Die Rentenreform von 1972. Scheitelpunkt des Sozialstaates?


Hausarbeit, 2010

17 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das System der Alterssicherung in der BRD

3. Zum Zusammenhang von Freiheit und sozialer Sicherheit

4. Überblick über die Entwicklung der Rentenpolitik von 1889 -

5. Die Rentenreform von

6. Überblick über die Rentenentwicklung nach

7. Die Rentenreform von 1972 - Sargnagel der Freiheit oder Fundament der sozialen Sicherheit?

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Sozialreformen bergen seit jeher großes Spannungspotential in sich. Die letzte parlamentarisch-demokratisch gebildete Regierung der Weimarer Republik zerbrach an solch einer Spannung. Damals konnte man sich nicht einigen, ob der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um ein halbes Prozent angehoben werden sollte oder nicht. Im Hinblick auf die 1972 verabschiedete zweite Rentenreform mag man ebenso eine spannungsreiche Entstehungsgeschichte vermuten, denn die Abstimmung über diese Sozialreform fand kurz nach dem Stellen der Vertrauensfrage am 20. September 1972 statt. Die beschlossene Rentenreform ist nach 1957 die bis dahin größte Neuordnung der Rentenpolitik gewesen und ist in einer Zeit besonderer politischer, ökonomischer und sozialer Verhältnisse entstanden. Die Debatten über Sozial- und Wirtschaftspolitik und ihre Finanzierung prägen den politischen Alltag, damals wie heute. Gleichzeitig ist deren Geschichte im Vergleich zu anderen Feldern der Forschung in weitaus geringerem Maße aufgearbeitet (vgl. BÖKENKAMP 2010: 2). Doch nicht die rein ökonomischen Hintergründe der Systeme der sozialen Sicherung der ‚Bonner Republik’ stehen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit. Den größeren Rahmen bildet der Diskurs über das Zusammenspiel zwischen (sozialer) Sicherheit auf der einen und Freiheit auf der anderen Seite. Mit den Worten Isaiah Berlins (1969: 168) „freedom […] to do or be what he is able to do or be [and to be] without interference by other persons”.

Das System der sozialen Sicherung ist je nach Hintergrund, Theorieansatz und persönlichen Präferenzen eher Bedrohung von Freiheit oder Garant von Freiheit des Individuums. Sicherheit kann Bedrohung werden, wenn zur Herstellung dieser Sicherheit persönliche Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Die fehlende Möglichkeit über seine Altersvorsorge zu entscheiden, weil der Staat den Bürger bewusst entmündigt und ihn in eine staatliche Rentenversicherung zwingt, kann als solch eine Bedrohung gewertet werden. Der wirtschaftliche Aufwand, diesen Verpflichtungen nachzukommen ist hierbei noch gar nicht in Betracht gezogen. Andererseits kann gerade durch die Versicherungspflicht und das in Deutschland damit verbundene Solidarprinzip der Umverteilung Menschen Sicherheit gegeben werden. Denn wo ökonomische Stabilität und keine Angst herrscht, ist der Mensch frei, sich zu entfalten. Ohne den Zwang, jede oder nur die lukrativste Erwerbsarbeit annehmen zu müssen um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, kann der Mensch sich frei entfalten, seine Arbeit nach eigenen Vorlieben und Präferenzen wählen.

Um sich diesem Spannungsfeld zu nähern und ihn in einem historischen Kontext der Neuesten Geschichte zu betrachten, wählt sich diese Arbeit den Rahmen der Rentenreform 1972. Zu Beginn der sozial-liberalen Koalition 1969 verstand man unter Reform die Ausweitung staatlicher Leistungen und die Erweiterung der Aufgaben des Staates. Am Ende der ‚Ära Kohl’ 1998 war unter Reform die Begrenzung von staatlichen Leistungen und Haushaltssanierung zu verstehen (vgl. BÖKENKAMP 2010: 3f.). Allein der enorme Wandel des Begriffs ‚Reform’ deutet auf einen drastischen Wandel der ökonomischen, politischen und sozialen Gegebenheiten in diesen drei Jahrzehnten, vielleicht auch auf eine Neugewichtung zwischen sozialer Sicherungssysteme auf der einen Seite der Waage und Freiheit des Individuums auf der anderen Seite.

Um dies näher zu beleuchten, fragt diese Arbeit, ob die Rentenreform von 1972 als Scheitelpunkt des Ausbaus der Rentenversicherung betrachtet werden kann und wie an diesem historischen Beispiel die Auseinandersetzung zwischen Sicherheit und Freiheit deutlich wird.

Zur Klärung dieser Frage wird eine Auswertung aktueller und damaliger Forschungsliteratur vorgenommen werden. Zu Beginn soll kurz in das System der Alterssicherung in der Bundesrepublik eingeführt werden. Daran anschließen wird sich eine erste Betrachtung der Thematik Sicherheit und Freiheit und deren Bezug zur Rentenreform von 1972. Darauf folgend wird die Entwicklung der Rentenversicherung überblicksmäßig erläutert, ein Fokus wird auf die Perioden direkt vor und nach der Rentenreform in den 70ger Jahren gelegt. Zuletzt soll die Rentenreform im Lichte des Erkenntnisinteresses der Hausarbeit beleuchtet werden.

2. Das System der Alterssicherung in der BRD

Um grundlegende Aussagen über den Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit im Bezug auf die soziale Absicherung im Rahmen der Rentenversicherung treffen zu können, ist es notwendig, vorab das System der Alterssicherung in der Bundesrepublik zu verstehen. Das System der Alterssicherung hat zunächst das Ziel, die Bürger gegen existenzgefährdende Risiken zu schützen, welche aufgrund von dauerndem oder vorübergehendem Verlust von Einkommen durch Arbeit resultieren, z.B. durch Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit oder Alter (vgl. WEHLAU 2009: 65). Die staatliche Alterssicherung nimmt in Deutschland quantitativ den größten Stellenwert im System der Sozialversicherung ein, weswegen er auch als „Kern der sozialen Sicherung“ (ebd.) gilt.

Im Hinblick auf die ökonomischen Grundvoraussetzungen der Alterssicherung, ist es sinnvoll, die Mitglieder der Gesellschaft in zwei Gruppen zu unterteilen: eine ökonomisch aktive und eine ökonomisch nicht aktive Gruppe. Letztere zeichnet sich durch Konsum von Gütern aus ohne gleichzeitig selbst volkswirtschaftliche Produkte zu erzeugen, umfasst also Kinder, alte und kranke Menschen und Erwerbslose. Um einen bestimmten Lebensstandard im Alter aufrecht zu erhalten, gibt es grundsätzliche zwei Möglichkeiten: 1. Ansparen von Gütern, die während der aktiven Produktion hergestellt werden, um sie später nach und nach aufzubrauchen, „like a squirrel hiding its nuts“ (EATWELL 2003: 2). Und 2. Abgeben von Gütern in der ökonomisch aktiven Phase zum Erwerb von Ansprüchen auf Güter zukünftiger Produktion, entweder in Form eines Umlageverfahrens oder eines Kapitaldeckungsverfahrens. Das in Deutschland herausgebildete System besteht aus drei Schichten der Absicherung1. Die erste Schicht bildet die staatliche gesetzliche Rentenversicherung (GRV). Ergänzend dazu existieren die betriebliche und die private Altersvorsorge. Letztere sind im Gegensatz zur GRV freiwillige Zusatzversicherungen2 und spielen in dieser Hausarbeit keine Rolle.

Die GRV verpflichtet jeden Beitragszahler zur Entrichtung eines gewissen Prozentsatzes des Einkommens3, mit dem der Versicherte einen „eigentumsrechtlich geschützte[n] Anspruch auf den zukünftigen Ertrag des Faktors Arbeit“ (WEHLAU 2009: 75) erhält. Dieser Anspruch besteht jedoch nicht aus einem nominellen Wert, sondern aus einer Anwartschaft, dem ‚Versprechen’ auf „relative Partizipation an zukünftiger volkswirtschaftlicher Produktion“ (ebd.). Wie hoch der Anspruch auf Rentenzahlungen ist, berechnet sich nach einer Rentenformel, bei der vor allem Beitragsjahre und Höhe der Beiträge eine Rolle spielen.

3. Zum Zusammenhang von Freiheit und sozialer Sicherheit

Freiheit ist eine zentrale Kategorie. Nicht nur im Grundgesetz der Bundesrepublik nehmen sie einen immens wichtigen Stellenwert ein, auch als ordnungspolitischer Grundwert einer Marktwirtschaft ist Freiheit höchstes Ziel (vgl. NIENHAUS 1983: 14). Das dieser Grundwert nichts rein ideell ist, begründet Nienhaus (ebd.) damit, dass erst durch Freiheit das Individuum seine „Kenntnisse, Fähigkeiten und sonstigen Ressourcen am Markt so ein[…]setzen [kann], daß durch die Wirkung des Marktes der größte Beitrag für das Gesamtprodukt erwirtschaftet wird“, d.h. das bestmögliche Ergebnis für das Gemeinwohl entsteht. Freiheit ist von Nöten, um das auf das Individuum verstreute Wissen optimal nutzen zu können (vgl. ebd.). Beschränkung von Freiheit bedeutet auch gleichzeitig Einschränkung an Optionen und Wahlmöglichkeiten und somit das Risiko, keine optimalen Ergebnisse hervorbringen zu können.

Diese klassische neoliberale Sicht muss sich der Kritik stellen, dass Freiheit nicht das höchste Ziel einer Wirtschaftsordnung sein darf. ‚Freiheit’ müsse sich dem Gemeinwohl unterordnen und steht neben anderen Werten wie ‚soziale Sicherheit’ oder ‚Gerechtigkeit’. Aus neoliberaler Perspektive erzeugt jedoch erst Freiheit die Möglichkeit andere Werte wahrnehmen oder bilden zu können, ist also die Voraussetzung zu sozialer Sicherheit. Eine andere Herangehensweise würde betonen, dass ein ökonomisches Fundament, also Sicherheit, vor dem sozialen Fall ins Bodenlose, die Voraussetzung darstellt, sich seiner Freiheit zu bedienen. So kann nur wer relativ abgesichert ist und wessen Grundbedürfnisse befriedigt worden sind, anfangen sich selbst zu verwirklichen und am politischen, sozialen und kulturellem Geschehen Anteil nehmen.

Sowohl beim Legen der Prämisse auf Freiheit als auch bei der Prämisse auf sozialer Gerechtigkeit ist die Notwendigkeit von Zwang stets einleuchtend. „Freiheit, im Sinne von Abwesenheit von Zwang, kann nur durch Zwang erreicht werden, denn die Androhung von Zwang ist die einzige Methode, ihn zu verhindern“ (HAYEK 1971: 28). Das staatliche Zwangs- und Gewaltmonopol führt unweigerlich zu einer - wenn auch minimalen - Einschränkung der Freiheit, ist aber Voraussetzung, um frei (vom Zwang Anderer) leben zu können.

Diesen Sachverhalt könnte man auch im Bezug auf den Diskurs ‚Freiheit und soziale Sicherheit’ anwenden: nur durch einen (möglichst geringen) Zwang lässt sich Sicherheit herstellen und somit Freiheit ausleben.

Praktisch wird dies am Beispiel der GRV, die als Pflichtversicherung jeden Bürger (ausgenommen Selbstständige, Freiberufler u.a.) zwingt, in die staatliche Rentenversicherung einzubezahlen. Diese Pflicht trägt erstens dazu bei, dass sich alle Arbeitnehmer ausreichende Anwartschaften erwerben. Zweitens kann ein sozialer Ausgleich nur dann stattfinden, wenn alle, unabhängig von Gesundheitszustand oder Einkommen, in die GRV einzahlen. Drittens wird es durch diese Pflicht erst möglich, die Anzahl der zu Versichernden zu ermitteln und genaue Prognosen aufzustellen und somit eine zuverlässige Finanzierung der Alterssicherung zu erstellen (vgl. WEHLAU 2009: 74f.). Nicht nur eine ethische oder nächstensliebende Werthaltung ist Grund dafür, alle Arbeitnehmer obligatorisch zu versichern, sondern schlichtweg die gegenseitige Abhängigkeit und das Argument, die Mitglieder der Gemeinschaft vor „Verzweiflungsakten der Bedürftigen“ (HAYEK 1971: 361) zu schützen. Die Vertretbarkeit des Zwangs wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass Individuen, die sich dieser gegenseitigen Abhängigkeit bewusst sind, das System bewusst ausnützen könnten - Sicherheit durch das soziale Netz wäre ja in jedem Fall gewährleistet. Zwang schafft also Sicherheit, aber schafft er auch Freiheit? Nienhaus (vgl. 1983: 16) argumentiert, dass der angewandte Zwang durchaus mit dem Ideal von Freiheit vereinbar sei, da der Zwang zur Versicherung nur benutzt wird, um größerem, weiterreichendem Zwang vorzubeugen. Dieser wäre nämlich notwendig, wenn Menschen ohne Absicherung in eine Notlage geraten würden.

Der Diskurs um ‚Freiheit und soziale Sicherheit’ soll jedoch nach diesen grobmaschigen Betrachtungen in die Tiefe geführt werden. Nicht ‚ob’ ein gewisser Zwang zur Erhaltung des sozialen Friedens notwendig ist, ist kontrovers diskutiert, sondern welcher Grad an Zwang vertretbar ist. Aber welchem Punkt wird das Bestreben Sicherheit zu schaffen so stark, dass die Kosten (sowohl monetärer als ideeller Art) zulasten der Freiheit zu groß werden? Als Vorbetrachtung zu diesem Fragenfeld folgt eine Analyse der Rentenpolitikentwicklung bis zur Rentenreform von 1972 und darüber hinaus. Dies dient dazu, die Vorstellungen über den akzeptierten Grad von Zwang vor und nach 1972 herauszufiltern. Ist klar, welche ökonomischen und sozialen Bedingungen vor und nach 1972 geherrscht haben, lässt sich im Anschluss klarer überblicken, welche Rolle das Streben nach Freiheit und Sicherheit eingenommen hat.

4. Überblick über die Entwicklung der Rentenpolitik von 1889 - 1972

In Deutschland wie in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern wurde die Alterssicherung bis Ende des 19. Jahrhunderts nichtstaatlich organisiert. Vor allem persönliche und familiäre Bindungen und genossenschaftliche oder kirchliche Institutionen sorgten nach der Erwerbsphase für den Lebensunterhalt.

[...]


1 In anderer Literatur ist von „Säulen“ die Rede, was aber als nebeneinander stehende und gleichmäßig bedeutende Struktur verstanden werden könnte und deswegen irreführend ist, da sich die einzelnen Komponenten der Alterssicherung quantitativ deutlich voneinander unterscheiden.

2 Seit der Rentenreform 2001 ist jedoch ein Trend zu mehr Eigeninitiative in Versicherungsfragen zu erkennen. Private Vorsorge wird von einer „Kann-Option“ zu einem „Soll-Vorschlag“ vgl. WEHLAU 2009.

3 Der Beitrag setzt sich paritätisch aus gleichen Anteilen des Arbeitgebers und Arbeitsnehmers zusammen

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Rentenreform von 1972. Scheitelpunkt des Sozialstaates?
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichtswissenschaft)
Veranstaltung
Seminar "Sicherheit und Freiheit"
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
17
Katalognummer
V266049
ISBN (eBook)
9783656558620
ISBN (Buch)
9783656558583
Dateigröße
426 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rentenreform, scheitelpunkt, sozialstaates
Arbeit zitieren
Felix Beyer (Autor:in), 2010, Die Rentenreform von 1972. Scheitelpunkt des Sozialstaates?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266049

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Rentenreform von 1972. Scheitelpunkt des Sozialstaates?



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden