Formen und Funktionen der Paranoia in Darren Aronofkys „Pi“


Seminararbeit, 2011

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung.

2 Verwendungsweisen des Begriffs der Paranoia
2.1 Die klinisch-psychoanalytische Perspektive.
2.2 Paranoia als kulturelles und filmisches Phänomen

3 Auftreten und Funktion der Paranoia in „π“
3.1 Verschwörung der Zahlen oder Erlösung durch Mathematik?
3.2 Die Subjektivität von Erinnerung - Erleuchtung durch Blendung.
3.3 Bindeglieder zur Menschlichkeit
3.4 Religion und Migräne - Halluzination und Realität
3.5 Point of View - Der Sog in Max‘ Welt

4 Fazit

5 Bibliographie

1 Einleitung

1998 erschien Darren Aronofskys erster Spielfilm, „π“. Mit einem zusammengesammelten Budget von nur 60.000$ schuf der sich auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnende Re- gisseur einen beklemmenden Film über einen Mann, der ob seiner Obsession für die Idee ein welterklärendes Muster in Zahlenform zu finden, seine Menschlichkeit und beinahe seinen Verstand verliert. Max Cohen (Sean Gulette) entwickelt im Verlauf des Films immer stärkere paranoisch anmutende Verhaltensmuster und Symptome, die in dieser Arbeit analysiert wer- den sollen.

Die Untersuchung von „π“ soll zeigen, in welcher Form Paranoia hier medial repräsentiert wird. In gewisser Weise steht Aronofskys Erstling in dieser Hinsicht beispielhaft für den Pa- ranoia-Film der 90er Jahre. Derartige Zusammenhänge sollen nach einer kurzen Einführung in das klinisch-individuelle Krankheitsbild der Paranoia skizziert werden. Anschließend soll „π“ unter verschiedenen Leitfragen untersucht werden, wie z.B.: Wird dem Rezipienten hier bloß ein individueller Krankheitsverlauf geschildert? Wie wird er selbst in das Geschehen einbezogen und mit welchen filmischen Mitteln wird eine solche Verknüpfung zwischen Be- trachter und Betrachtetem hergestellt? Verkörpert Max vielleicht mehr als „bloß“ einen Para- noiker im klinisch-psychoanalystischen Sinn? Welche Symptome weist er auf und wie entwi- ckelt sich sein Habitus, sein Charakter?

Es handelt sich bei „π“ um einen extrem durchstilisierten Film. Musik, Geräusche, Einstel- lungen: Sie bilden zusammen ein vollkommen stimmiges, durchdacht ästhetisches Gefüge, dessen Betrachtung auf einer künstlerischen Ebene allein eine Arbeit wie diese füllen könnte. Daher kann die nachfolgende Untersuchung nicht auf alle Stilelemente und Filmtechniken eingehen, die Aronofsky mit seinem Team entwickelt, gestaltet und verwendet. Stattdessen sollen anhand der Analyse des Protagonisten Max Cohen (Sean Gulette) verschiedene Mittel beispielhaft aufgezeigt und ihre Wirkung dargestellt werden, sofern sie unmittelbar auf das Thema dieser Arbeit Bezug nehmen.

Auch aus diesem Grund kann für die nachfolgende Untersuchung kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden.

2 Verwendungsweisen des Begriffs der Paranoia

Nachfolgend sollen grundlegende Merkmale der Paranoia aus psychoanalytischer und kultur- wissenschaftlicher Sicht dargestellt werden. Zu diesem Zweck soll vorerst Freuds Auseinan- dersetzung mit der Krankheit in den Aspekten resümiert werden, die für den weiteren Verlauf dieser Arbeit relevant sind. Außerdem dienen eine kurze Wiedergabe von modernen, bzw. postmodernen Überlegungen zur Paranoia und ihre Kontextualisierung in kulturelle Belange zur Vervollständigung der Grundlage auf welcher Darren Aronofskys „π“ einer Untersuchung unterzogen werden kann.

2.1 Die klinisch-psychoanalytische Perspektive

Geht man der etymologischen Herkunft des Wortes „Paranoia“ nach, wie Henry M. Taylor, entdeckt man zunächst wenig Überraschendes oder Erkenntnisbringendes: „Paranoia“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich „neben dem Verstand“ oder „Verrücktheit.“1 Doch scheint diese Übersetzung auf den zweiten Blick etwas irreführend hinsichtlich desjeni- gen Krankheitsbildes, welches ein Psychoanalytiker vor Augen hat. Schon der Philosoph Im- manuel Kant, wenn er auch vom „Wahnsinn“ anstelle der „Paranoia“ spricht, beobachtet näm- lich als besonders hervorstechendes Merkmal der Krankheit den unbeschadeten Scharfsinn:

Diese [die Wahnsinnigen] sind in ihrem unglücklichen Wahn oft so scharfsinnig in Auslegung dessen, was Andere unbefangen thun [!], um es als auf sich angelegt auszudeuten, daß [!], wenn die Data nur wahr wären, man ihrem Verstande alle Ehre müßte [!] widerfahren lassen.2

Obzwar der Patient also Trugschlüssen seiner insofern durchaus ver-rückten Wahrnehmung unterliegt, steht er nicht „neben seinem Verstand“, sondern nutzt ihn ganz im Gegenteil geschickt zur Rationalisierung seiner Beschuldigungen und Projektionen. Taylor fährt mit einer Definition des Krankheitsbildes fort, die derartige Mechanismen ins Zentrum stellt:

Vom klinischen Standpunkt aus ist sie [die Paranoia] eine Form der Individualpathologie, die sich durch Projektion, Feindseligkeit, Misstrauen, Beziehungs- und Verfolgungswahn, Angst vor Autonomieverlust und Grössenwahn [!] auszeichnet.3

In seiner Abhandlung „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch be- schriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides)“ legt Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine für derartige Abrisse bedeutsame Grundlage. Obgleich sein Aufsatz über die Paranoia sich auf Erfahrungen zweiter Quelle, namentlich den Fall Schreber stützt, der in einem autobiographischen Werk vom Patienten selbst festgehalten wurde, und ein Gros seiner Theorie zu diesem Krankheitsbild mittlerweile verworfen ist, bietet Freud doch einige Ansatzpunkte, auf die sich nicht nur heutige Analysen der Paranoia stützen, sondern die auch für die Untersuchung des Films „π“ von Bedeutung sein werden.

Das für den Psychologen in den Vordergrund gehobene Paradigma der unterdrückten Homo- sexualität soll hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, da es als maßgebliche Ursache für die Paranoia als mittlerweile zu verengend angesehen wird.4 Zu den Auffälligkeiten des Falls Schreber, die auch für die Untersuchung des Protagonisten, Max Cohen, nützlich sein können, zählen hingegen zum Beispiel der von Freud postulierte Vater-Komplex des Patienten, seine Hypochondrie und schließlich auch sein Erlösergebaren und die hiermit einhergehende Mega- lomanie, allesamt Symptome der Krankheit. Da Schreber als eine Art Musterbeispiel des Pa- ranoikers für Freud funktioniert, sollen diese Ähnlichkeiten in der späteren Analyse des Ma- thematikers wieder aufgegriffen und näher beleuchtet werden. Doch betont Freud selbst, dass die genannten Deutungen nicht das Wesentliche der Paranoia ausmachen, sondern auch symp- tomatisch für andere Krankheiten sein können, weshalb er sein Augenmerk auf den ihnen zugrunde liegenden „paranoischen Mechanismus“5 lenkt.

Die Projektion bildet für Freud einen - je nach Krankheitsform6 - mal mehr, mal weniger signifikanten Bestandteil der Symptombildung von Paranoia: „Eine innere Wahrnehmung wird unterdrückt, und zum Ersatz für sie kommt ihr Inhalt, nachdem er eine gewisse Entstel- lung erfahren hat, als Wahrnehmung von außen zum Bewußtsein [!].“7 Ihr zugrunde liegt der Mechanismus der Verdrängung, die sich innerhalb verschiedener Phasen vollzieht. Die „Fi- xierung“ beschreibt das Verbleiben eines Triebes in einem „infantileren Stadium“8, bei- spielsweise des Sexualtriebes, der Freud zufolge bei Paranoikern im Stadium zwischen Nar- zissmus und Heterosexualität, der Homosexualität verbleibt. Ein solcher Trieb kann ebenso wie andere unerwünschte Triebe mit dem fortentwickelten Ich in Konflikt geraten und so der „eigentliche[n] Verdrängung“9 unterliegen, die „in einer Ablösung der Libido von vorher ge- liebten Personen - und Dingen“10 besteht. Innerhalb des „Durchbruchs“11, der „Wiederkehr des Verdrängten“12, als dritter Phase, versucht der Paranoiker diese Ablösung durch Projektion wieder aufzuheben indem er die vormals zerstörte Welt neu aufbaut, „nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, daß [!] er wieder in ihr leben kann.“13

Dass Freud sich an dieser Stelle auch eines Zitats aus Goethes „Faust“ bedient, auf welchen ebenfalls Aronofsky hinsichtlich seines Filmes Bezug nimmt,14 soll als weiterer Anhaltspunkt dafür dienen, des einen Analyse eines Paranoikers auf des anderen Charakterzeichnung eines Protagonisten anzuwenden zu versuchen. Doch vorerst soll eine zweite Bedeutungsperspektive des Begriffs „Paranoia“ aufgezeigt werden.

2.2 Paranoia als kulturelles und filmisches Phänomen

Verfolgt man Taylors eingangs bereits zitierte Ausführung weiter, stößt man auf eine zweite wesentliche Verwendungsweise des „Paranoia“-Begriffs:

In einem flexibleren und kulturellen Sinne jedoch, angewandt auf die Erzeugnisse der Medien und Populärkultur, ist Paranoia eine faszinierende und unterhaltsame Form der Vernetzung von Welt und Gesellschaft durch das Mittel der Verschwörung: Alles ist miteinander verbunden, alles macht Sinn, ist aufeinander bezogen, nichts ist zufällig.15

Es handelt sich hier um eine erheblich landläufigere Definition der Paranoia, die abseits von klinischen Befunden funktioniert, sich aber dennoch aus den Symptomen des Krankheitsbildes speist, bzw. die Krankheit mit ihnen gleichsetzt: Misstrauen, Angst und Feindseligkeit gegenüber den Mitmenschen. Doch worin liegen die Gründe für ein derartiges gesellschaftliches Phänomen? Gérard Naziri beleuchtet in seiner Arbeit „Paranoia im amerikanischen Kino. Die 70er Jahre und die Folgen“ die historisch-politischen Entwicklungen innerhalb der USA, die zu einer Art gesellschaftlichen Paranoia in diesem Land führten.16

So zeichneten sich Filme des Untergenres Paranoia-Film in den 40er und 50er Jahren dadurch aus, die Angst vor dem Kommunismus und der steten Bedrohung durch das Wettrüsten zwischen USA und Sowjetunion innerhalb des Kalten Krieges zu spiegeln. Begünstigt durch die Aktivitäten Senator McCarthys wurde diese Unsicherheit geschürt. Ereignisse wie das Kennedy-Attentat trugen ihren Teil dazu bei, zudem das Misstrauen gegenüber der eigenen Regierung bis in die 70er Jahre hinein und darüber hinaus zu stärken:

Ein ungeklärter Präsidentenmord, ein Krieg, der eine Kluft zwischen dem hohen moralischen Anspruch und den tatsächlichen Handlungen westlicher Selbstgerechtigkeit riß [!], ein Präsident, der die konstituierenden Grundrechte einer Demokratie verletzte und deren Institutionen mißbrauchte [!], erweckten die Angst vor einem Faschismus von innen, durch die Undurchschaubarkeit des Systems zur Paranoia gesteigert.17

Aufgrund der starken gesellschaftlichen Wirkung all dieser Gegebenheiten erlebten Verschwörungstheorien zeitgleich auch als Motiv der Filmbranche eine Konjunktur.18 Doch schlägt Aronofskys „π“ in eine völlig andere Kerbe. Der Film macht weder Angst vor dem Kommunismus, noch vor der eigenen Regierung oder einer Infiltration derselben zum Thema. Hier wird eine viel weitreichendere Furcht aufgerufen: Der Wille einer unübersichtlichen Welt, die frei von der Zugriffsgewalt des überforderten Einzelnen und somit gewissermaßen an ein unsichtbares Machtgefüge verloren ist, erregt den Wunsch nach Erklärung des Verlustes und einer Neuordnung über die man Herr sein kann.

Zugleich richten sich „π“, wie auch andere Paranoia-Filme der 90er wieder auf die Untersu- chung des Individuums, „[a]uf die Mechanismen seines Denkens, auf die Funktionen seines Körpers und auf die Potentiale seiner (Alp-)Träume.“19 In ihnen wird Paranoia als „kulturelle Metapher“20 verwandt, wie Oliver Keutzer in seinem Aufsatz „Projekt Zweifel. Verdachts- moment im Paranoia-Thriller“ schreibt. Auf Vilém Flusser rekurrierend, betont Keutzer die menschliche Entfremdung zugunsten eines numerischen, abstrahierenden Denkens, das letzt- lich in völliger Auflösung mündet.

Die These wäre also: Was Freud und Lacan über die Symptome des Geisteskranken als kompensatorische Reaktionen auf einen vorausgegangenen, psychischen Zusammenbruch feststellen, spiegelt sich in Flussers Kulturtheorie in ähnlicher, aber verallgemeinerter Form: als projektive Haltung jedes Einzelnen gegenüber einer Auflösung der Dinge und des Denkens durch das numerisch-abstrakte Denken selbst.21

[...]


1 Taylor, Henry M.: Was bleibt ist das Kino. Ein Gespenst der Filmgeschichte: auf den Spuren des ParanoiaFilms, in: Filmbulletin 1/2003, zitiert nach: http://eva-elba.unibas.ch/index.cfm?w=99&c=0&f=627&z=26&o=&s=p (Datei: Taylor4, abgerufen am 26.09.2011), S. 45.

2 Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Akadamie-Ausgabe Bd. 7, Berlin 1968, S. 215.

3 Taylor: Was bleibt ist das Kino, S. 45.

4 Vgl. Strowa, Christian: Things Don’t Like Me - Paranoia, McCarthyism and Colonialism in the Novels of Philip K. Dick, Trier 2008, S. 12.

5 Freud, Sigmund: Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Para- noia (Dementia Paranoides), in: Zwang, Paranoia und Perversion. Studienausgabe Bd. VII, Frankfurt am Main 1973, S. 183.

6 Die Paranoia ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern bildet nur eine Obergattung für speziellere Formen, wie die Megalomanie oder die Erotomanie (vgl. Freud: Psychoanalytische Bemerkungen, S. 186-188). Die verschiedenen Formen können auch gemeinsam auftreten.

7 Freud: Psychoanalytische Bemerkungen, S. 189.

8 Ebd., S. 190.

9 Ebd.

10 Ebd., S. 193.

11 Ebd., S. 191.

12 Ebd.

13 Ebd., S. 193.

14 Vgl. Aronofsky, Darren, in: Chase, Andrea: Darren Aronofsky - The writer/director of Pi discusses the limits of filmmaking and human knowledge, 1998, zitiert nach: http://aronofksy.tripod.com/interview21.html (abgerufen am 28.09.2011).

15 Taylor: Was bleibt ist das Kino, S. 45.

16 Für einen allgemeineren Überblick zu Verschwörungstheorien und insbesondere ihrem räumlichen und zeitlichen Auftreten, vgl. Caumanns, Ute,/Niendorf, Mathias: Raum und Zeit, Mensch und Methode. Überlegungen zum Phänomen der Verschwörungstheorie, in: dies. (Hrsg.): Verschwörungstheorien. Anthropologische Konstanten - Historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 197-210.

17 Ebd., S. 25-26.

18 Vgl. für Beispiele derartiger Filme auch: Naziri, Gérard: Paranoia im amerikanischen Kino. Die 70er Jahre und die Folgen, Sankt Augustin 2003, S. 13-18.

19 Keutzer, Oliver: Projekt Zweifel. Verdachtsmomente im Paranoia-Thriller, in: Stiglegger, Marcus (Hrsg.): Kino der Extreme. Kulturanalytische Studien, St. Augustin 2002, S. 302.

20 Ebd., S. 307.

21 Ebd., S. 310.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Formen und Funktionen der Paranoia in Darren Aronofkys „Pi“
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft)
Veranstaltung
Paranoia - Erzählstrukturen in Literatur und Film
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
21
Katalognummer
V265283
ISBN (eBook)
9783656549871
ISBN (Buch)
9783656547792
Dateigröße
500 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
formen, funktionen, paranoia, darren, aronofkys
Arbeit zitieren
Anja Redecker (Autor:in), 2011, Formen und Funktionen der Paranoia in Darren Aronofkys „Pi“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/265283

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