen Entfremdungsbegriffs will solche Erfahrungen in die vernünftige Selbstbesinnung der Menschen einbringen, die sich überhaupt erst im Rahmen eines aufklärerisch-selbstermächtigenden Projekts einer humanen, alle einzelnen Menschen virtuell zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte verherrlichenden Gesellschaftlichkeit formulieren lassen: als Diskrepanz zwischen realen Elends- und Ohnmachtserfahrungen auf dem einen Pol und ideologisch-überemphatischer Selbstbespiegelung bürgerlicher Vergesellschaftung einerseits, historisch offener Möglichkeiten dieser Vergesellschaftung andererseits auf dem anderen Pol eines dialektischen Reflexionszusammenhangs.

„Daher verwickelt sich Marx durch seinen Protest gegen Entfremdung, Privatisierung und Verdinglichung nicht in die Widersprüche der Idealisierung irgendeines »Naturzustands«. In dieser Konzeption findet sich keine Spur eines sentimentalen oder romantischen Heimwehs nach der Natur.“ (Mészáros 1973: 103)

Die Diagnose des reflexiven Marxschen Entfremdungsbegriffs lautet knapp gefasst: Die Selbstermächtigung und -werdung der Menschen in ihrer praktischen Auseinandersetzung mit äußerer und innerer Natur verläuft in Formen von Fremdermächtigung und -werdung: als Aneignung fremder Arbeit, als Klassenherrschaft, als Reifikation der historisch erreichten Vergesellschaftungsformen, als Funktionalisierung der Individuen innerhalb dieser selbstzweckhaften Formen, als theoretische Bespiegelung zur Legitimation dieses Herrschaftszusammenhangs. Die Menschen schaffen sich in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang als ihnen selbst fremde und feindlich gegenüberstehende Macht. Je umfangreicher und vielseitiger die Möglichkeiten des produktiven Umgangs der Menschen mit der Natur werden, desto umfangreicher und vielseitiger können sie sich gegen einander wenden. Die bürgerliche Gesellschaft organisiert die Entwicklung, ja wissenschaftliche Entfesselung der Produktivkräfte in der Form privater Aneignungsverhältnisse, der Isolierung der Menschen gegeneinander qua Privateigentum.

„Das Privateigenthum ergiebt sich also durch Analyse aus dem Begriff der entäusserten Arbeit, d. i. d{es} entäusserten Menschen, der entfremdeten Arbeit, des entfremdeten Lebens, d{es} entfremdeten Menschen.“ ( Ms 44: I.2/372; 40/520)

Das Privateigentum fungiert somit als spezifische historische Form der Aneignung fremder Arbeit. Die Vorstellung eines mit dem Entfremdungsbegriff markierten Epochenbruchs ignoriert nicht bloß naiv den negativen Befund, dass die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft […] die Geschichte von Klassenkämpfen“ (MKP: 4/462) ist, sondern übersieht vor allem den damit vermittelten positiven Befund, dass das, was Marx als Entfaltung des Gattungswesens begreift, nämlich die Selbstermächtigung der Menschen in Theorie und Praxis, aktiv und prozesshaft durch ihre konstruktiven geschichtlichen Taten hervorgebracht wird, keineswegs ursprünglich gegebenes Faktum ist. Als leitende These meiner Untersuchung zur Konstellation der Marxschen Begriffe von Gattungswesen und Entfremdung lässt sich daher formulieren: Gerade die im – sich historisch zunehmend über kooperative Produktivitätsfortschritte ermächtigenden – Gattungswesen der Menschen sich entfaltenden Potentiale zur Befriedigung sich historisch entwickelnder Bedürfnisse finden in gesellschaftlichen Formen statt, die die Individuen von diesen Potentialen zugleich abschneiden. Die Menschen wenden sich als organisierte Gesellschaft, als reflexiv sich zu sich verhaltender Gattung gegen ihren Zusammenhang, gegen einander, gegen sich selbst und gegen die von ihnen erschaffene gegenständliche Welt. Diese Diagnose lässt sich dialektisch ebenso umgekehrt formulieren: Indem sich die Menschen insbesondere qua Privateigentum gegen einander verselbständigen, produzieren sie zugleich gerade ihren Zusammenhang. Als kritischer konstatiert der Marxsche Begriff der Entfremdung, dass sich das Gattungswesen der Menschen als zerrissenes konstituiert und entfaltet.

1.2 Zur Struktur dieses Textes

Dass die Vorstellung, mit der Entfremdung seien die Menschen historisch radikal von etwas getrennt worden, das ihnen essentiell ist und vorher vorhanden war, nicht bloß eine Laienvorstellung ist, sondern sich auch in wissenschaftlichen Diskussionsbeiträgen artikuliert, lässt sich belegen. Einige solcher Belege werden im zweiten Abschnitt dieser Ausarbeitung zusammengetragen und eine genauere Bestimmung davon geben, auf was ich den Marxschen Entfremdungsbegriff überprüfen möchte.

Ein dritter Abschnitt widmet sich dann dicht an den Primärtexten orientiert der detaillierten Überprüfung der drei oben genannten Facetten meiner Fragestellung.

Um einen besseren Überblick über wesentliche inhaltliche Bestimmtheiten des Marxschen Entfremdungsbegriffs zu ermöglichen, habe ich eine systematische Aufbereitung von fünf wichtigen Marxschen Texte aus den Jahren 1843-1845, nämlich KHS, Judenfrage, KHR, Ms 44 und ThF nach zehn inhaltlichen Gesichtspunkten in Anhängen angefertigt. Diese Anhänge geben den Lesern ausführliche Exzerpte der für meine Fragestellungen relevanten Passagen dieser Texte zur Hand. Zudem dienen sie für den dritten Abschnitt als Quellensammlung, die mir eine knappe Zitationsweise ermöglichen.

1.3 Zur Form meiner Darstellung

Marxsche Texte werden in dieser Ausarbeitung allgemein durch Kürzel benannt, die im Siglenverzeichnis aufgeschlüsselt sind, Quellenangaben dieser Primärtexte werden durch Semikolons getrennt sowohl nach der zweiten Marx Engels Gesamtausgabe (MEGA) als auch nach den gebräuchlicheren Marx Engels Werken (MEW) in kurzer Notation ausgewiesen, z. B. ( KHS: I.2./32f; 1/233) für Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie[1843] , MEGA, Abteilung I, Band 2, Seite 32f. bzw. MEW, Band 1, Seite 233. Ausnahmen sind DI, MKP und ThF, die nur nach MEW zitiert werden, weil der entsprechende MEGA-Band noch nicht erschienen ist. Bei Textabweichungen zwischen MEGA und MEW zitiere ich stets die Textversion der MEGA. Ms 44 wird nach der zweiten Wiedergabe in MEGA, I.2./323-438 zitiert.

Normale Anführungszeichen („“) im Originaltext werden von mir allgemein in französische Anführungszeichen (»«) transformiert. Hinzufügungen von mir in Zitaten sind in [eckige Klammern] gesetzt und zur Abgrenzung von meinen Hinzufügungen eckige Klammern im zitierten Text in {geschwungene Klammern} transformiert. Seitenreferenzen auf Originalmanuskripte oder andere Textversionen in MEGA werden genauso wie Fußnotenzahlen in allen zitierten Texten ohne expliziten Hinweis von mir getilgt.

Im driten Abschnitt dieser Ausarbeitung diskutiere ich inhaltliche Aspekte der fünf betrachteten Primärtexte, die mir für meine Fragestellung relevant zu sein scheinen. Ausführliche Belege für diese Diskussion habe ich in Anhänge ausgelagert, die als Exzerpte mehr oder weniger einen Vollständigkeitsanspruch in der Erfassung des jeweils diskutierten Aspekts innerhalb der betrachteten Primärtexte erheben. Ich hoffe, dass ich den Lesern durch diese Verfahrensweise nicht nur meine Argumentation plausibel machen kann, sondern ihnen auch eine Nachschlagequelle für eigene, über meine Argumentation hinausgehende Reflexionen an die Hand gebe. Die Zitatesammlung in den Anhängen ist einerseits nach inhaltlichen Aspekten sortiert, die auch den dritten Abschnitt meiner Ausarbeitung strukturieren, andererseits ist jedem Zitat im Anhang ein eindeutiges Siglum (A1 bis A256) vorangestellt. Diese Siglen nutze ich als Kurzreferenz für Belege in meinem Hauptabschnitt. Ein ausführliches Verzeichnis der Anhangszitate findet sich auf S. 87, das Auffinden des jeweiligen Zitats ist aber auch möglich durch die Anhangsüberschriften, die im regulären Inhaltsverzeichnis wiedergegeben werden und einen Verweis darauf enthalten, welche A-Siglen in dem jeweiligen Anhangsabschnitt zu finden sind.

2 Entfremdung als undialektischer Epochenbruch

2.1 Isabel Monal: Verlust und Wiedererlangung des Gattungswesens

Isabel Monal hält in Bezug auf die Judenfrage fest, dass „Entfremdung für Marx nach wie vor im wesentlichen der Verlust des G[attungswesens] ist, der zur Auflösung der Gemeinschaft führt“ (Monal 1999: 1250) und es bei seinen Revolutionsideen „um die Wiedererlangung des im Entfremdungsprozess verlorenen G[attunswesens]“ (ebd.: 1251) gehe. Von der „Wiedererlangung des G[attungswesens]“ sagt Monal auch, dass dies „im Wesentlichen mit ›Emanzipation‹ gemeint“ sei, welche „durch die Grundsituation der Entfremdung“ notwendig werde (ebd.): In den Ms 44, in denen erst „der in der Judenfrage noch diffus gebliebene Begriff des G[attungswesens] seine klaren Konturen“ (ebd.: 1252) erlange, sei die „Emanzipation […] insofern ein Prozess der Wiedererlangung des G[attungswesens], als Gattungsleben und -charakter sich der entfremdeten Arbeit widersetzen, die im diametralen Gegensatz zur Emanzipation steht.“ (ebd.: 1253) Mithin sei durch die Entfremdung das „Problem der Wiedererlangung und Verwirklichung menschlicher Emanzipation“ (ebd.: 1254) gegeben. Die Entfremdung bezeichnet laut Monal bei Marx also einen Verlust des Gattungswesens, das folglich früher bereits irgendwann vorhanden gewesen zu sein scheint, aktuell aber nicht und daher nun seiner Wiedererlangung harre, die zugleich eine Wiedererlangung und Verwirklichung der Emanzipation sei. Auch die Emanzipation scheint also bereits irgendwann in der Vergangenheit verwirklicht gewesen zu sein und bloß durch die Entfremdung ihre Wirklichkeit aktuell verloren zu haben. Der Entfremdungsbegriff scheint also einen Epochenbruch zu markieren, nämlich den Verlust von ehedem vorhandenem Gattungswesen und vormals existierender Emanzipation.

Zudem stehe letztere in diametralem Gegensatz zur entfremdeten Arbeit. Während Hegel den Begriff des Gegensatzes streng terminologisch als Einheit und Trennung zugleich, als vermittelte Trennung bestimmt[5] und Marx bei aller historischen Spezifizierung konkreter Gegensätze diese dialektische Bestimmung des Gegensatzbegriffs im Kern übernimmt[6], scheint mir Monal hier eher einen umgangssprachlichen Gebrauch vom Gegensatzbegriff zu machen, der die Trennung des Gegensätzlichen betont und die vermittelnde Einheit, durch die die gegensätzlichen Pole sich erst gegeneinander positionieren, unterschlägt.[7] Liest man Monals Bemerkung derart als radikales Auseinanderreißen von Emanzipation und entfremdeter Arbeit ohne vermittelnde Berührungspunkte, ergibt sich nicht nur ein weiterer Beleg dafür, dass beide Kategorien in einer Epoche ihrer Ansicht nach offenbar nicht koexistieren können, sondern auch ein logisches Dilemma: Wie soll ohne Vermittlungszusammenhang beider Kategorien aus einer Phase, die durch entfremdete Arbeit gekennzeichnet ist, eine Emanzipation hervorgehen? Wie aus einer emanzipierten Phase eine mit entfremdeter Arbeit?

Mit Blick auf Marx' Bestimmung des Kommunismus als positiver Aufhebung des Privateigentums und als Aneignung des wirklich menschlichen Wesens (vgl. Ms 44: I.2/389; 40/536) wandeln sich bei Monal die Begriffe leicht, die das angebliche Marxsche Streben nach einem Zurück in eine Epoche vor aller Entfremdung zum Ausdruck bringen:

„[...] es handelt sich also um nichts weniger als die vollständige Rückkehr des Menschen zu sich selbst als gesellschaftlichem, d.h. menschlichem Wesen. Mit dem Abschluss des Wiederaneignungsprozesses gelangt man also zu einer Lösung jener Konflikte, die den Menschen zerreißen: der Konflikte zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mensch, Individuum und Gattung.“ (Monal 1999: 1254)

Mit dem Verlust des Gattungswesens geht ihr zufolge ein Verlust des wirklich menschlichen Wesens einher, zu diesem muss eine vollständige Rückkehr erfolgen, es muss wieder angeeignet werden, war also offenbar in einer früheren Phase bereits angeeignet, scheint aber mit der Entfremdung enteignet worden zu sein.

Monal konstatiert eine Sinnveränderung des Gattungswesenbegriffs und seines Zusammenhangs mit dem der Entfremdung im Marxschen Werk ab ThF. Auch wenn Monal nicht explizit darauf reflektiert, wird in ihrer Rekapitulation deutlich, dass die Vorstellung eines Epochenbruchs, eines einstmals verwirklichten und aktuell vollends verlorenen Gattungswesens von Marx ab dieser Sinnveränderung abgewiesen wird.

2.2 Michael Heinrich und Stefan Grigat: Überwindung von Wesensphilosophie und Entfremdungsbegriff

Während Monals Sprachgebrauch für die Marxschen Schriften vor ThF unmittelbar die Vorstellung eines Epochenbruchs hervorruft und dadurch die dialektische Vermitteltheit und somit auch den inhaltlichen Zusammenhang Marxscher Kategorien wie Gattungswesen, wirklich menschliches Wesen, Emanzipation einerseits und Entfremdung, Privateigentum, Teilung der Arbeit andererseits mindestens implizit radikal in Zweifel zieht, diagnostiziert Heinrich mit Blick auf den qua menschlicher Arbeit mit dem Begriff des Gattungswesens vermittelten Entfremdungsbegriff einen Bruch zwischen dem Marxschen Früh- und Spätwerk ab DI, den er als Abkehr von einer wesensphilosophischen Anthropologie begreift, deren Struktur er als unvereinbar mit ihrem Inhalt charakterisiert.

2.2.1 Marx' Anthropologie: Gattungswesen konstituiert sich als entfremdetes

„Das Entscheidende an den [Ms 44] ist die theoretische Verarbeitung dieser [nationalökonomischen] Fakten. Diese besteht in ihrer Übersetzung in eine bestimmte Anthropologie: aus der Produktion wird die Produktion des Gattungswesens, aus dem Produkt die Vergegenständlichung des Gattungswesens. Daß der Arbeiter nicht über sein Produkt verfügt, daß seine eigene Arbeit Zwangsarbeit ist, heißt dann, daß er von seinem eigenen menschlichen Wesen entfremdet ist. Im Kapital tauchen die ursprünglichen »nationalökonomischen Fakten« zwangsläufig wieder auf, da sie bestimmte Eigenschaften des Kapitalismus wiedergeben. Sie werden aber in einen gänzlich anderen theoretischen Zusammenhang gestellt. Vom »menschlichen Wesen« und der »Entfremdung« von diesem Wesen ist nicht mehr die Rede. Die hier behauptete Diskontinuität in der theoretischen Entwicklung von Marx bezieht sich daher nicht auf einen Wechsel des Gegenstandsbereiches, sondern auf die theoretische Problematik, innerhalb welcher dieser Gegenstandsbereich untersucht wird.“ (Heinrich 2001: 142)

Auch wenn Heinrich hier in kritischer Absicht Marx' Anthropologie und die damit zusammenhängenden Bestimmungen problematisiert, thematisiert er im Unterschied zu Monal, die sich für die Genese des Gattungswesens nicht weiter interessiert, sondern es als vor der Phase der Entfremdung schlicht ursprünglich gegeben voraussetzt, deutlich, dass das Gattungswesen in Ms 44 mit der menschlichen Produktion von nützlichen Gegenständen konstituiert wird: Die Produktion ist zugleich die Produktion des Gattungswesens und das Arbeitsprodukt eine Vergegenständlichung des Gattungswesens. Die entfremdete Arbeit, die als Zwangsarbeit erfahren wird (vgl. Ms 44: I.2/367; 1/514), und deren Produkt der Verfügungsgewalt des Arbeiters entzogen wird, ist folglich eine Produzentin des Gattungswesens und ihr Produkt ein bearbeiteter Naturgegenstand, der das Gattungswesen vergegenständlicht und als äußerliche Realität verwirklicht. Die durch die entfremdete Arbeit konstituierten vier Dimensionen der Entfremdung (vgl. dazu im Einzelnen unten ab S. 62: 3.3 Vierfacher Entfremdungsbegriff der Arbeit) sind also selbst Bestandteil des Gattungswesens, sie werden zusammen mit dem Gattungswesen durch die entfremdete Arbeit produziert und kennzeichnen daher auch wesentlich seine Form. Auch wenn mit diesen Formulierungen durchaus offen bleibt, dass ein Gattungswesen bereits vor der Existenz entfremdeter Arbeit produziert worden sein mag, wird doch deutlich, dass Monals Vorstellung eines Epochenbruchs, der mit dem Verlust des Gattungswesens einher ging, für Heinrich keine plausible inhaltliche Marx-Interpretation darstellt.[8] Doch auch Heinrich legt nahe, dass es eine unvermittelte Fortbewegung der Entfremdung vom Gattungswesen gibt, dass die Kategorien trotz ihres immanenten Zusammenhangs auch radikal auseinander driften: Zwar ist es in seiner Formulierung das eigene menschliche Wesen des Arbeiters, das eine entfremdete Form erhält, aber die sprachliche Gestalt, in der er diesen Zusammenhang in durchaus Marxscher Manier artikuliert, suggeriert eine Fortbewegung der entfremdeten Form von eben diesem menschlichen Wesen weg und damit eine Selbständigkeit der Entfremdung gegenüber diesem Wesen. Fällt somit also die Entfremdung doch aus dem menschlichen Wesen heraus und kommt als eigengesetzliche von außerhalb ihres Wesens über die Menschen? Oder spaltet das menschliche Wesen in der Entfremdung etwas von sich ab, das nach dieser Abspaltung selbständig und ohne Bezug zu seinem menschlichen Ursprung ist?

2.2.2 Bruch im Marxschen Werk

Heinrichs Argumentation zielt darauf ab, eine Diskontinuität im Marxschen Werk als einen Wandel der theoretischen Problematik zu betonen, und diagnostiziert als „eine entscheidende Dimension des Bruches […] die Überwindung der Wesensphilosophie“ (Heinrich 2001: 143), womit er eine „Philosophie des Menschen“ (ebd.), also des menschlichen Wesens oder Wesens der Menschen meint, eben eine Anthropologie.[9] Er wendet sich dabei ausdrücklich gegen Braun, der diesen Bruch mit der Feststellung verwische, dass Marx eine Historisierung[10] des Wesensbegriffs des Menschen betreibe: „[...] das bisherige Fundament der Philosophie, der statische Begriff des Wesens fällt. Wesen ist nun selber ein historisches Produkt gesellschaftlicher Praxis“ (Braun 1992: 128f). Zwar konstatiert Heinrich diese Historisierung des Wesens selbst, wenn er festhält, dass es durch die Arbeit (ständig neu) produziert wird[11], allerdings ist ihm wichtiger zu betonen, dass einerseits Althusser zuzustimmen sei, der Marx ab DI jede Philosophie des Menschen als ideologische Erscheinung auffassen lasse (vgl. Heinrich 2001: 143), und dass andererseits „das, was im Kapital unter Entfremdung zusammengefaßt werden kann, keine kohärente Theorie, sondern eine Sammlung verschiedenartiger Phänomene ist“ (ebd.: 142).

Grigat orientiert sich an Heinrichs Problematisierung der Wesensphilosophie und stimmt ihm weitgehend zu. Der Marx der KHR und Judenfrage bleibe

„der Konstruktion einer Wesensphilosophie verhaftet, die weiterhin ein eigentliches menschliches Wesen behauptet, von dem sich die Menschen entfremden. Auch in den [Ms 44] kommt Marx über diese Form der Kritik, die der Wirklichkeit ein imaginiertes Wesen entgegenhält, nicht hinaus.“ (Grigat 2007: 70)

Im Unterschied zu Heinrich sieht Grigat jedoch eine stärkere Kontinuität des Entfremdungsbegriffs:

„Im zweiten und dritten Band der Theorien über den Mehrwert wird die gesamte Kritik des Fetischismus in der Terminologie der Entfremdungskritik vorgestellt. Die vom frühen Marx problematisierten Elemente der Entfremdung tauchen im Spätwerk fast komplett wieder auf. Dennoch entscheidet er sich zumindest im Kapital für den Fetischismusbegriff, der präziser ist, mehr umfaßt und vor allem den unkritischen Gebrauch – wie die spätere Verwendung und Rezeption gezeigt hat – offenbar eher verunmöglicht als der Entfremdungsbegriff. Letzterer tendiert zum pseudokritischen Allgemeinplatz.“ (Grigat 2007: 68)

Auch wenn Heinrich darin zuzustimmen ist, dass der Begriff des menschlichen Wesens oder auch der des Gattungswesens im Marxschen Spätwerk fast völlig[12] verschwindet und der Begriff der Entfremdung nicht den systematischen Stellenwert erhält, den er insbesondere in Ms 44 bekommt, ist mit diesem Wandel im Marxschen Sprachgebrauch noch lange nicht erwiesen, dass mit ihm auch eine substanzielle inhaltliche Veränderung in den Auffassungen Marx' verbunden ist. Selbstverständlich ist Marx in seinem Spätwerk wesentlich informierter über nationalökonomische Theoriebildung, Geschichte und viele empirische Zusammenhänge, er entfaltet einen großen Kategorienapparat, der in Ms 44 erst rudimentär und teilweise auch in anderer sprachlicher und inhaltlicher Form vorliegt[13], und überhaupt wäre die Vorstellung abstrus, dass Marx in seinen späteren Schriften ausschließlich die Erkenntnisse aus seinen früheren Schriften wiederkäut. Doch umgekehrt bedeutet eine Veränderung des sprachlichen Ausdrucks und des inhaltlichen Fokus nicht automatisch, dass damit ältere inhaltliche Einsichten widerrufen worden sind. Tatsächlich gibt es in DI deutliche Belege dafür, dass Marx gute Gründe dafür sieht, seinen Sprachgebrauch zu verändern, gerade weil dieser Sprachgebrauch Interpreten dazu verleitet, seine inhaltlichen Ausführungen bloß deshalb zu ignorieren, da sie diesen Sprachgebrauch aus Gewohnheit inhaltlich anders auffassen als er bei ihm gemeint ist:

„Diese »Entfremdung«, um den Philosophen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden.“ ( DI: 3/34)

„Wie kam es, daß die Menschen sich diese Illusionen »in den Kopf setzten«? Diese Frage bahnte selbst für die deutschen Theoretiker den Weg zur materialistischen, nicht voraussetzungslosen, sondern die wirklichen materiellen Voraussetzungen als solche empirisch beobachtenden und darum erst wirklich kritischen Anschauung der Welt. Dieser Gang war schon angedeutet in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« in der »Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« und »Zur Judenfrage«. Da dies damals noch in philosophischer Phraseologie geschah, so gaben die hier traditionell unterlaufenden philosophischen Ausdrücke wie »menschliches Wesen«, »Gattung« pp. den deutschen Theoretikern die erwünschte Veranlassung, die wirkliche Entwicklung zu mißverstehen und zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke“ ( DI: 3/217f).

Marx artikuliert an diesen Stellen ein reflektiertes Verständnis dafür, dass sein Sprachgebrauch in den Schriften, die er 1843 und 1844 verfasste, mit dem tradierten idealistischen Bedeutungsgehalt der benutzten Begrifflichkeiten brach, insofern er mit ihnen eine als materialistisch-empirisch bestimmte Konzeption entwickelte. Die polemisch-distanzierenden Wendungen gegen die philosophische Phraseologie sind unmittelbar in Kontexte eingebettet, die betonen, dass Marx seine unter Verwendung dieser Phraseologie inhaltlich entwickelten Positionen als weiterhin triftig und jenseits des tradierten phraseologischen Gehalts angesiedelt betrachtet: Der in Anführungszeichen gesetzte und sich bloß dem Verständnis der Philosophen anbiedernde Entfremdungsbegriff wird gleichwohl als den inhaltlichen Zusammenhang durchaus bezeichnende Kategorie benutzt. Und der (Selbst-)Vorwurf, die tradierte Phraseologie komme dem Bedürfnis der deutschen Theoretiker, also insbesondere dem der in DI kritisierten Junghegelianer entgegen, seine inhaltlichen Ausführungen misszuverstehen, hält gleichzeitig fest, dass die wirkliche inhaltliche Entwicklung seiner Schriften auch in dieser mit Blick auf die Ignoranz der Rezipienten problematischen Phraseologie vorhanden gewesen sei, sich aber der abgetragenen theoretischen Röcke, also der tradierten idealistischen Bedeutungsrelikte entledigt habe.

Marx sieht also einerseits im Gegensatz zu Heinrichs These eines Bruchs eine Kontinuität seiner fortschreitenden geistigen Entwicklung von 1843 bis zur DI 1846, entwickelt andererseits aber auch dafür Sensibilität, dass das sprachliche Gehäuse, in dem diese Entwicklung sich artikulierte, zwischen Autor und Rezipienten (von letzteren erwünschte) Verständigungsprobleme hervorrief. Den Vorwurf Heinrichs an Braun, er würde durch die Betonung der Marxschen Historisierung des menschlichen Wesens den Bruch im Marxschen Werk verwischen, lässt sich aus diesem Marxschen Selbstverständnis heraus auch gegen Heinrich umkehren: Mit der Betonung des Bruchs verwischt Heinrich die Kontinuitäten im Marxschen Denken, die unter anderem, aber inhaltlich auch entscheidend darin bestehen, die Menschen wesentlich als historische Produkte ihrer gesellschaftlichen Praxis auch schon in der philosophischen Phraseologie der Ms 44 aufzufassen.[14] Wenn Grigat zum Entfremdungsbegriff konstatiert, dass er dazu neige, ein pseudokritischer Allgemeinplatz zu sein, vermutlich weil er häufig bloß ein allgemeines Unbehagen mit der gesellschaftlichen Verfasstheit der vereinzelten Individuen vage und ohne Bezug auf die wirkliche Entwicklung der konkretisierenden Marxschen und auf Marx aufbauenden Gesellschafts- und Ökonomiekritik artikuliert, so wiederholt Grigat damit in gewisser Weise bloß, was Marx über eineinhalb Jahrhunderte früher bereits an seinen Rezipienten bemängelte: Die Phraseologie wird wichtiger genommen als der inhaltliche Zusammenhang, der mit ihr ausgedrückt werden soll.

Heinrichs Diagnose eines Bruchs mit der Wesensphilosophie im Marxschen Denken stellt ein verwickeltes und meines Erachtens weitgehend den inhaltlichen Zusammenhang vernebelndes Manöver dar, der philosophischen Phraseologie des frühen Marx als Struktur eine Eigengesetzlichkeit gegenüber der in ihr ausgedrückten wirklichen Entwicklung des Inhalts zuzuerkennen, diese dann als unvereinbar mit den inhaltlichen Ergebnissen des Marxschen Erkenntnisprozesses auszuweisen und daraus die Notwendigkeit eines radikalen Wandels in seinem Werk abzuleiten. Was für Monal in der Marxschen Theoriekonzeption unmittelbar in die Realgeschichte als Epochenbruch verlegt erscheint, wird auf diese Weise wieder in die Reflexion gehoben, erscheint nun nicht als realgeschichtlicher Bruch, sondern als einer im theoretischen Konzept, der getilgt werden muss und daher einen Bruch im Marxschen Werk bewirkt.

„Indem Marx die Gegenständlichkeit des menschlichen Gattungswesens als gegenständliche Produktion auffaßt und diese als geschichtlichen Prozeß begreift, ist die ahistorische Anthropologie Feuerbachs bereits unterminiert. Dies gilt aber nur für die inhaltliche Bestimmung des Gattungswesens. Die Struktur des Marxschen Diskurses ist nach wir vor die einer anthropologischen Wesensphilosophie.“ (Heinrich 2001: 114)

Was Marx selbst als bloßen Unterschied zwischen dem tradierten Bedeutungsgehalt der von ihm benutzten Phraseologie und dem von ihm mit dieser Phraseologie ausgedrückten neuen Inhalt analysiert, wird von Heinrich zum Unterschied von Inhalt und Struktur aufgeblasen. Ein solcher Begriffsrealismus, der den Begrifflichkeiten unabhängig von ihrem konkreten Gebrauch eine eigengesetzliche Struktur zuerkennt, die mit dem Inhalt konfligieren kann, steht sowohl philosophisch als auch hermeneutisch auf einem unkritischen Standpunkt[15] und ermöglicht es Heinrich, unbekümmert Widersprechendes nebeneinander zu stellen.[16] Sei Feuerbachs ahistorische Anthropologie[17] von Marx in Ms 44 z. B. einerseits unterminiert, so habe Marx doch im selben Text „eine Kritik der Nationalökonomie entwickelt, die wesentlich auf der Feuerbachschen Anthropologie beruhte.“ (Heinrich 2001: 121) Die Struktur dieser Anthropologie ist für Heinrich eben unabhängig von ihrer inhaltlichen Unterminierung. So zeigt sich in seinem Verständnis, dass dem Bruch mit der Wesensphilosophie zwischen den frühen und den späteren Marxschen Schriften ein unvermittelter Bruch zwischen Struktur und Inhalt in den frühen Schriften vorausgeht. Und in diesem Bruch versteckt sich auch wieder der Epochenbruch Monals, um dessen Abweisung für das Marxsche Spätwerk es Heinrich unter anderem geht:

„Wenn Marx vom Kommunismus als der »Rückkehr« des Menschen zu seinem menschlichen Wesen spricht, so ist damit ein ursprünglicher Zustand impliziert, in welchem der Mensch sein menschliches Wesen noch besaß. Diese Implikation folgt notwendig aus der Konzeption der Entfremdung, die ja nichts anderes bedeuten kann als Trennung, Verlust einer ursprünglichen Einheit, eben des Menschen mit seinem eigentlichen, wahren Wesen. Einen Zustand als Verlust zu analysieren, unterstellt aber immer schon einen anderen Zustand vor diesem Verlust. Allerdings geht Marx nicht so weit, eine bestimmte historische Phase als nicht-entfremdete zu verklären, womit allerdings die Frage nach dem Status dieses ursprünglichen Zustandes aufgeworfen wird.“ (Heinrich 2001: 116)

„Allerdings bleibt die Geschichtlichkeit bei Marx noch weitgehend abstrakt, da sie in das Schema ursprüngliche Einheit des Menschen mit seinem Gattungswesen – Entfremdung – Aufhebung der Entfremdung eingebettet ist und innerhalb des wesensphilosophischen Ansatzes auch darin eingebettet sein muß.“ (Heinrich 2001: 118f)

Heinrich bietet damit eine Präzisierung für die Aufgabenstellung meiner Ausarbeitung an: Da ich bezweifle, dass das Schema eines Epochenbruchs notwendig am wesensphilosophischen Ansatz der Marxschen Schriften von 1843/44 hängt und die Konzeption der Entfremdung nichts anderes als den Verlust einer ursprünglichen Einheit bedeuten kann, werde ich im zweiten Abschnitt meiner Ausarbeitung zu belegen versuchen, dass Marx bereits innerhalb der wesensphilosophischen Phraseologie und den Kategorien von Gattung und Entfremdung konkrete gesellschaftliche Zusammenhänge in ihrer inneren historischen Dynamik zu fassen versucht.

2.2.3 István Mészáros' gegenteilige Auffassung: Kontinuität des Marxschen Werks

Heinrichs These eines Bruchs im Marxschen Werk hat den Charme, kritisch die spekulativen, 'philosophischen', vage wirkenden Begrifflichkeiten der Schriften vor DI zugunsten eines vermeintlich positiv wissenschaftlich verfahrenden späten Marx zurückzuweisen. Wirkt der Terminus 'Gattungswesen' nicht hoffnungslos antiquiert und unspezifisch gegenüber Vorstellungen einer über kapitalistische Verkehrsformen hergestellten Weltgesellschaft? Stellt etwa die Analyse einer Durchschnittsprofitrate im dritten Kapital -Band nicht viel realistischer dar, dass die Menschen sich zu einer Gesellschaft zusammenschließen, die in ihrem unbewusst-systemischen Charakter eine Totalität darstellt, als die scheinbar schon durch gemeinsame biologische Merkmale gegebene Vorstellung einer menschlichen Gattung?

Ich habe bereits dafür argumentiert, die Unterschiede zwischen frühem und spätem Marx eher an einer zunehmenden Detailschärfe und der kritischen Reflexion auf die tradierten Gehalte der sprachlichen Darstellung festzumachen als an einem genuinen Bruch in der theoretischen Konzeption. In diesem Abschnitt möchte ich kurz eine Position erwähnen, die engagiert für die Kontinuität des Marxschen Werks eintritt und Ms 44 sogar einen stark programmatischen Charakter für die späteren Marxschen Bemühungen zuspricht:

„Weit davon entfernt, später größerer Abwandlungen oder Revisionen zu bedürfen, nehmen die Manuskripte von 1844 adäquat den späteren Marx vorweg, indem sie »durch eine ganz empirische, auf ein gewissenhaftes Studium der Nationalökonomie gegründete Analyse« in synthetischer Einheit die Problematiken einer umfassenden, praxisbezogenen, radikalen Neubeurteilung aller Facetten menschlicher Erfahrung in den Griff bekommen.“ (Mészáros 1973: 24f)

Mészáros unterfüttert diese Auffassung insbesondere im ersten Abschnitt seines Kapitels VIII (vgl. ebd.: 275-287) mit diversen Belegstellen quer durchs Marxsche Werk, die primär um den Begriff der Entfremdung kreisen. Auch er interpretiert die Veränderungen in diesem Werk im Sinne einer zunehmenden Detailschärfe und punktueller Anpassungen, die aus der Jahrzehnte währenden vertiefenden Beschäftigung mit dem in Ms 44 bereits gesetzten Problemhorizont im Denken von Marx erwuchsen:

„Doch alle weiteren Konkretisierungen und Modifizierungen der Marxschen Konzeption – samt gewissen grundlegenden Entdeckungen des älteren Marx – geschehen auf der begrifflichen Basis der großen philosophischen Errungenschaften, die in den Manuskripten von 1844 so deutlich zutage treten.“ (Mészáros 1973: 115)

Mészáros Hochschätzung von Ms 44 geht so weit, dass er ein richtiges Verständnis der späten Marxschen Schriften geradezu von ihnen abhängig macht:

„Hätte Lenin tatsächlich Marx' Kritik der kapitalistischen Entfremdung und Verdinglichung – seine Analyse der »Entfremdung der Arbeit« und ihre notwendigen Folgerungen – übersehen, so hätte er den Kern der Marxschen Theorie mißachtet: den Grundgedanken des Marxschen Systems.“ (Mészáros 1973: 116)

Dieser Bedeutsamkeit des Entfremdungsbegriffs steht prima vista entgegen, dass er in weiten Teilen des Spätwerks nicht mehr auftaucht. Mészáros betont aber meines Erachtens zu Recht und triftig belegend, dass das tendenzielle Verschwinden des Terminus nicht zugleich den gedanklichen Zusammenhang verschwinden lässt. Zur Begründung dieser Diskrepanz zwischen begrifflicher Darstellung und inhaltlich Dargestelltem verweist er nicht so sehr auf Marx' Reflexionen zum Problem ungewollt mitgeschleppter tradierter Gehalte von Termini, also zum Problem der Phraseologie, sondern bietet als Argument auf, dass die Bestimmungen eines Begriffs diesem nur inhaltliche Bedeutung zukommen lassen, wenn sie sich anderer Begriffe bedienen:

„Die konkrete Artikulation der umfassenden Sicht läßt sich unmöglich bewerkstelligen, wenn man stets denselben Terminus verwendet: dies führte nicht nur zu endlosen Wiederholungen, sondern letzten Endes ebenso zu einer gewaltigen Tautologie. Daher sollte man das Zurücktreten des allgemeinen Terminus im Verlauf der konkreten Ausarbeitung der komplexen Entfremdungsproblematik nicht fälschlich für eine Preisgabe des Begriffs selber nehmen.“ (Mészáros 1973: 302)

2.2.4 Heinrichs Anthropologismus-Vorwurf

Um beurteilen zu können, ob Heinrichs Vorstellung berechtigt ist, dass die wesensphilosophische theoretische Problematik Marx strukturell unterhalb des gesellschafts- und erkenntnistheoretischen Problembewusstseins seiner späteren Schriften fixiere, erscheint es mir sinnvoll, sich in diesem Abschnitt und dem Abschnitt 2.2.6 etwas vertiefend zu vergegenwärtigen, was Heinrich als die Schwachstellen der Wesensphilosophie beim Marx der Ms 44 diagnostiziert.

Neben der Problematik des Epochenbruchs im Entfremdungsbegriff und mit dieser vermittelt sieht Heinrich vor allem vier weitere problematische Dimensionen in den frühen Schriften von Marx, die er ab der DI überwinde: Anthropologismus, Individualismus, spekulativen Empirismus und Normativität. Ich werde die ersten beiden dieser Aspekte kurz einzeln diskutieren und dabei Heinrichs Perspektive kritisieren. Da es mir aber in dieser Ausarbeitung nicht um einen expliziten Vergleich des frühen mit dem späten Marxschen Werk geht, werde ich dabei Zweifel an Heinrichs These eines Bruchs im Marxschen Werk nur kursorisch mit Belegen für Kontinuitäten unterfüttern und mich stattdessen mehr darauf konzentrieren, Heinrichs Problematisierungen im Kontext vor allem der Ms 44 ihrerseits zu problematisieren.

Heinrich betont, dass Feuerbachs im Februar 1843 erschienene Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie für Marx' Schriften ab 1843 eine bedeutsame Referenz darstellten (vgl. Heinrich 2001: 93). Diese Thesen drehen sich im Kern darum, den Unendlichkeitsbegriff als idealistische Mystifizierung zu denunzieren: „Das Unendliche der Religion und Philosophie ist und war nie etwas Anderes, als irgend ein Endliches, irgend ein Bestimmtes, aber mystificirt, d. h. ein Endliches, ein Bestimmtes, mit dem Postulat, nichts Endliches, nichts Bestimmtes zu sein.“ (Feuerbach 1959: 231) Auch wenn Feuerbach ohne Argument das „Wesen der Natur“ im Gegensatz zu ihren konkreten Gestalten, also im Sinne eines sich in seinem Wandel erhaltenden Kosmos, aus der „zeitliche[n] Genesis“ (ebd.: 240) herausnimmt, lässt er ansonsten kein Wesen außer „endliche Wesen“ (ebd.: 226) gelten. Die Genese des mystifizierenden Unendlichkeitsbegriffs wird bei ihm zwar nicht wie von Marx in ThF gefordert in „Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen“ ( ThF: 3/6) der weltlichen, gesellschaftlichen, polit-ökonomischen Grundlage gesucht, aber immerhin empirisch-psychologisch gedeutet: „Nur wer den Verlust eines endlichen Wesens als einen unendlichen Verlust empfindet“ (Feuerbach 1959: 229), entwickele idealistisch im Endlichen das Unendliche. Zentrales Anliegen ist ihm also bereits vor Marx eine immanente Historisierung des Wesensbegriffs, was besonders darin zum Ausdruck kommt, dass der über Feuerbachs neue Philosophie aufgeklärte Mensch wisse, dass das „pantheistische Wesen“ der spekulativen Philosophen und Theologen „nichts Anderes ist als sein eigenes unbestimmtes, aber unendlicher Bestimmungen fähiges Wesen.“ (ebd.: 241) Auch wenn etwa mit Blick auf die Urknall-Hypothese die zeitliche und räumliche Unendlichkeit einer abstrakten Natur des Universums zweifelhaft ist und nicht weniger zweifelhaft ist, ob die Menschheitsgeschichte mehr als bloß abzählbar viele Bestimmungen des Menschenwesens hervorbringen wird, es also problematisch ist, dass Feuerbach in seiner radikalen Kritik des Unendlichkeitsbegriffs ihn gleichwohl in diesen zwei Varianten positiv festhält, macht doch seine Bestimmung des menschlichen Wesens als sowohl unbestimmtes als auch unendlicher Bestimmungen fähiges deutlich, dass er mit der Platonischen Tradition bricht, als Wesen eines Objekts dessen invariante Eigenschaften zu begreifen. Vielmehr wird Wandel und Varianz, gefasst im Begriff der Endlichkeit, bereits bei Feuerbach – und wie ich noch ausführlicher belegen werde: erst recht bei Marx – zentral für den Wesensbegriff, überzeitliche Invarianz hingegen überhaupt als Mystizismus denunziert. Eine solche Auffassung wie Heinrich als ahistorische Anthropologie zu titulieren, erscheint mir ignorant und irreführend, daher inhaltlich falsch. Das Urteil von Marx und Engels über Feuerbach in der von Heinrich als erster Schrift nach dem Bruch identifizierten DI fällt übrigens anders als Heinrichs aus. Feuerbach argumentiert für sie sowohl historisch als auch materialistisch, hat aber keinen ernsthaften Praxis- und Gesellschaftsbegriff und sieht daher nicht, dass die Menschen ihre eigene Geschichte und ihre materiellen Grundlagen permanent (re-)produzieren: Feuerbach „kommt also nie dazu, die sinnliche Welt als die gesamte lebendige sinnliche Tätigkeit der sie ausmachenden Individuen aufzufassen […]. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander“ ( DI: 3/44f).

Heinrich fasst offenbar einen Begriff des Wesens, der ohne überzeitliche Invarianzen auskommen möchte, als selbstwidersprüchlich auf und sieht in ihm daher eine Struktur, die dem gemeinten Inhalt widerspricht. Begreift man allerdings den Wandel von einem invarianten Wesensbegriff zu einem historisierten Wesensbegriff als zur Reflexion getriebene historische Erfahrung der Menschen, kann der neue, historisierte Wesensbegriff durchaus mehrere Dinge leisten: Er erinnert an seinen geschichtlichen Gebrauch, in dem sich ein vergebliches und ideologisches Bedürfnis nach Ahistorizität, Ewigkeit, beständiger Stabilität artikuliert hat[18] und er kann weiterhin beständigere Bestimmungen seines Objekts festhalten im Gegensatz zu den nun ebenfalls nicht mehr im Positiv, sondern im Komparativ stehenden akzidentelleren, kurzlebigeren oder kontingenteren Bestimmungen. Insbesondere aber leistet ein historisch-materialistischer Begriff eines dialektischen Wesens, die für die Existenz seines Objekts in ihrer konkreten historischen Verfasstheit existenziellen Vermitteltheiten mit der praktisch-gesellschaftlichen Totalität konkret zu bestimmen und damit sowohl der inneren Historizität jedes Gegenstands und jeder Kategorie gerecht zu werden, wie auch ihrer je historisch konkreten Vermitteltheit mit anderen, gleichfalls historischen Gegenständen. Innere Historizität und Vermitteltheit mit anderem sind so dialektische Seiten der einen Medaille des jeweiligen, historisch-materialistisch aufgefassten Gegenstands: „Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt.“ (Adorno 1997: 165)

Hält Heinrich nun dem Marx der Ms 44 zugute, dass er die Feuerbach unterstellte Ahistorizität überwinde, so bleibe er dennoch einer Anthropologie verhaftet, nämlich einer bestimmten Vorstellung vom Wesen des Menschen, die gegen die Wirklichkeit in Stellung gebracht werde:

„Was Marx kritisiert ist die anthropologische Hypostasierung des Warenproduzenten zum Menschen schlechthin. Allerdings kritisiert Marx nicht die anthropologische Begründung der Ökonomie überhaupt, sondern nur die spezielle Anthropologie der Nationalökonomie, der er eine andere Anthropologie gegenüberstellt. In seiner Ökonomiekritik hat sich Marx also nicht von dem Anthropologismus gelöst, der das theoretische Feld der politischen Ökonomie charakterisierte. Sowohl die Nationalökonomie, als auch die von Marx geübte Kritik finden ihr letztes Fundament in einer Anthropologie, in einem bestimmten »Wesen« des Menschen. Während die Nationalökonomie ihren Wesensbegriff affirmativ verwendet, benutzt Marx seinen Wesensbegriff jedoch kritisch gegenüber den menschlichen Verhältnissen.“ (Heinrich 2001: 110f)

„Zwar enthält sich Marx der Systembastelei der utopischen Sozialisten, doch speist sich seine Kritik an den kapitalistischen Verhältnissen hier ganz deutlich aus der Konfrontation mit einem »dem Menschen« angemessenen gesellschaftlichen Zustand. Die letzten Endes moralische Kritikfigur, die die schlechte Wirklichkeit am wahren menschlichen Wesen mißt, wird durch die teleologischen Momente der Marxschen Geschichtskonzeption, die die Verwirklichung des menschlichen Wesens als Ziel der Geschichte ausgibt, verdeckt.“ (Heinrich 2001: 117)

Ist in Feuerbachs Konzeption der Mensch ein „unbestimmtes, aber unendlicher Bestimmungen fähiges Wesen“ (Feuerbach 1959: 241), so in Ms 44 ein reflexives Gattungswesen, „indem er sich zu sich als einem universellen, darum freien Wesen verhält“ ( Ms 44: I.2/368; 40/515). Die Bestimmung des Menschen als unbestimmtem, sich zu sich selbst als universell verhaltendem Wesen lässt m. E. den Vorwurf des Anthropologismus nur dann zu, wenn die konkreten Einzelmenschen in dieser abstrakten Freiheit festgehalten und nicht in ihrer konkreten, materiellen, gesellschaftlichen, historischen, permanent prozessierenden und sich daher auch wandelnden Bedingtheit aufgefasst werden – worum es Marx in Ms 44 aber durchaus geht, weshalb Heinrich ja überhaupt nur einen Bruch zwischen Struktur und Inhalt konstatiert. Paradox formuliert: Die Bestimmtheit, die Heinrich gerade an Marx' Begriff des Menschenwesens problematisiert, ist die, sich vermittels der eigenen Praxis als unbestimmt zu erfahren. Dies lässt sich als Anthropologie auffassen, allerdings gerade als eine kritische Anthropologie, die positive, überzeitliche und endgültige Aussagen über das menschliche Wesen explizit abweist. In Heinrichs Anthropologismus-Diagnose steckt aber gerade der Vorwurf, dass Marx solche Aussagen trifft. Tut er das nicht, so ist Heinrichs Anthropologismus-Vorwurf insofern absurd, als er auch gegen alle elaborierten Gesellschaftstheoretiker in Stellung gebracht werden könnte, die sich bewusst vor einer überhistorischen Bestimmung des Menschenwesens hüten, da sie sich damit ja performativ als Kopfarbeiter zu sich selbst als innerhalb aller konkret-historischen Bestimmtheit befindlichem unbestimmtem Wesen verhalten.

Ohne dies hier näher auszuführen, möchte ich betonen, dass ich den Eindruck habe, dass das, was sich als Marx' Anthropologie auffassen lässt, in ihrer Gestalt einer historisch-materialistischen Gesellschaftskritik und -theorie gegenüber rein bürgerlichen Gesellschaftstheorien mit ihrem Respekt vor der tradierten wissenschaftlichen Fächertrennung u. a. den Vorzug hat, die Vermitteltheit von Gesellschaft, also von „zweite[r] Natur“ ( K III: II.15/832; 25/866) mit erster Natur explizit thematisieren zu können: „Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. “ ( Ms 44: I.2/408; 40/578) Ist, wie ich eben belegt habe, Heinrichs Anthropologismus-Vorwurf zumindest angesichts des Marxschen Selbstverständnisses in Ms 44 nicht haltbar, so lässt sich seine These von einem unter anderem am Anthropologismus festgemachten Bruch im Marxschen Werk auch umgekehrt dadurch angreifen, dass im Kapital tatsächlich gerade mit Bezug auf die menschliche Naturseite Stellen auftauchen, die den Anthropologismus-Vorwurf insofern verdienen, als sie überhistorische Bestimmungen des Menschen machen:

„Als Bildnerin von Gebrauchswerthen, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnothwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln.“ ( K I: II.8/74; 23/57; vgl. auch z. B. ebd.: II.8/186f & 198 & 502; 23/185 & 198 & 552)

Dies aber ist bloß wie jedes naturwissenschaftlich postulierte Gesetz ein in die Ewigkeit verlängertes Urteil über etwas, das sich bislang empirisch in der Erfahrung stets bestätigt gefunden hat – und somit nicht von der überhistorischen Gestalt, die Heinrich als fiktionalen Maßstab eines Wesens, das gegen die von ihm abweichenden, konkreten Erscheinungsformen in Stellung gebracht wird, mit dem Anthropologismus-Vorwurf angreifen zu müssen meint.

2.2.5 Mészáros' Interpretation der Marxschen Anthropologie

Im Unterschied zu Heinrich thematisiert Mészáros gerade den historisierenden, wesentlich dynamischen Charakter der Marxschen Anthropologie und interpretiert diesen als fortschrittlich:

Es ist „doppelt bedeutsam, daß der Entfremdungsbegriff in der Entwicklung des modernen Denkens parallel zum Aufkommen einer echten, historisch fundierten philosophischen Anthropologie zunehmend wichtig wurde. Dieser Trend stellte einerseits eine radikale Opposition gegen die Mystifikationen der mittelalterlichen Pseudo-Anthropologie dar, und andererseits bildet er eine feste Ordnungsmitte für ein unvergleichlich dynamischeres Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse, als es vorher möglich gewesen wäre.“ (Mészáros 1973: 50)

Eine Anthropologie, die keine konkreten, positiven Aussagen darüber trifft, was der Mensch ein für alle Mal, ursprünglich, seinem unveränderlichen Wesen nach sei, sondern die Menschen als universell sich entwickelnde, sich beständig durch ihre praktische Auseinandersetzung mit ihren gemeinschaftlichen Lebensumständen verändernde Wesen bestimmt, betont kritisch sowohl gegen jeden Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse wie gegen deren theoretische Stillstellung die vergangenen Veränderungen der Menschen und die daher gegenwärtig und zukünftig anzunehmende Veränderlichkeit der Menschen und agiert somit ideologiekritisch. Dass etwas ist, wie es ist, ist noch keine Legitimation dafür, dass es so bleiben soll, und die begreifbaren Dynamiken der vergangenen menschlichen Geschichte lassen darauf schließen, dass es auch nicht bleiben wird, was es ist. Gleichwohl analysiert Mészáros die Marxsche Anthropologie als eine 'feste Ordnungsmitte' innerhalb historisch sich wandelnder Vermittlungsverhältnisse, insofern sie zumindest abstrakt konstitutive, unveränderliche Bestimmtheiten der Menschen festhält, nämlich eben die 'ewige Naturnotwendigkeit des Stoffwechsels zwischen Menschen und Natur':

„Positiv dagegen ist der Mensch im Sinn seiner Bedürfnisse und Fähigkeiten zu beschreiben. Und beide sind gleichermaßen dem Wandel und der Entwicklung unterworfen. Daher kann es am Menschen nichts Feststehendes geben, es sei denn das, was sich notwendig aus seiner Bestimmung als Naturwesen ergibt, daß er nämlich ein Wesen mit Bedürfnissen ist – andernfalls könnte man ihn nicht ein Naturwesen nennen –, dazu mit Fähigkeiten zu ihrer Befriedigung, ohne die ein Naturwesen unmöglich überleben könnte.“ (Mészáros 1973: 207)

Dass die Menschen abstrakt zu jeder Zeit Bedürfnisse und Fähigkeiten zu deren Befriedigung hatten, dass diese Bedürfnisse und Fähigkeiten sich konkret aber in historischen Prozessen mannigfach veränderten und verändern, ließe sich – um nur das intuitiv plausibelste Beispiel zu nennen – anhand der Geschichte der menschlichen Ernährungsweisen studieren.

Mészáros reflektiert also auf das materialistische Moment der Marxschen Konzeption, wenn er dessen dynamischer Anthropologie eine 'feste Ordnungsmitte' bescheinigt: auf die unabweisbaren Reproduktionsbedingungen des menschlichen Lebens. Während Heinrich die Anthropologie des jungen Marx problematisiert und dabei die des späten ignoriert, weil er unterstellt, dass mit der Wesensbegrifflichkeit notwendig ein unhistorisches Verständnis einher geht, arbeitet Mészáros an der als dynamisch erkannten Marxschen Anthropologie heraus, dass sie den dialektischen Vermittlungen der Marxschen Kritik eine Erdung gibt, die sie vor ungebundener Spekulation bewahrt.

„Wie man sieht, dreht sich alles um das Verständnis der natürlichen Grundlage (der allgemeinen Kausalitätsgesetze und dergleichen) der spezifisch menschlichen Geschichtlichkeit. Ohne zulängliche Einsicht in diese natürliche Grundlage ist die »Wissenschaft vom Menschen« einfach undenkbar, weil sich schließlich alles in Relativismus auflöst. Das »anthropologische Prinzip« ist daher an seinem richtigen Platz im allgemeinen Rahmen einer umfassenden historischen Ontologie unterzubringen. Genauer gesagt: jedes derartige Prinzip ist in Richtung auf eine komplexe dialektische Sozialontologie hin zu überschreiten.“ (Mészáros 1973: 55)

Mészáros zufolge ist die Marxsche Anthropologie also in eine historische und dialektische Ontologie eingebettet, die substantiell am Begriff der Natur hängt und den Materialismus der reflexionsphilosophisch geschulten Bestimmungen Marxscher Gesellschaftskritik ausmacht: Die Menschen, selber Bestandteile der Natur, entwickeln sich in ihrer notwendigen, Bedürfnisse stillenden, praktischen Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Natur und bestimmen dabei sukzessive sich selbst sowie die sie umgebende Natur. Der Begriff der Natur fungiert dabei als Totalitätskategorie, innerhalb derer alle dialektischen Vermittlungen statthaben. Da die Menschen nicht als Eremiten, sondern als soziale Wesen ihre materielle Reproduktion organisieren, bestimmen sie sich in dieser und durch diese auch wechselseitig. Gesellschaftliche Formen resultieren nicht weniger als die je aktuellen Bestimmungen der menschlichen und nicht-menschlichen Natur aus der gemeinschaftlichen Arbeit, aus dem Stoffwechselprozess mit der umgebenden Natur im historischen Verlauf. Bleibt der Stoffwechselprozess 'ewige Naturnotwendigkeit' und insofern Basis, 'feste Ordnungsmitte' aller Vermittlungsverhältnisse der Menschen, gewinnen diese Vermittlungsverhältnisse etwa in der Verselbständigung der gesellschaftlichen Formen oder der Entstehung neuer menschlicher Bedürfnisse auch ein relativ unabhängiges Eigenleben: Die Entfaltung des universellen Gattungswesens der Menschen ging in der bisherigen Geschichte insbesondere mit Formen der Herrschaft von Menschen über Menschen einher und beschnitt damit an den Individuen systematisch die Universalität, die sie als Gattung gleichwohl zunehmend praktisch entwickeln. Der Entfremdungsbegriff ist daher als Ausdruck der Verselbständigungs- und Verkehrungsformen nur verstehbar, insofern überhaupt erst auf der Basis einer Entfaltung der Potenzen des Gattungswesens in der Auseinandersetzung mit der umgebenden Natur Kapazitäten für Herrschaft freigesetzt werden: Ohne Mehrarbeit, ohne einen Überschuss über die reine Subsistenz, existiert auch keine gesellschaftliche Form, die sich reflexiv auf der Basis einer die vergesellschafteten Individuen zu autonomen Subjekten stilisierenden Aufklärungsemphase als Entfremdungsphänomen begreifen lässt.

Der Rekurs auf eine Totalität der Natur, in der überhaupt erst die historisch veränderlichen Vermittlungsverhältnisse zwischen den menschlichen Naturwesen untereinander und mit der nicht-menschlichen Natur wesentlich praktisch geschaffen werden, ermöglicht eine kritische Konstituierung des Entfremdungsbegriffs in denjenigen gesellschaftlichen Formen, die im Dienste von Herrschaftsstabilisierung jedes Individuum unter den vollen Möglichkeiten der universell sich in der Auseinandersetzung mit Natur entfaltenden menschlichen Gattung festhalten. Utopisch gewendet wird der Totalitätsbegriff der Natur in Ms 44 als „Aufhebung des Privateigenthums“ (Ms 44: I.2/398f; 40/546), als Kommunismus, vollendeter Naturalismus = vollendeter Humanismus thematisch:

„Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die w ahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit d{em} Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Räthsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.“ ( Ms 44: I.2/389; 40/536)

Mészáros argumentiert dafür, dass der Marxsche Totalitätsbegriff der Natur eine historisch-dialektische Ontologie überhaupt erst ermöglicht, die den Menschen ein universelles, wandelbares Wesen als Anthropologie zuerkennt. Eine dynamisch konzipierte Anthropologie braucht ihr Anderes, in das sie eingebettet ist, um sich auch in sich historisch wandeln, um als Kategorie in einem Vermittlungsverhältnis stehen zu können.

„Im Augenblick müssen wir besonders betonen, daß sich der spezifische anthropologische Faktor (»Menschlichkeit«) nicht in seiner dialektischen Geschichtlichkeit fassen läßt, solange man ihn nicht auf der Grundlage der sich geschichtlich entwickelnden ontologischen Totalität (»Natur«) versteht, in die er letztlich gehört. Erkennt man nicht das adäquate dialektische Verhältnis zwischen ontologischer Totalität und anthropologischer Besonderheit, kommt man zu unauflöslichen Widersprüchen. In erster Linie führt das dazu, daß man (von Feuerbach bis zu gewissen neuesten Theorien des »Strukturalismus«) ein festgelegtes »menschliches Wesen« als die »ursprüngliche« philosophische »Gegebenheit« postuliert und infolgedessen letztlich alle Geschichtlichkeit liquidiert.“ (Mészáros 1973: 54)

Die Historizität der menschlichen Gattung entfaltet sich auf einer natürlichen Basis, in der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten menschlicher und nicht-menschlicher Natur, die sich freilich selbst sowohl auf Grund der naturgeschichtlichen Eigendynamiken als auch auf Grund der Eingriffe der menschlichen Naturwesen historisch wandeln. Mészáros hält den Ms 44 zugute, dass sie erstmals konkrete Vermittlungen einer nicht-zyklisch vorgestellten Geschichtlichkeit mit einem menschlichen Wesen über den Begriff der historisch sich entwickelnden menschlichen Arbeit ermöglichten:

„Doch für die Bedürfnisse einer solchen [materialistischen] Dialektik war das historische Prinzip entweder in eine Pseudo-Geschichtlichkeit irgendeines Wiederholungszykuls aufgelöst oder es tendierte zu ihrer eigenen Absolutsetzung in Form des historischen Relativismus. Die einzige mögliche Lösung, die sowohl das »anthropologische Prinzip« wie den relativistischen »Historizismus« hätte aufheben ( transcend ) können, wäre eine Synthese aus Geschichte und Anthropologie in Gestalt einer umfassenden, materialistischen, dialektischen Ontologie gewesen – mit dem Begriff der sich selbst entwickelnden menschlichen Arbeit oder der »praktischen Selbstbetätigung des Menschen« als Bezugsmitte. Der revolutionäre Gedanke einer solchen Synthese tauchte in der Geschichte des menschlichen Denkens jedoch nicht vor der Niederschrift der Marxschen Manuskripte von 1844 auf.“ (Mészáros 1973: 60)

Für Mészáros erscheint die Marxsche Konzeption einer Naturtotalität, in der sich die menschlichen Naturwesen durch ihre jeweils konkrete Arbeit mit der sie umgebenden Natur vermitteln, als stichhaltige Lösung der durch die philosophische Thematisierung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt aufgeworfenen Problemkreise. Kerngehalt der Marxschen Anthropologie ist ihm genau diese tätige und produktive Vermittlung: die sich entwickelnden Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen im Umgang mit der sie umgebenden Natur, der historisch veränderliche Stoffwechselprozess zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur.

„Nur im monistischen Materialismus Marx' findet sich ein kohärentes Verständnis von » objektiver Totalität« als »sinnlicher Wirklichkeit« und eine entsprechend stichhaltige Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt, und dies dank des Begriffs von Vermittlung als einer ontologisch fundamentalen Produktivtätigkeit und dank der Marxschen Einsicht in die historisch spezifischen Vermittlungen zweiter Ordnung, durch die die ontologische Grundlage der menschlichen Existenz in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung dem Menschen entfremdet ist.“ (Mészáros 1973: 109)

Die gesellschaftlichen Formen, die sich mit der kooperativen, gemeinschaftlichen menschlichen Abarbeitung an äußerer Natur herausbilden, bestimmt Mészáros hier als Vermittlungen zweiter Ordnung, weil sie auf dem Stoffwechselprozess der Menschen mit äußerer Natur basieren, ohne dessen Funktionieren ihrerseits nicht existieren könnten. Diese Scheidung zwischen Vermittlungen erster und zweiter Ordnung hat bei Mészáros analytischen Charakter, er unterscheidet abstrakt zwischen Auseinandersetzungen der Menschen mit der Natur und Auseinandersetzungen der Menschen untereinander. Praktisch sind diese analytisch geschiedenen Auseinandersetzungen aber ineinander verschlungen, stehen als abstrakt Getrennte ihrerseits in einem Vermittlungsverhältnis: Die Auseinandersetzung mit Natur findet gemeinschaftlich, in gesellschaftlichen Formen statt. So wie der Stoffwechselprozess bestimmt, in welchen gesellschaftlichen Formen er bewerkstelligt werden kann, so bestimmen umgekehrt auch die gesellschaftlichen Formen, welche Verlaufsformen der Stoffwechselprozess annehmen kann.

Wäre diese Hierarchie von unterschiedenen Vermittlungsordnungen hingegen inhaltlich konzipiert im Sinne einer ontologischen Vorgängigkeit des Naturstoffwechsels als Basis aller gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse, die als Überbau-Phänomene direkt und einseitig von dieser Basis abhängig blieben und bloß aus ihrer Eigendynamik heraus Entfremdungsphänomene hervorbrächten, ließe sie sich als eine Form der These vom Epochenbruch zwischen unentfremdeter und entfremdeter Gattung interpretieren: Wird der Zusammenhang des menschlichen Naturstoffwechsels als unabhängig von den gesellschaftlichen Formen gedacht, in denen dieser Stoffwechsel gemeinschaftlich, kooperativ stattfindet, ließe sich den derart aus dem menschlichen Reproduktionszusammenhang herausgerissenen gesellschaftlichen Formen abstrakt die Last des Entfremdungsbegriffs allein aufbürden. Der menschliche Naturstoffwechsel könnte als neutral gegenüber dem gesellschaftlichen Phänomen Entfremdung erscheinen und Romantizismen einer paradiesischen Einheit von Mensch und Natur wären Tür und Tor geöffnet. Eine solche Auffassung könnte leicht zu der Vorstellung gelangen, die gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse hätten irgendwann unabhängig von den Bedingungen des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur Entfremdung gesetzt. Entfremdung erschiene als gegenüber den Reproduktionsbedingungen der menschlichen Gattung kontingentes Ergebnis gesellschaftlicher Eigenlogik, als epochaler Bruch, der in keinem notwendigen Verhältnis zur menschlichen Abarbeitung an der Natur stünde – und daher auch als unabhängig von dieser Abarbeitung zurücknehmbar.

Ein solch abstraktes Auseinanderreißen von Reproduktionsbedingungen und gesellschaftlichen Formen liegt Marx fern. Im Gegenteil betont er gerade, dass der Naturstoffwechsel der Menschen die wesentliche Dimension ihres gesellschaftlichen Lebens ist. In der Sprache von Ms 44 kommt dies insbesondere darin zum Ausdruck, dass das menschliche Gattungswesen sich erst in der Auseinandersetzung mit Natur bewährt und vergegenständlicht. Die Entfremdung, die selbst aus den Produktionsverhältnissen erwächst, aus Arbeit in entfremdeter Form, ändert diesen Zusammenhang von Gattungswesen und Natur nicht, verwandelt das Gattungsleben allerdings in ein bloßes Mittel für das Individuum:

„Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als Gattungswesen. Diese Production ist sein Werkthätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen ; indem er sich nicht nur, wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werkthätig, wirklich verdoppelt, und sich selbst daher in einer von ihm geschaffnen Welt anschaut. Indem daher die entfremdete Arbeit dem Menschen den Gegenstand seiner Production entreißt, entreißt sie ihm sein Gattungsleben, seine wirkliche Gattungsgegenständlichkeit und verwandelt seinen Vorzug vor dem Thier in den Nachtheil, daß sein unorganischer Leib, die Natur, ihm entzogen wird.

Ebenso indem die entfremdete Arbeit die Selbstthätigkeit, die freie Thätigkeit zum Mittel herabsezt, macht sie das Gattungsleben des Menschen zum Mittel seiner physischen Existenz.

Das Bewußtsein, welches der Mensch von seiner Gattung hat, verwandelt sich durch die Entfremdung also dahin, daß das Gattungsl{eben} ihm zum Mittel wird.“ ( Ms 44: I.2/370; 40/517)

In der Sprache der Dialektik von Basis und Überbau stellt Marx später deutlich klar, dass die wesentlichen gesellschaftlichen Formen gerade die sind, die als Produktionsverhältnisse den Naturstoffwechsel organisieren.

„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, nothwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesammtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Ueberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den socialen, politischen und geistigen Lebensproceß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ (KpÖ : II.2/100; 13/9)

Im Unterschied zu einer Auffassung, die den Stoffwechselprozess der Menschen mit der Natur abstrakt als Basis den Auseinandersetzungen der Menschen untereinander entgegensetzt, also einer Auffassung, wie ich sie fiktiv oben aus Mészáros Hierarchisierung unterschiedener Vermittlungsordnungen entwickelt habe, betont Marx gerade den gesellschaftlichen Charakter der Produktionsverhältnisse. Nicht ist es das bloße Sein, das das Bewusstsein sowie juristische und politische Überbau-Phänomene bestimmt, sondern es ist das gesellschaftliche Sein. Diese Feststellung reflektiert die Konsequenz seiner frühen Schriften: Die in KHS, Judenfrage und KHR noch in den juristisch-politischen Überbau-Phänomenen diagnostizierte Entfremdung, wird in Ms 44 in den wesentlichen gesellschaftlichen Verhältnisse geerdet durch den Begriff der entfremdeten Arbeit.

Die Marxsche Basis-Überbau-Dialektik, die zwar keineswegs gesellschaftliche Formen gegenüber Natur und dem Stoffwechsel mit dieser relativiert, sondern vielmehr den gesellschaftlichen Charakter der menschlichen Naturstoffwechselprozesse betont, wohl aber die ausdrücklichsten Sphären bürgerlichen Selbstbewusstseins – das reflexiv-vernünftige Bewusstsein und die politisch-juristische Selbstorganisation – gegenüber diesen Naturstoffwechselprozessen relativiert, erscheint im Kapital beispielsweise wieder, wo Marx betont, dass es für das ökonomische Verhältnis, in das sich tauschende Privateigentümer setzen, gleichgültig ist, ob dieses Verhältnis über herrschende Rechtsordnungen abgesichert ist:

„Um diese Dinge als Waaren auf einander zu beziehn, müssen die Waarenhüter sich zu einander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Waare aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigenthümer anerkennen. Dieß Rechtsverhältniß, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältniß, worin sich das ökonomische Verhältniß wiederspiegelt.“ (K I: II.8/111f; 23/99)

Die aus der gemeinschaftlichen Reproduktion erwachsenden ökonomischen Formen, hier: das Verhältnis gewaltfrei tauschender, somit freier und gleicher Privateigentümer, sind naturwüchsig ihrer Reflexion im juristisch-politischen Überbau und im Bewusstsein vorausgesetzt. Das Gattungswesen entfaltet sich nicht weniger als die Entfremdung in unbewussten gesellschaftlichen Praxisformen. Erst in der gemeinschaftlichen Vermittlung mit der Natur entwickeln die Menschen ihre Fähigkeiten. Das als universell bestimmte Gattungswesen der Menschen konkretisiert seine Universalität in der historisch sich zunehmend reicher bestimmenden Vermittlung der Menschen mit der Natur und miteinander, mit den anderen menschlichen Naturwesen. In der Konstituierung eines Weltmarkts bestätigt sich das Gattungswesen selbst als Totalität, als vielseitig miteinander vermittelte Gattung. Bewusstsein und juristisch-politischer Überbau reflektieren diese Prozesse und können somit auch zu einem Entfremdungsbegriff vordringen, bleiben aber konstitutiv abhängig von den gesellschaftlichen Praxisformen. Insofern die gemeinschaftlich stattfindende Auseinandersetzung mit Natur auf entfremdeter Arbeit beruht, auf Aneignung fremder Arbeit, die in bürgerlicher Gesellschaft die Form der Privateigentums annimmt, vorbürgerlich zumeist in Formen unmittelbarer personaler Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse geschah, werden die Individuen von ihren gemeinschaftlichen Produkten, gemeinschaftlichen Produktionsweisen, letztlich ihrer Gemeinschaftlichkeit isoliert. Zugleich aber konkretisiert sich innerhalb dieser Herrschaftsverhältnisse das universelle Gattungswesen.

Die Relativierung von Bewusstsein, juristisch-politischen Überbau-Phänomenen und damit auch des bürgerlichen Selbstbewusstseins gegenüber der Basis des gesellschaftlichen Stoffwechselprozesses mit der Natur führt bei Marx zu der Konsequenz, die Gesellschaftsgeschichte selbst der Naturgeschichte zu subsumieren:

„Weniger als jeder andre kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Proceß auffaßt, den Einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er social bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“ (K I: II.8/45f; 23/16)

Die Utopie eines „Verein[s] freier Menschen“ ( K I: II.8/106f; 23/92), in denen den individuellen Menschen ihre Gesellschaftlichkeit, ihr gemeinschaftlich sich in der Auseinandersetzung mit Natur entfaltendes Gattungswesen selbst durchsichtig und verfügbar werden soll, weil ihre Produkte und Produktionsweisen nicht mehr in isoliert-individuellen Aneignungsformen partikularisiert werden, würde die in der Gesellschaftsgeschichte verlängerte Naturgeschichte durch Ausdehnung eines „Reich[s] der Freiheit“ (K III: II.15/794; 25/828) relativieren.

Diesen Zusammenhang drückt Marx bereits in Ms 44 insofern aus, als er der Natur als Totalitätskategorie auch eine dieser Totalität reflexiv begegnende Einheit der Wissenschaft gegenüberstellt, die als Reflexionsgestalt der Universalität des menschlichen Gattungswesens auch die in dieser Universalität sich betätigende Freiheit der Menschen gegenüber ihrer bloßen Naturgeschichtlichkeit ausspricht:

„Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Theil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später eben so wohl die Wissenschaft von d{em} Menschen, wie die Wissenschaft von d{em} Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumiren: es wird eine Wissenschaft sein.“ ( Ms 44: I.2/396; 40/544)

2.2.6 Heinrichs Individualismus-Vorwurf an den jungen Marx

Den Marxschen Individualismus diagnostiziert Heinrich an einer Stelle der Ms 44, die gerade die dialektische Vermitteltheit von Gesellschaft und Individuum pointiert zum Ausdruck bringt. Er zitiert die ersten beiden Sätze dieses Abschnitts von Ms 44 :

„Es ist vor allem zu vermeiden die »Gesellschaft« wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixiren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäusserung – erscheine sie auch nicht in der unmittelbaren Form einer gemeinschaftlichen, mit andern zugleich vollbrachten Lebensäusserung – ist daher eine Aüsserung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens. Das individuelle und das Gattungsleben des Menschen sind nicht verschieden, so sehr auch – und dies nothwendig – die Daseinsweise des individuellen Lebens eine mehr besondre oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens ist, oder je mehr das Gattungsleben ein mehr besondres oder allgemeines individuelles Leben ist.“ ( Ms 44: I.2/391; 40/538f, vgl. Heinrich 2001: 115)

Heinrich ist so gefangen in seiner These, eine wesensphilosophische Struktur lasse keine historisch sich wandelnde gesellschaftliche Bestimmtheit des Individuums inhaltlich zu, dass er diese Stelle folgendermaßen interpretiert:

„Gesellschaft wird unmittelbar durch die Wesenseigenschaften der Individuen konstituiert und ist daher auch nur von diesen Wesenseigenschaften her zu begreifen.“ (Heinrich 2001: 115)

In Bezug auf die sechste der ThF spezifiziert Heinrich dies noch etwas:

„Marx kritisiert hier die Vorstellung eines menschliche[n] Wesens im Sinne eines dem Individuum »innewohnenden Abstraktums«, einer »Gattung«, eine Vorstellung, die er in den [Ms 44] noch teilte. Jetzt hält Marx dagegen fest, daß das, was unter diesem Wesen zusammengefaßt wird, immer nur »das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« ist, und daß das abstrakte Individuum, das dieses Gattungswesen in sich tragen soll, selbst ein gesellschaftliches Produkt ist.“ (Heinrich 2001: 133)

Ich halte diese Interpretation Heinrichs für ein grobes Fehlverständnis, das voll vom Marxschen Vorwurf an die deutschen Philosophen getroffen wird, „die wirkliche Entwicklung zu mißverstehen und zu glauben, es handle sich hier wieder nur um eine neue Wendung ihrer abgetragenen theoretischen Röcke“ ( DI: 3/217f). Wenn man bloß die beiden Sätze betrachtet, die Heinrich zitiert, lässt seine Interpretation sich nahezu als Umkehrung der Marxschen Bestimmung des Individuums als gesellschaftlichem Wesen lesen: Bei Heinrich ist Gesellschaft als Ausfluss des individuellen Wesens gefasst, als durch das Wesen des Individuums konstituiert und diesem als Abstraktion innewohnend. Marx bestimmt das Wesen der Gesellschaft als Individuum, Heinrich das Wesen des Individuums als konstitutiv für Gesellschaft. Zudem weist Marx gerade die Vorstellung von Gesellschaft als einer eigenständigen und bloß theoretischen Abstraktion ab, während Heinrich sie als dem Marxschen Individuumsbegriff innewohnendes Abstraktum in Ms 44 auffasst. Aus Heinrichs Perspektive mag dies keinen Unterschied machen, weil er die Vorstellung hat, dass Marx mit invarianten Wesensbegriffen arbeitet, die alle letztlich auf eine anthropologische Vorstellung vom menschlichen Wesen rekurrieren. Gesteht man Marx allerdings einen historisierten Wesensbegriff zu, der zudem nicht immer bloß auf ein Menschenwesen abzielt, sondern spezifiziert die prägnanten Bestimmungen des gerade thematischen Gegenstands zu geben versucht, hier also der Gesellschaft, des gesellschaftlichen Wesens, so sagt er gerade, dass das Individuum sich nur als gesellschaftliches begreifen lässt, als Produkt des gesellschaftlichen Zusammenhangs, als eine mehr besondere oder mehr allgemeine Weise des Gattungslebens. M. E. handelt es sich hierbei bloß um eine andere Formulierung dafür, dass das Individuum „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ( ThF: 3/6) ist. Doch Marx bleibt nicht bei dieser Einseitigkeit stehen, die das Individuum als Abstraktion des Gesellschaftlichen betrachten würde, sondern thematisiert ebenso, dass umgekehrt auch die Gesellschaft[19] Produkt des Individuums ist, nämlich je nach Einflussmöglichkeit des einzelnen Individuums auf die gesellschaftliche Totalität ein mehr besonderes oder mehr allgemeines Individuum darstellt. Er gibt damit einen dialektischen Begriff von Gesellschaft und Individuum, beide Kategorien lassen sich nicht unabhängig vom jeweils anderen bestimmen.

Heinrichs Individualismus-Vorwurf lässt sich daher zurückweisen und auf seine spezifische Vorstellung zurückführen, ein dynamisierter Wesensbegriff sei unmöglich.

3 Historische Entfaltung des Gesellschaftlichen als Dialektik von Gattungswesen und seiner Entfremdung

3.1 Ursprünglichkeit wird abgewiesen

Verklärungen und Romantisierungen früherer Phasen der Menschheitsgeschichte, z. B. der eigenen Jugendzeit oder beliebiger, vermeintlich goldener, prosperierender, heroischer etc. Zeitalter, lassen sich häufig beobachten. Marx wendet sich immer wieder ausdrücklich gegen solche Idealisierungen der Geschichte und analysiert ihren ideologischen Nutzen für den Status quo, programmatisch etwa in KHR : „Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“ ( KHR: I.2/171; 1/379). Noch im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals wird diese praktisch-aufklärerische Forderung legitimiert, wenn auch weniger kämpferisch und stärker die Schwerkraft der gesellschaftlichen Verhältnisse betonend, denen er hier eine Naturgesetzlichkeit, also eine vom Wollen und Wissen der Menschen weitgehend unabhängige Existenzweise bescheinigt:

„Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist, – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen – kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen, noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“ ( K I: II.8/45; 23/15f)

Marx' kritisch-theoretische Bemühungen sollen mit ihrer desillusionierend-aufklärerischen Kraft eine bessere gesellschaftliche Praxis ermöglichen, wenigstens schmerzhafte Geburtswehen ihrer historischen Entfaltung mildern. Dazu bedarf es der Kritik idealisierender Verklärungen des Status quo und seiner Vergangenheit.

In der Vorstellung, dass im Marxschen Entfremdungsbegriff ein Epochenbruch angelegt ist, steckt die Unterstellung, einst sei die Gesellschaftlichkeit der Menschen nicht entfremdet gewesen. Diese These mag für sehr kleine, überschaubare, unmittelbar in gemeinschaftlicher Tätigkeit und gemeinschaftlichem Konsum befindliche Gemeinwesen diskutierbar sein, wirft aber zumindest auch bei diesen immer die Frage auf, ob solche Formen unmittelbarer Gemeinschaft nicht ihrerseits Strukturen enthalten (haben), die als ideologisch legitimierte und praktisch institutionalisierte Formen unbewusst tradierter Herrschaft von Menschen über Menschen zu begreifen sind und die insofern zumindest Aspekte enthalten (haben), die als Momente des spezifisch an bürgerlichen Vergesellschaftungsformen entwickelten Entfremdungsbegriffs bei Marx diskutiert werden. Für einen weltgesellschaftlichen Zustand, in dem Milliarden Menschen sich in vielseitige Verhältnisse zueinander setzen, aus denen sie vielfachen Nutzen ziehen, von denen aber auch ihr Überleben und ihre konkret-alltäglichen Lebensbedingungen abhängen, sind solche Überlegungen ohnehin unerheblich: Transparenz der konkreten menschlichen Beziehungen im Weltmaßstab ist für einen einzelnen Menschen nicht zu erhoffen, unmittelbarer Kontakt zu allen anderen Gesellschaftsmitgliedern illusorisch. Marx' Vorstellungen vom Potential eines „Verein[s] freier Menschen“ ( K I: II.8/106f; 23/92) enthalten aber zumindest die Hoffnung, dass die tatsächlichen Beziehungen zwischen den Menschen auch im Weltmaßstab eine vermittelte Unmittelbarkeit annehmen können, die ihnen nicht zugleich als fremde und feindliche Macht entgegentritt.

Adorno fasst prägnant zusammen, dass die Suche nach Ursprünglichkeit sowohl einer Sehnsucht nach unvermittelter Unmittelbarkeit geschuldet ist – und sich selbst damit als durchaus kritisch gegen tradiert-verhärtete Formen gesellschaftlicher Praxis auffasst – als auch einem herrschaftlichen und ideologischen Interesse, vermeintlich nicht-entfremdete Motive gegen die Komplexität moderner Verhältnisse innerhalb dieser Verhältnisse auszuspielen:

„Die Kategorie der Wurzel, des Ursprungs selbst ist herrschaftlich, Bestätigung dessen, der zuerst drankommt, weil er zuerst da war; des Autochthonen gegenüber dem Zugewanderten, des Seßhaften gegenüber dem Mobilen. Was lockt, weil es durchs Abgeleitete, die Ideologie, nicht sich beschwichtigen lassen will, Ursprung, ist seinerseits ideologisches Prinzip.“ (Adorno 1997: 158)

Wer den Marxschen Entfremdungsbegriff als einen der Epochenbrüche begreift, könnte leicht zu der Vorstellung kommen, dass ein Zurück zu vermeintlich nicht-entfremdeten Zuständen eine Option der offenen gesellschaftlichen Zukunft sei. Solche Vorstellungen werden von Marx allerdings schon in seinen Texten zwischen 1843 und 1845 als naiv und illusorisch im Angesicht geschichtlich-gesellschaftlicher Prozesse abqualifiziert, in denen die Menschen sich zunehmend ihre Welt aneignen und ihren Bedürfnissen gemäß umwandeln, damit auch beständig ihre eigenen Lebensgrundlagen, die Weisen ihrer Praxis und sogar sinnlichen Wahrnehmung verändernd.[20] Um dies zu belegen, lohnt es sich, Passagen zu betrachten, in denen er die Ursprünglichkeits-Kategorie kritisch diskutiert.

Eine Zurückweisung des affirmativen Gebrauchs von Ursprünglichkeit findet sich bereits in KHR (vgl. A1): Die Niederträchtigkeit von gestern legitimiert nicht die von heute.[21] Nur weil etwas älter ist, ursprünglicher, muss es nicht gut oder besser sein. Ursprung oder historische Vorgängigkeit sind also keine affirmativen Kategorien bei Marx. Die deutsche Freiheitsgeschichte in die teutonischen Urwälder zu verlegen, liefert keinerlei Unterscheidungskriterium zwischen der Freiheitsgeschichte der Menschen und der der Eber. Unhistorische Auffassungen blamieren sich folglich durch ihre Unterkomplexität im Angesicht der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse.

In Ms 44 finden sich mehrere, inhaltlich komplexere Zurückweisungen von Ursprungsvorstellungen. So rekurriert Marx zwar z. B. mit der pejorativen Bestimmung des schmutzigen Eigennutzes als der Wurzel des Grundeigentums positiv auf eine Basis dieses Eigentums, die sich als Ursprungskategorie deuten lässt (vgl. A2). Ich würde allerdings den Begriff der Wurzel hier eher als Wesensbestimmung eines selber historisch-gesellschaftlichen Phänomens, des Grundeigentums, ansehen, bei dem es ihm gerade um das Aufzeigen des gesellschaftlich-historischen Wandels der Erscheinungsweisen dieses Wesens geht: Das Grundeigentum löst sich im Privateigentum auf, weil das Privateigentum die vollständigere historisch erreichte Daseinsweise des schmutzigen Eigennutzes ist, sein Wesen vergeht also historisch, weil es von einem anderen Wesen aufgesogen wird. Der Ursprung des Privateigentums wird in die geschichtliche Bewegung des Privateigentums selbst hineingerissen und strukturell umgewandelt. Die Ursprungskategorie taugt also nicht dafür, die gewandelten Formen, die aus ihr erwachsen, zu begreifen.

Marx macht der Nationalökonomie zum Vorwurf, dass sie abgeleitete Phänomene als eigenständige auffasst, die mit dieser Eigenständigkeit gegen das in Stellung gebracht werden, woraus sie tatsächlich unselbständig resultieren (vgl. A3). Er betont den Zusammenhang der Bewegung, also den historischen Vermittlungszusammenhang, in dem die Kategorien aufeinander verwiesen sind und sich ineinander verschlingen. Diese Verschlingung nicht zu analysieren und begrifflich darzustellen, sondern stattdessen unabhängige Prinzipien zu postulieren, die scheinbar auf eigengesetzlichen Ursprünglichkeiten, unvermittelten Unmittelbarkeiten beruhen, welche sich feindlich gegenüberstehen, wirft Marx den klassischen Nationalökonomen immer wieder vor[22], da sie dadurch den Vermittlungszusammenhang des Gegenstandes nicht begreifen können. Urzustände sind erdichtet und erklären zudem nichts, weil sie sich gerade vor dem Begreifen der geschichtlich fortschreitenden Vermittlungsverhältnisse drücken, um deren Erhellung es Wissenschaft einzig gehen kann (vgl. A4). Schlimmer noch: Ursprungsvorstellungen setzen häufig gerade etwas als Ursprung von etwas anderem, wo tatsächlich das Andere historisch und/oder gesellschaftslogisch ursprünglicher ist als das Etwas (vgl. A5). Ursprungsvorstellungen werden hier von Marx konkret an den Kategorien des Privateigentums und der entäußerten Arbeit als ideologisch ausgewiesen. Zudem betont er, dass Verhältnisse von Ursache und Wirkung im historischen Prozess sich derart weiterentwickeln können, dass eine Wechselwirkung zwischen Ursächlichem und Abgeleitetem entsteht: In realgeschichtlich gesetzten dialektischen Verhältnissen bestimmen sich die einzelnen Momente wechselseitig und so wird auch das historisch Abgeleitete zur Bedingung der Möglichkeit des historisch Vorgängigen. Dialektik erweist sich somit als adäquate Denkkonstellation für veränderliche Bestimmungen im historischen Prozess.

Die Begründung der Entfremdung aus dem Wesen der menschlichen Entwicklung funktioniert für Marx über die Analyse der Verhältnisse der Menschen zueinander. Das Privateigentum erscheint als ein von den Menschen unabhängiges Phänomen, also als eigengesetzlich (vgl. A6). Sein Ursprung, seine Genese oder seine historische Entfaltung liegen durch diese Betrachtung im Dunkeln, denn tatsächlich handelt es sich beim Privateigentum um ein gesellschaftliches Verhältnis, das historisch also auf den Entwicklungsgang der gesellschaftlichen Menschen zurückgeführt werden kann. Hier schimmert ein Moment der späteren Kritik am Fetischcharakter der Ware durch: „Ihre eigne gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (K I: II.8/103; 23/89) Das Privateigentum selbst erscheint als menschenunabhängige Sache.

Marx hält fest, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse auch die Natur der Menschen wandeln, mithin auch die menschliche Natur nicht einfach ursprünglich gegeben ist, sondern einem Wandel unterliegt, der nicht bloß evolutionsgeschichtlich aufzufassen ist, sondern ebenso gesellschaftsgeschichtlich (vgl. A7). Eine vermeintlich ursprüngliche Natur des Menschen wird also dementiert, sie selbst ist historisch gegeben und einem steten Wandel unterworfen. Weiterhin ist hier interessant, dass für Marx Telos wichtiger als Ursprung ist: Im Geschlechterverhältnis sei ablesbar, inwieweit die Bedürfnisse der Menschen menschliche sind, also sich auf Menschen beziehen und ein Gemeinwesen konstituieren und gestalten. Gesellschaft erscheint so als durchaus positiv konnotiertes Ziel menschlicher Bedürfnisse, während der Blick auf vermeintliche Ursprünge des Menschen höchstens rudimentäre Gemeinwesen zutage fördern könnte, in denen das universelle Wesen der Menschen kaum entfaltet ist.

Marx hält in Ms 44 zwei Momente fest, die ein Interesse an Ursprungsvorstellungen motivieren: Einerseits treibt eine Sehnsucht nach Autonomie die Menschen dazu, sich selbst als ursprünglich begreifen zu wollen, andererseits treibt die historisierende Logik von Ursache und Wirkung das Denken zur Sehnsucht nach einem Ende des regressum ad infinitum, des unendlichen Denkprogresses in einer ersten Ursache aller weiteren Wirkungen (vgl. A8). Beide Motivationen weist Marx zurück: Eine absolute Autonomie des Menschen ist schon ganz unabhängig von gesellschaftlichen Zusammenhängen durch den Verweis auf die Entstehung jedes Individuums aus der Praxis vorangegangener, dieses Individuum zeugender Individuen nicht haltbar. Und die Frage nach dem Beginn des unendlichen Progresses versetzt sich abstrakt-spekulativ in eine Situation, die in logischem Widerspruch mit der konkreten, wirklichen Situation des Individuums steht. Doch Marx rettet die Sehnsucht der Menschen nach Autonomie auch (vgl. A9): Nicht als vereinzelte Einzelne, wohl aber als historische Gattung bringen die Menschen sich selbst innerhalb des Naturzusammenhangs hervor. Die Verwiesenheit auf den Naturzusammenhang betont auch im antizipierten Jenseits von entfremdeten, die Selbstständigkeit untergrabenden Gesellschaftsformen, also in Sozialismus und Kommunismus, dass die menschliche Autonomie niemals absolut ist, sondern relativ zu ihren materiellen Voraussetzungen bleibt. Interessant für die Ursprungskategorie ist hier vor allem, dass Marx den jeweiligen historischen Zustand der menschlichen Verhältnisse als den relevanten Umstand ansieht, wogegen der Ursprung der menschlichen Gattung weitgehend uninteressant ist. Mit der Feststellung, dass selbst die Zurückweisung eines fremden Wesens als desjenigen, das die Menschen hervorgebracht hat, dass also der Atheismus historisch wegen der Trivialität seiner Erkenntnis im Sozialismus überholt ist, verweist Marx auf die Relevanz der Religionskritik gerade auch für die Kritik affirmativer Ursprungsvorstellungen.

[...]


[1] Vgl. z. B. die Hauptdefinition des Entfremdungsbegriffs in der deutschen Wikipedia-Sektion: „ Entfremdung bezeichnet einen individuellen oder gesellschaftlichen Zustand, in dem eine ursprünglich natürliche Beziehung (zwischen Menschen, Menschen und Arbeit, Menschen und dem Produkt ihrer Arbeit sowie von Menschen zu sich selbst) aufgehoben, verkehrt oder zerstört wird.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Entfremdung, 06.12.2011)

[2] Um nur eine vage, schlaglichtartige Vorstellung von der Diskussionsbreite zum Entfremdungsbegriff zu geben: Im Entfremdungsartikel des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Ritz 1972: 509-525) werden von Aristoteles über Augustinus bis Rousseau, Humboldt, Hegel, Schelling, Feuerbach, Bauer 23 Autoren der Philosophie- und Theologiegeschichte vor Marx und Engels explizit diskutiert, die den Begriff der Entfremdung bzw. seine altgriechischen und lateinischen Vorgänger verwendeten. Nach Marx werden z. B Korsch, Lukács, Adorno, Marcuse, Heidegger und Sartre, insgesamt ebenfalls 23 Autoren explizit diskutiert. Grigats Urteil, der Entfremdungsbegriff tendiere „zum pseudokritischen Allgemeinplatz“ (Grigat 2007: 68), reflektiert den inflationären Gebrauch des Begriffs, der sich im Zuge der Debatten der 1960er und 1970er durchsetzte. Zurek bspw. reflektiert in seiner knappen, auf psychologische Debatten fokussierten Diskussion von AutorInnen, die auf den Entfremdungsbegriff Bezug nehmen (vgl. insbesondere Zurek 2007: 10-19), auf das „An- und Abfluten seiner Benutzung überhaupt“ (ebd.: 10). Er konstatiert etwa, dass begrifflich anders kodifizierte Debatten der „Mainstream-Psychologie“ in ihrem latenten „Bedeutungsumfang auf die Entfremdungsthematik“ verweisen und in der Klinischen Psychologie „das Entfremdungsproblem meist verborgen in diagnostischer Nomenklatur und individuell zugeschrieben auf[tauche] als: Isolation, Kontaktproblematik, Borderline-Syndrom und Depersonalisation.“ (ebd.: 21). Eine Google-Suche bloß nach der deutschen Variante „Entfremdung“ am 24.11.2011 ergab ca. 910.000 Treffer. Meine Ausarbeitung geht nicht weiter auf die Traditionen des Entfremdungsbegriffs ein, auch nicht auf die Rolle des Begriffs bei Autoren wie Hegel oder den Jungehegelianern, die den Entfremdungsbegriff von Marx stärker beeinflussten. Mein Fokus liegt stattdessen auf Marxschen Schriften zwischen 1843 und 1845 sowie auf einigen Autoren, die diese Schriften diskutieren.

[3] Ich folge damit der Einschätzung von z. B. Oppolzer: „Auch wenn anstelle des Begriffs E[ntfremdung] im Spätwerk vielfach andere Begriffe wie Verdinglichung, Vergegenständlichung oder Verselbständigung o.ä. gebraucht werden und auch wenn Marx und Engels verschiedentlich gegen idealistisch vorgeprägte Begriffe polemisieren […], kann keineswegs gefolgert werden, dass die E[ntfremdungs]-Konzeption in der Entwicklung vom ›jungen‹ zum ›alten‹ bzw. ›reifen‹ Marx einen Bruch aufweist oder etwa an Bedeutung verliert […]. Mit der Entfaltung der historisch-materialistischen Theorie wird auch die E[ntfremdungs]-Konzeption weiterentwickelt.“ (Oppolzer 1997: 461) Auch Mészáros vertritt diese Position, wie ich in Abschnitt 2.2.3 darstelle.

[4] Fortschrittlich aus dem Blickwinkel der Intention zur Verwirklichung der Utopie eines „Verein[s] freier Menschen“ ( K I: II.8/106f; 23/92) sind die bürgerlichen Verkehrsformen bspw. darin, dass sie persönlich-unmittelbare Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse delegitimieren, durch Säkularisierung und Selbstermächtigung einer potentiell sich vor jedem Einzelmenschen ausweisen müssenden Vernunft Ideologiekritik ermöglichen und herausfordern, sowie insbesondere darin, dass sie eine drastische Entfesselung der menschlichen Produktivkräfte durch Verwissenschaftlichung der Produktionsmethoden bewirken. Die dieser bürgerlichen Fortschrittlichkeit immanente Irrationalität wird von Marx mit dem Entfremdungsbegriff reflexiv sichtbar gemacht: Herrschaftsverhältnisse bleiben als insbesondere über den Markt vermittelte erhalten, Religionen als privativer Eskapismus unangetastet, Legitimationsideologien des gesellschaftlichen Status quo immunisieren sich gegen die Erfahrung des in diesem produzierten menschlichen Elends, die ökonomischen Verkehrsformen selbst erscheinen als sakrosankt-naturwüchsige Sachzwänge dem verändernden Eingriff der Menschen entzogen und die Entfesselung der Produktivkräfte bleibt notwendig hinter ihren gesellschaftlichen Möglichkeiten zurück.

[5] Vgl. z. B.: „Im Gegensatze ist die bestimmte Reflexion, der Unterschied vollendet. Er ist die Einheit der Identität und der Verschiedenheit; seine Momente sind in einer Identität verschiedene; so sind sie entgegengesetzte.“ (Hegel 1969: 55)

[6] „Bei Marx und seinen Nachfolgern überwiegt freilich, wo geschichtliche Formationen – insbesondere der zerrissene Zusammenhang der kapitalistischen Gesellschaft – strukturanalytisch charakterisiert werden sollen, der Begriff des Widerspruchs. Inhaltlich bedeutet dies zumeist, dass die herzustellende Perspektive der Vermittlung sozialer G[egensätz]e in die Einheitsperspektive einer logisch-geschichtlichen Totalität überführt wird.“ (Reitz 2001: 15)

[7] Durchsucht man den zweiten Band der digitalen Bibliothek (Hansen 2002), der u. a. umfangreiche Teile des Hegelschen Werks in digitalisierter Form vorhält, mit Wildcard nach „diametr*“, so ergibt sich bei Hegel keine Fundstelle. Marx spricht selten von diametralen Gegensätzen bzw. Widersprüchen, z. B. dreimal im ersten Band des Kapitals (vgl. K I: II.8/120, 472, 714; 23/109, 512, 729). Selbstverständlich lässt sich auch bei „auf den Durchmesser bezogenen“ Gegensätzen eine dialektische Sichtweise betonen, die die vermittelnde Einheit des Entgegengesetzten herausstellt – bezogen auf zwei Punkte auf einem Kreis, die sich so gegenüber liegen, dass ihre Verbindungsstrecke durch den Kreismittelpunkt verläuft z. B. ihre gemeinsame Eigenschaft, auf dem Kreis zu liegen und über den Kreismittelpunkt miteinander in direkter Verbindung zu stehen. Dennoch scheint mir der Gebrauch des Attributs diametral für einen Gegensatz im Alltagssprachgebrauch gerade das radikal Trennende zu betonen und das Gemeinsame tendenziell zu verneinen.

[8] Wie ich noch thematisieren werde wohl aber eine plausible Struktur-Interpretation insbesondere von Ms 44.

[9] Die logische Kategorie des Wesens hingegen spielt auch im Marxschen Spätwerk weiterhin eine Rolle, was Heinrich bekannt ist: „Mit Wesen sind jetzt keine normativen Vorstellungen gemeint, die der empirischen Wirklichkeit gegenüberstehen, sondern die nicht-empirischen Begriffsbildungen, die das Begreifen des empirisch Erscheinenden erst ermöglichen.“ (Heinrich 2001: 175). Nur um drei Beispiele anzugeben: Im ersten Band des Kapitals spricht Marx unter anderem vom Wesen der Kooperation (vgl. K I: II.8/335; 23/359), vom Wesen der kapitalistischen Produktionsweise (vgl. K I: II.8/466; 23/506) und vom Wesen der großen Industrie (vgl. K I: II.8/468; 23/508).

[10] Selbstverständlich ließe sich auch Monals Auffassung, die ich als Epochenbruch betitelt habe, als eine Historisierung des Wesensbegriffs auffassen: Das Gattungswesen war einst vorhanden, ging mit der Entfremdung aber verloren und muss nun in einem nächsten historischen Schritt wieder angeeignet werden. Während aber Monal durch die Epochenbrüche gerade eine statische Vorstellung vom Gattungswesen suggeriert, das bloß einer ihm scheinbar äußerlichen historischen Dynamik unterworfen zu sein scheint, hat Heinrich klargestellt, dass das Gattungswesen mit der Arbeit stets neu produziert wird und daher eine innere Geschichtlichkeit besitzt. Braun bringt dies auf den Punkt: Das menschliche Wesen ist nicht bloß einer äußeren Geschichte unterworfen, sondern seinem eigenen Gehalt nach ein geschichtliches Wesen, ein sich wandelndes Wesen.

[11] Und expliziter: „In die Gegenständlichkeit des menschlichen Gattungswesens ist auch Geschichtlichkeit eingeschlossen“ (Heinrich 2001: 111).

[12] Im Kapital taucht der Begriff der Gattung durchaus vereinzelt auf und an einer Stelle sogar genuin in dem historisch-materialistischen Sinne, den er in Ms 44 erhalten hat: „Im planmäßigen Zusammenwirken mit Andern streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ ( K I: II.8/327; 23/349)

[13] Beispielsweise analysiert Marx zwar in Ms 44, dass der Arbeiter zur Ware wird, sich selbst zur Ware macht (vgl. Ms 44: I.2/364; 40/511), hat aber noch keinen Begriff der Ware Arbeitskraft im Unterschied zur Arbeit als der Anwendung dieser Ware (vgl. insbesondere K I: II.8/183ff; 23/181ff).

[14] Heinrich reflektiert durchaus auf die hermeneutischen Probleme, die sich wie bei aller Textinterpretation so auch mit der Konstatierung eines Bruchs in der Entwicklung eines Theoretikers ergeben, hegt aber auch den Selbstanspruch, einen solchen Bruch bei Marx immanent nachweisen zu können: „Bereits die Identifikation einer Veränderung der Theorie als Ausdruck eines Bruchs stellt einen konstruktiven Akt dar. Denn nicht jeder Wechsel, der bei einem Autor stattfindet, kann als Bruch mit seiner bisherigen Problematik aufgefaßt werden. Das Kriterium, ob eine Veränderung ein Bruch ist oder nicht, kann aber dem Text selbst nicht äußerlich sein; dann würde man ihn nur als Bestandteil eines übergreifenden, bereits interpretierten Textes auffassen. Dieses Kriterium ist vielmehr selbst Bestandteil der Interpretation des Bruchs und muß innerhalb dieser Interpretation begründet werden.“ (Heinrich 2001: 88)

[15] Und z. B. auf einem vor-Feuerbachschen Standpunkt, polemisiert dieser doch beispielsweise gegen die Mode seiner Zeit, der „der Name für die Sache gilt“ (Feuerbach 1959: 241), und reflektiert er doch auch ähnlich wie Marx mit dessen Unterschied von philosophischer Phraseologie und wirklicher Entwicklung darauf, dass ein Name für seine neue Philosophie dazu verleiten würde, sie mit der alten Philosophie zu identifizieren (vgl. ebd.: 242).

[16] Heinrich kann durch diese undialektische Konstruktion nicht bloß Widersprechendes harmonisch nebeneinander stehen lassen, indem er es als durch die Diagnose des Bruchs hinreichend problematisiert darstellt, sondern verfängt sich selbstverständlich auch in eigene Widersprüche. So versucht er über den konkreten Inhalt von Ms 44 die Eigengesetzlichkeit der Struktur nachzuweisen, die doch aber gerade unabhängig vom konkreten Inhalt sein soll. „Insofern kann man zwar wie die Herausgeber der MEGA davon sprechen, »daß Marx auf philosophisch-materialistische Positionen übergegangen war« (I.2/12*), entscheidend ist aber, daß der Marxsche Diskurs immer noch der Problematik des Widerstreits von Wesen und Existenz, Idee und Wirklichkeit verhaftet ist. Die Hegelkritik von Feuerbach und Marx, die Subjekt und Prädikat vertauscht, steht immer noch auf dem Boden der Wesensphilosophie. Das Wesen ist jetzt das Gattungswesen des Menschen und die ihm gegenüberstehende Wirklichkeit wird als dessen entfremdete oder wahre Objektivierung aufgefaßt.“ (Heinrich 2001: 96) Indem Heinrich hier eine inhaltliche Interpretation zum Zusammenhang von Gattungswesen und entfremdeter versus wahrer Objektivierung unterlegt, will er seine These von der Eigengesetzlichkeit der wesensphilosophischen theoretischen Problematik legitimieren, die den Inhalt auch gegen dessen eigene Entwicklung formiert.

[17] Ich halte diese Charakterisierung Feuerbachs für falsch, vgl. dazu den Abschnitt 2.2.4.

[18] Dass der sich in der Philosophiegeschichte vielfältig artikulierende Drang nach begrifflicher Stabilität eine sublimierte und ideologische Form realgesellschaftlicher Herrschaftsstabilisierung darstellt, ist eine zentrale Auffassung von Adorno „Jenseits des identitätsphilosophischen Zauberkreises läßt sich das transzendentale Subjekt als die ihrer selbst unbewußte Gesellschaft dechiffrieren. Ableitbar ist noch solche Unbewußtheit. Seitdem die geistige Arbeit von der körperlichen sich schied im Zeichen der Herrschaft des Geistes, der Rechtfertigung des Privilegs, mußte der abgespaltene Geist mit der Übertreibung schlechten Gewissens eben jenen Herrschaftsanspruch vindizieren, den er aus der These folgert, er sei das Erste und Ursprüngliche, und darum angestrengt vergessen, woher sein Anspruch kommt, wenn er nicht verfallen soll. Zuinnerst ahnt der Geist, daß seine stabile Herrschaft gar keine des Geistes ist, sondern ihre ultima ratio an der physischen Gewalt besitzt, über welche sie verfügt. Sein Geheimnis darf er, um den Preis des Untergangs, nicht Wort haben.“ (Adorno 1997: 179)

[19] M. E. ist der Begriff des Gattungswesens in Ms 44 weitgehend synonym mit dem der Gesellschaft (vgl. Abschnitt 3.6.1 sowie Anhang 6). Eine der entscheidenden Stellen für eine solche Lesart ist das gerade diskutierte Marx-Zitat, in dem gesellschaftliches Leben und Gattungsleben augenfällig synonym verwendet werden.

[20] Zur Geschichte der großen Industrie gehört etwa ihre revolutionäre Durchschlagskraft auf materielle Lebensgrundlagen und soziale Verkehrsformen der Menschen, was Marx im Kapital plastisch beschreibt, z. B.: „In der Sphäre der Agrikultur wirkt die große Industrie insofern am revolutionärsten, als sie das Bollwerk der alten Gesellschaft vernichtet, den »Bauer«, und ihm den Lohnarbeiter unterschiebt. Die socialen Umwälzungsbedürfnisse und Gegensätze des Landes werden so mit denen der Stadt ausgeglichen. An die Stelle des gewohnheitsfaulsten und irrationellsten Betriebs tritt bewußte, technologische Anwendung der Wissenschaft.“ ( K I : II.8/481; 23/528) Bereits in Ms 44 artikuliert Marx diese Relevanz von Industrie und Naturwissenschaft (vgl. z. B. A70).

[21] In den folgenden Ausführungen des gesamten Abschnitts 3 rekapituliere ich die im Anhang aufgeführten Zitate. Diese Rekapitulationen sind teilweise sehr detailliert, teilweise eher global. Grundsätzlich verzichte ich bei diesen Rekapitulationen auf den Konjunktiv der indirekten Rede, weil dieser Verzicht meines Erachtens einerseits der Lesbarkeit des Textes zugute kommt, andererseits keine Distanzierung von mir suggeriert, die ich so nicht empfinde. Zudem scheint mir der Indikativ auch inhaltlich angemessener für mein Vorhaben einer Rekonstruktionen der mich interessierenden Aspekte des frühen Marxschen Werks. Vereinzelt nutze ich den Konjunktiv, wo ich unmittelbar skeptisch gegenüber den Ausführungen von Marx bin. Wo ich die Marxschen Texte kritisch reflektiere, geht dies aus dem Inhalt meines Textes hervor.

[22] Vgl. z. B. die Kritik am vor allem bei Adam Smith wichtigen Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“, K I: II.8/667ff; 23/741ff.

Ende der Leseprobe aus 192 Seiten

Details

Titel
Entfremdung und Gattungswesen bei Marx (1843-1845)
Hochschule
Universität Bremen
Note
1,5
Autor
Jahr
2012
Seiten
192
Katalognummer
V263662
ISBN (eBook)
9783656524410
ISBN (Buch)
9783656526988
Dateigröße
1858 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
entfremdung, gattungswesen, marx
Arbeit zitieren
Bert Grashoff (Autor:in), 2012, Entfremdung und Gattungswesen bei Marx (1843-1845), München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263662

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