Leseprobe
Inhalt
Einleitung, Fabel
Handelnde Personen
Motive
Raum und Zeit
Komposition und Sprachstil
Einleitung, Fabel
Der "Ostend-Roman" von Manfred Esser wirft in 37 kurzen Kapiteln auf 256 Seiten ein Schlaglicht auf etwa 16 Stunden im Leben einiger Menschen, die, charakterlich und sozial höchst unterschiedlich in ihre Welt gestellt, dieses Arbeiterviertel im Stuttgarter Osten bewohnen. Indem der Erzähler "eine Welt in ihren Nebensächlichkeiten schildern und sie, sinnfällig, an ihnen erkennen" (S. 2OO) will, beschreibt er so den Arbeits- und Familienalltag der Menschen, spürt ihren Gefühlen, Wünschen, Konflikten und Zwängen nach bis hin zu den politischen Auseinandersetzungen, die in diesem Sommer des Jahres 1971 diskutiert werden.
Handelnde Personen
Der Roman handelt von einer Gruppe von Menschen, die aber wenig mehr gemeinsam haben als Bewohner des selben Stadtteils zu sein. Man kann sie nicht als ein auf ein gemeinsames Ziel hinarbeitendes Kollektiv bezeichnen wie etwa Anna Seghers' "Fischer von St. Barbara", zu groß ist der Widerstreit eigenbrötlerischer Interessen bzw. die Apathie und Selbstbezogenheit der eigenwilligen Charaktere, die z.B. nicht einmal im Streit um formale Fragen der Betriebsverfassung eine gemeinsame Linie finden können (S. 254ff). Anfangs- und Endzustand der erzählten Welt liegen demgemäß nicht weit voneinander entfernt: die Protagonisten haben zwar innerhalb zweier Tage und der dazwischen liegenden Nacht etwas durchlebt und an sich erfahren, aber nichts weist darauf hin, daß es zu einer dauerhaften Änderung ihrer Lebensumstände kommen wird.
Im Verlauf des Romans kommen insbesondere drei Personen ins Blickfeld, die in ihren Gedanken und Äußerungen[1] als einzige zu einigermaßen deutlichen Schlußfolgerungen gelangen. Dabei handelt es sich um den alkoholkranken Schriftsteller Esswein, der mit der Rundfunkredakteurin Frl. Dr. Iris Glück ein Techtelmechtel hat, sowie um den linken Agitator Frank Thiesbrunmel, der als einziger nicht resigniert und immer kämpferisch in die Welt um ihn herum hinausschaut. Anders Frl . Dr. Glück: "... es ist die Natur der Dinge, die in ihr Bewußtsein rückt: eine Arbeit, über dem Kopf ein Dach, Essen, ein Bett, ein jemand, etwas Geld, Bier" (S. 200). "So sah das also aus, das Glück. Bücher, ein Bandgerät, Bier, keine Magengeschwüre, Elektrizität und das tröstende Geräusch eines anderen Atems, Musik aus besoffenem Munde" (S. 204). Immer wieder betont der Erzähler diese Grundkonstanten der erzählten Welt, eine Welt der Täuschung und Enttäuschung, in der weder die Innerlichkeit der Gefühle noch die wunderbare Welt der Waren ein Glück einzulösen vermögen, das sie zu versprechen scheinen: "... eine dicke warme Suppe, welche Liebe, Leben, Arbeit und Alkohol heißt für die Mehrzahl der hiesigen Menschen" (S. 123). Frl. Dr. Glück konstatiert die Schrecken einer rein empirischen Welt ohne Visionen oder Utopien: "Hier sitzt sie, nichtmal einsam und verlassen. Gleichzeitig war gar nichts, nicht die Bohne. Ein sägender Alkoholiker, ein gemietetes Zimmer, ein heimtückischer Job. Vor der Zukunft ein Grauen. Auch nachts ein Dahinaltern" (S. 200).
Was über diesen puren Empirismus hinausgeht, politische Fragen, philosophische oder ethische Gesichtspunkte, wird von den meisten Protagonisten gleich lapidar gesehen: "Gras wächst in den Straßen. Schwer zu sagen wovon, wozu" (S. 216). In einem dumpfen Dahinleben stumpft alles Individuelle ab: "Trichterförmig reiht man sich jetzt in die Straßenbahn ein: Arme, Alte, Arbeiter, Auszubildende, Ausländer und Esswein" (S. 154). "Abbrennen, herunterbrennen gleich Pechfackeln die Leidenschaften des Lebens. (...) Verblüffend die Gleichheit aller umherlaufenden Ichs - jedes mit einer lockenden und einer abstoßenden Rinde, ein jedes vorm Verdursten" (S. 229).
Die anderen Figuren des Romans, weniger sophistisch als der abgehalfterte Esswein oder seine müde Freundin Glück, haben in ihrer verhockt-behäbigen Art die Realität fest im Blick und wissen sich mit ihr zu arrangieren, wie der alteingesessene Wengerter Alfons Hägele, der vermeintlichen Zugriff auf sein Eigentum mit Mord verhindert, oder der Frabrikarbeiter Karle Bergmann, der die Ausführungen des alten Kommunisten Fritz Philipp behaglich mit den Worten kommentiert: "Zu ällem ond jedem g'hört, was es koschtet" (S. 165).
Im Roman sind alle sozialen Schichten vertreten: ganz unten, obdach- und arbeitslos, die "Proletennutte", "Ostendvotze" (S. 27) Hedwig, die das Recht auf einen Nachnamen schon gar nicht mehr hat, abhanden gekommen durch Ausbeutung und Verachtung, in der Flut der Schimpfnamen und Beleidigungen erfahren wir ihn erst ganz am Schluß, um sie von der braven Zugehfrau Hedwig Würtele abzugrenzen: als die "andere" Hedwig. Nicht weniger außerhalb der kleinbürgerlichen Ordnung lebt auch der Fixer Ulli Müller, "schon morgens hängt er in den Seilen, restlos besengt" (S. 24).
So geht es die ganze soziale Stufenleiter rauf und runter, jeder in seinem Tran und Trott, die aus- und inländischen Arbeiter in den Fabrikbetrieben, der bürgerliche Bodensatz wie z.Bsp. der Kaufmann Nelle, im Ostend gestrandet, nach dem Krieg angeschwemmt und behaglich Wurzeln schlagend, oder der alte Nazi Gscheidle, Frührentner, der morgens schon besoffen mit einem "feuchten Bierfurz sein Laken bräunt" (S. 83), bis hin zu den wenigen Bessergestellten und zukünftigen Großbürgern wie z.B. dem Doktoranden Ofringa. Die sozialen Konflikte gehen jedoch nicht tief, sind eher Nichtbeachtung, alltägliche, schon hingenommene Ausbeutung, Suffraufereien. Alle diese "miteinander verkehrenden oder einsamen Leute, von denen sie es hat, die Erzählung" (S. 41) sind viel zu sehr mit sich selbst und den Entäußerungen des Alltags beschäftigt, als daß sie noch zu kollektivem Handeln zusammenfinden könnten, um eine Verbesserung ihres Zusammenlebens und ihrer Lebensumstände zu besorgen. Stattdessen
[...]
[1] "Es werden zwar Äußerungen freigegeben, die jedoch nicht vollauf die Äußerungen oder Gedankengänge derer sind, die sich äußern oder entäußern" (S. 41).