Den Begriff der Entfremdung umrankt eine ausufernde Debattenkultur. In verschiedensten akademischen Disziplinen taucht er als mehr oder weniger kritisch gemeinte Kategorie auf, deren allgemeinster Gehalt in kaum mehr besteht als dem negativen Befund, dass die historisch vorgefundenen Bedingungen der Lebendigkeit sich gegen die lebendigen Impulse wenden und verhärten. In dieser banalen Allgemeinheit ist er reflexiver Ausdruck einer versklavten Subjektivität, die ihre Versklavung wenigstens noch zu benennen und dadurch zumindest negativ Raum für Befreiung zu eröffnen sucht. Die Diagnosen darüber, was Entfremdung im Detail meint, was sie verursacht und wie sie zu überwinden wäre, bilden ein breites Spektrum, das von den theoretischen und weltanschaulichen Überzeugungen der jeweiligen Subjekte geprägt ist. Eine wirkmächtige Position in den Debatten über den Entfremdungsbegriff findet sich in den sogenannten Frühschriften von Karl Marx, die in den Jahren 1843 bis 1845 entstanden. Die Interpretationen des gesellschaftskritischen Marxschen Entfremdungsbegriffs sind vielfältig und stellen ihrerseits ein breites Spektrum unterschiedlichster Deutungen dar.
Durch detaillierte Analyse der Marx-Texte "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie", "Zur Judenfrage", "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung", "Thesen über Feuerbach" und insbesondere "Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844" weist Bert Grashoff in seiner Magisterarbeit Positionen als Fehlverständnis aus, die dem Marxschen Entfremdungsbegriff die Konstruktion eines Epochenbruchs à la Biblischem Sündenfall unterstellen, wonach in früheren, vorbürgerlichen historischen Phasen dem Marxschen Verständnis nach angeblich entfremdungslose menschliche Beziehungen die Regel gewesen sein sollen. Dem sich in den Frühschriften entwickelnden Konzept eines historisch-dialektischen Materialismus in gesellschaftsrevolutionierender Absicht ist die Sehnsucht eines back to nature ebenso fremd wie die Vorstellung einer unhistorischen Authentizität der Menschen. Einen historischen Bruch markiert Entfremdung bei Marx höchstens für die Zukunft als negativer Begriff, dessen historisch-spezifischer Inhalt der Utopie eines Vereins freier Menschen entgegensteht. Die mit der Begrifflichkeit des entfremdeten Gattungswesens gesetzte gesellschaftskritischen Analysen, die sich pointiert gegen die in bürgerlicher Gesellschaft vergötterte Eigentumskategorie wenden, werden dabei grundlegend beleuchtet.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Zu dieser Ausarbeitung
- 1.1 Meine Fragestellung
- 1.2 Zur Struktur dieses Textes
- 1.3 Zur Form meiner Darstellung
- 2 Entfremdung als undialektischer Epochenbruch
- 2.1 Isabel Monal: Verlust und Wiedererlangung des Gattungswesens
- 2.2 Michael Heinrich und Stefan Grigat: Überwindung von Wesensphilosophie und Entfremdungsbegriff
- 2.2.1 Marx' Anthropologie: Gattungswesen konstituiert sich als entfremdetes
- 2.2.2 Bruch im Marxschen Werk
- 2.2.3 István Mészáros' gegenteilige Auffassung: Kontinuität des Marxschen Werks
- 2.2.4 Heinrichs Anthropologismus-Vorwurf
- 2.2.5 Mészáros' Interpretation der Marxschen Anthropologie
- 2.2.6 Heinrichs Individualismus-Vorwurf an den jungen Marx
- 3 Historische Entfaltung des Gesellschaftlichen als Dialektik von Gattungswesen und seiner Entfremdung
- 3.1 Ursprünglichkeit wird abgewiesen
- 3.2 Dialektik von Entfremdung und Gattungswesen
- 3.2.1 KHS: Staat als formelle Allgemeinheit tritt der Gesellschaft als fremde Macht gegenüber
- 3.2.2 Judenfrage: Drei Sphären der Entfremdung – Religion, Staat und Ökonomie
- 3.2.3 KHR: Religionskritik führt zu Entfremdungs- und Partikularitätskritik
- 3.2.4 Ms 44 (1): Die Menschen produzieren gesellschaftlich ihr Gattungswesen
- 3.2.5 Ms 44 (II): Je mehr Gattungswesen, desto mehr Entfremdung
- 3.2.6 Ms 44 (II-a): Trennung von Arbeit und Kapital
- 3.2.7 Ms 44 (II-b): Privateigentum als entfremdetes Gattungswesen
- 3.2.8 Ms 44 (II-c): Teilung der Arbeit als entfremdete Gattungstätigkeit
- 3.2.9 Ms 44 (II-d): Kapital als tote Arbeit und fremde Macht
- 3.2.10 Ms 44 (II-e): Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation
- 3.2.11 Ms 44 (II-f): Geld als entfremdetes Gattungswesen und Verkehrung
- 3.2.12 Ms 44 (II-g): Unglück der Gesellschaft als Zweck der Nationalökonomie
- 3.2.13 Ms 44 (III): Gattungswesen ist noch nicht, sondern wird erst
- 3.3 Vierfacher Entfremdungsbegriff der Arbeit
- 3.4 Historizität der Wesensbegrifflichkeit
- 3.4.1 KHS: Menschliches Wesen ist sozial, historisch und praktisch
- 3.4.2 Judenfrage: Flimmernde Wesensbestimmungen
- 3.4.3 Ms 44: Arbeit, Industrie und Naturwissenschaft als Produzenten des menschlichen Wesens
- 3.4.4 ThF: Historisches und gesellschaftliches Wesen des Menschen
- 3.5 Rückkehr aus der Entfremdung und Wiederaneignung des Entfremdeten
- 3.6 Zu den Anhängen 6 bis 10
- 3.6.1 Gattungswesen und Gesellschaft
- 3.6.2 Dialektik von Individuum und Gesellschaft
- 3.6.3 Wirklich menschliches Wesen
- 3.6.4 Feuerbach-Kritikfigur: Verkehrung muss real-praktisch sein
- 3.6.5 Erste und zweite Natur
- 4 Resümee
- 4.1 Entfremdung und Gattungswesen entfalten sich in dialektischer Einheit
- 4.2 Marx provoziert vereinzelt das Fehlverständnis eines Epochenbruchs in seinem Entfremdungsbegriff
- 4.3 Alternative Interpretationen, die das Fehlverständnis umgehen
- 4.4 Praktische Revolutionierung der Verhältnisse als leitendes Interesse der Begriffe von Entfremdung und Gattungswesen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Magisterarbeit untersucht Marx' Verständnis von Entfremdung und Gattungswesen in seinen Schriften von 1843 bis 1845. Ziel ist es, das verbreitete Missverständnis zu widerlegen, dass Marx' Entfremdungsbegriff einen Bruch mit einem ursprünglichen, nicht-entfremdeten Zustand darstellt. Stattdessen wird die These vertreten, dass sich Entfremdung und Gattungswesen bei Marx dialektisch entwickeln.
- Marx' Entfremdungsbegriff in den Schriften von 1843-1845
- Die Dialektik von Entfremdung und Gattungswesen
- Kritik an bestehenden Interpretationen des Entfremdungsbegriffs
- Die Rolle des Gattungswesens in der gesellschaftlichen Entwicklung
- Die Bedeutung der Arbeit für das Verständnis von Entfremdung
Zusammenfassung der Kapitel
1 Zu dieser Ausarbeitung: Dieses einleitende Kapitel beschreibt die Forschungsfrage der Arbeit. Der Autor beobachtet ein verbreitetes Missverständnis des Marx'schen Entfremdungsbegriffs als einen historischen Bruch mit einem ursprünglichen, nicht-entfremdeten Zustand. Die Arbeit zielt darauf ab, dieses Missverständnis zu untersuchen und zu klären, ob Marx selbst solche Interpretationen impliziert oder ob alternative Lesarten möglich sind. Der Fokus liegt auf den Schriften von Marx zwischen 1843 und 1845.
2 Entfremdung als undialektischer Epochenbruch: Dieses Kapitel analysiert verschiedene Interpretationen des Marx'schen Entfremdungsbegriffs, insbesondere die Ansichten von Isabel Monal, Michael Heinrich und Stefan Grigat, und István Mészáros. Es wird die Debatte um die Frage beleuchtet, ob Marx einen historischen Bruch in seinem Werk bezüglich des Entfremdungsbegriffs vollzogen hat oder ob eine Kontinuität besteht. Die verschiedenen Argumente und Interpretationen werden im Detail gegenübergestellt.
3 Historische Entfaltung des Gesellschaftlichen als Dialektik von Gattungswesen und seiner Entfremdung: Dieses Kapitel bildet den Kern der Arbeit und analysiert die Entwicklung von Entfremdung und Gattungswesen in verschiedenen Schriften Marx' aus den Jahren 1843-1845 (u.a. KHS, Judenfrage, KHR, Ms 44, ThF). Es wird gezeigt, wie Marx die Entfremdung als einen Prozess innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung versteht, der eng mit dem Gattungswesen verknüpft ist. Die Analyse umfasst verschiedene Aspekte der Entfremdung, wie die Entfremdung in der Arbeit, das Privateigentum und die Teilung der Arbeit. Es wird auch die Rolle der Historizität des Wesensbegriffs bei Marx untersucht.
Schlüsselwörter
Entfremdung, Gattungswesen, Karl Marx, Frühschriften (1843-1845), Dialektik, Arbeit, Privateigentum, Gesellschaftliche Entwicklung, Historizität, Wesensphilosophie, Interpretation.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zur Magisterarbeit: Entfremdung und Gattungswesen bei Marx (1843-1845)
Was ist das zentrale Thema der Magisterarbeit?
Die Magisterarbeit untersucht Marx' Verständnis von Entfremdung und Gattungswesen in seinen Schriften zwischen 1843 und 1845. Sie konzentriert sich auf die Widerlegung des weit verbreiteten Missverständnisses, dass Marx' Entfremdungsbegriff einen Bruch mit einem ursprünglichen, nicht-entfremdeten Zustand darstellt. Stattdessen wird die These vertreten, dass sich Entfremdung und Gattungswesen bei Marx dialektisch entwickeln.
Welche Schriften von Marx werden analysiert?
Die Arbeit analysiert verschiedene Schriften Marx' aus den Jahren 1843-1845, darunter die "Kritik des Hegelschen Staatsrechts" (KHS), die "Judenfrage", die "Kritik des Hegelschen Rechtsphilosophie" (KHR), die "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" (Ms 44) und die "Thesen über Feuerbach" (ThF).
Welche Interpretationsansätze werden diskutiert?
Die Arbeit diskutiert verschiedene Interpretationen des Marx'schen Entfremdungsbegriffs, insbesondere die Ansichten von Isabel Monal, Michael Heinrich und Stefan Grigat sowie István Mészáros. Im Mittelpunkt steht die Debatte um die Kontinuität oder den Bruch im Marx'schen Werk bezüglich des Entfremdungsbegriffs.
Wie wird die Dialektik von Entfremdung und Gattungswesen dargestellt?
Die Arbeit zeigt, wie Marx die Entfremdung als einen Prozess innerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung versteht, der eng mit dem Gattungswesen verknüpft ist. Die Analyse umfasst verschiedene Aspekte der Entfremdung, wie die Entfremdung in der Arbeit, das Privateigentum und die Teilung der Arbeit. Es wird auch die Rolle der Historizität des Wesensbegriffs bei Marx untersucht.
Welche Schlüsselbegriffe werden in der Arbeit behandelt?
Schlüsselbegriffe sind Entfremdung, Gattungswesen, Karl Marx, Frühschriften (1843-1845), Dialektik, Arbeit, Privateigentum, Gesellschaftliche Entwicklung, Historizität, Wesensphilosophie und Interpretation.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit?
Die Arbeit gliedert sich in vier Kapitel: 1. Einleitung, 2. Entfremdung als undialektischer Epochenbruch, 3. Historische Entfaltung des Gesellschaftlichen als Dialektik von Gattungswesen und seiner Entfremdung und 4. Resümee. Kapitel 3 bildet den Kern der Arbeit und analysiert die Entwicklung von Entfremdung und Gattungswesen in den verschiedenen Schriften Marx'.
Was ist das Fazit der Arbeit?
Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass sich Entfremdung und Gattungswesen bei Marx in dialektischer Einheit entfalten. Sie widerlegt das Missverständnis eines Epochenbruchs in Marx' Entfremdungsbegriff und präsentiert alternative Interpretationen, die dieses Fehlverständnis umgehen. Das leitende Interesse der Begriffe von Entfremdung und Gattungswesen ist die praktische Revolutionierung der Verhältnisse.
- Quote paper
- Bert Grashoff (Author), 2012, Entfremdung und Gattungswesen bei Marx (1843-1845), Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/263662