Jean-Paul Sartre. Literatur des Existenzialismus


Fachbuch, 2013

152 Seiten


Leseprobe


Inhalt

Silja Maehl (2003): Das Phänomen Kunst - Untersuchung zur Theorie des imaginären Kunstwerks bei Jean-Paul Sartre
Einleitung
Phänomenologie und Kunst
Das semiotische und materialistische Kunstverständnis
Sartres Kunstverständnis
Kritische Auseinandersetzung mit Sartre
Fazit
BIBLIOGRAPHIE

Paul Parszyk (2013): Unbehagen, Scham und Ekel in Sartres Theorie der Intersubjektivität. "Das Sein und das Nichts" und "Der Ekel"
Einleitung
Intersubjektivität als Phänomen bei Sartre
Ekel
Schlussteil

Claudia Kollschen (2003): Jean-Paul Sartre: "Der Andere" und weitere Elemente des Existenzialismus im Drama "Huis Clos"
Einleitung
Hauptteil
Rahmen
Personen
Elemente des Sartre'schen Existenzialismus in „Huis clos“
Bedeutung des zentralen Satzes „Die Hölle, das sind die andern.“
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis

Ralf Beckendorf (2005): Über: Die Hölle, das sind die Anderen! Sartres Existenzialismus in "Geschlossene Gesellschaft"
Einleitung
Jean-Paul Sartre
Für-Andere-Sein, Sartres Existenzialismus
„Die Hölle, das sind die Andern“; Fazit
Quellenverzeichnis
Einzelpublikationen

Silja Maehl (2003): Das Phänomen Kunst - Untersuchung zur Theorie des imaginären Kunstwerks bei Jean-Paul Sartre

Einleitung

Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht das Kunstverständnis Jean-Paul Sartres. Hier möchte ich vor allem die Position Sartres vom Kunstwerk als imaginärem Phänomen untersuchen. Trotz der großen Vielfalt seiner Themen – Phänomenologie, Ontologie, Existenzphilosophie, Politik, Psychologie uvm. – haben seine philosophischen Werke, Essays, Reden, Dramen und Romane explizit oder implizit immer wieder die Kunst zum Gegenstand. Eine Ästhetik in einem systematischen Sinne hat er allerdings nicht verfasst. Daher ist es schwierig, ihn auf eine Theorie festzulegen, da er manchmal Jahre später Gedanken in einen neuen, aktuellen Zusammenhang gestellt hat. Dennoch gibt es Konstanten, die ich herausstellen möchte.

Ich beginne damit, den Gedanken Lambert Wiesings zu erklären, dass zwischen Phänomenologie und Kunst eine innere Verwandtschaft bestehe. Dabei geht es mir nicht um eine Analyse der Theorien Wiesings. Ich möchte seine Gedanken im Laufe meiner Arbeit dahingehend nutzen, vom Verhältnis von Kunst und Phänomenologie zum Kunst-Verständnis des Phänomenologen und Existenzphilosophen Sartre überzuleiten. Denn Sartres ästhetische Theorie ist eine phänomenologische.

Wiesing stellt sich die Frage, warum sich die Phänomenologie mit der Kunst – vor allem mit der avantgardistischen – so schwer tut. Hier möchte ich kurz die semiotische und die materialistische Position vorstellen. Im Hauptteil meiner Arbeit geht es mir um die Position Sartres, der sich von diesen beiden Ansätzen abgrenzt. Diese Gegenüberstellung ist nützlich, um zu zeigen, dass Sartre der Kunst eine Funktion sui generis geben will, die bei den eben genannten Positionen für ihn nicht gegeben ist.

Anschließend lege ich Sartres Bedingungen für den Kunststatus eines Werkes dar – seien es ein Roman oder ein Bild. Im Vordergrund meiner Untersuchungen steht dabei sein Essay „Was ist Literatur?“, aber ich behalte seine weiteren Publikationen zum Thema Literatur, Malerei und damit Kunst im Allgemeinen dabei im Blick. Was ist Kunst für Sartre? Welche Rolle spielt bei ihm der Künstler? Welche der Rezipient? Welche ausschließliche Funktion hat das Phänomen Kunst bei ihm?

Schließlich werde ich einige kritische Anmerkungen zu Sartre machen und hier auf mögliche Auswege im Werke seines Kollegen und philosophischen Gesprächspartners Maurice Merleau-Ponty verweisen.

Phänomenologie und Kunst

In „Phänomene im Bild“ stellt Lambert Wiesing zunächst die These auf, dass Phänomenologie und Kunst methodisch verwandt seien. Das erläutert er im Zuge seiner Diskussion des phänomenologischen Bildbegriffs. Seine zweite These ist die, dass Bilder sowohl in den Neuen Medien als auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts eine grundlegende gemeinsame Funktion haben: als Verstärker der Imagination. Dass sich letzteres als eine Funktion der Kunst im Allgemeinen in der Philosophie Jean-Paul Sartres wiederfindet, möchte ich im Laufe meiner Arbeit zeigen. Die Imagination spielt in der Ästhetik Sartres sogar die entscheidende Rolle. Hierauf komme ich jedoch später zu sprechen.

Die Phänomenologie ist nach Wiesing im Wesentlichen aus drei Gründen dazu geeignet, dem Sinn und Zweck von Kunst näher zu kommen:

Zuerst einmal habe Phänomenologie eine Strukturaffinität mit der Kunst – nämlich die Imaginarität[1].Der phänomenologischen Theorie liege als einer Philosophie der Korrelation – der Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Gegenständen und damit der reflektierten Wahrnehmung –‚ eine ähnliche Methode wie der Bildbetrachtung zugrunde. Der Bildbetrachter stilisiere, imaginiere und synthetisiere ebenso, wie es der Phänomenologe von alltäglichen Bewusstseinsakten auch annimmt. „Phänomen“ übersetzt man am besten mit „Erscheinung“. Ein Phänomen ist in der Phänomenologie das „Bild“, das sich ein Subjekt von einem Objekt macht so wie es ihm erscheint. Oder wie Martin Suhr es ausdrückt: „Das Phänomen ist die Einheit von erkennendem Bewußtsein und erkanntem Objekt[2] . Man kann zwar nicht davon ausgehen, dass auch Vorstellungen, bildhaft sind (so als ob wir im Kopf quasi einen Katalog von Bildern hätten). Reflektierte Wahrnehmung, also das Denken, und das Bildbetrachten haben aber laut Wiesing ähnliche „stilistische Strukturen“ und damit nicht unbedingt den gleichen Inhalt, aber eine gleiche Form. Das sagt schon der Volksmund, wenn man üblicherweise sagt: „Von dieser Angelegenheit muss ich mir erst ein Bild machen“. Beide seien also aktive Gestaltungen, bei denen Dinge wie in einem Bild zusammengefasst, in den Mittelpunkt oder Hintergrund gerückt und Übergänge konstruiert würden.[3]

Wie sinnliche Wahrnehmung, Denken und Bildbetrachtung, also Imagination, zusammenhängen, haben Philosophen unterschiedlich aufgefasst. Während die Vertreter der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserl und Jean-Paul Sartre auf je eigene Weise eher das gegensätzliche – aber trotzdem im Zusammenhang stehende – Verhältnis von Wahrnehmung und Imagination interessiert, betont Maurice Merleau-Ponty hingegen besonders die Ähnlichkeit von Wahrnehmungsbildern im Alltag und Imagination bzw. Darstellungsbildern in der Kunst. Für Husserl und Sartre stehen sich das Denken und das Bildbetrachten nahe, für Merleau-Ponty ist das auch schon bei der Wahrnehmung der Fall.

Seien es nun das Denken oder bereits die Wahrnehmung – diese Bewusstseinsakte sind dem des Bildbetrachtens ähnlich. Sie unterscheiden sich nur darin, dass wir uns bei der sinnlichen Wahrnehmung bewusst sind, dass die Gegenstände, die wir sehen, hören, fühlen in Raum und Zeit verankert sind, während wir die imaginären Vorstellungsbilder beim Betrachten eines Bildes, Lesen eines Buches oder beim Nachdenken als ausschließlich in unserem Bewusstsein existierend erkennen. Wir imaginieren auch bei der Wahrnehmung. Oder nehmen vor lauter Präsens eines bestimmten Gegenstandes andere daneben nicht wahr. Schauen wir beispielsweise von vorne auf einen Holztisch, stellen wir uns implizit die Rückseite, die nicht in unserem Sichtfeld liegt, dazu vor. Ein Tischler wird ihn viel präziser wahrnehmen und Einzelheiten, wie die Struktur des Holzes sehen, während ein Schulkind ihn vielleicht nur als Unterlage für seine Hefte ansieht.

Bewusstseinsakte von der sinnlichen Wahrnehmung bis zur Vorstellung haben damit neben der erwähnten Eigenschaft der Imaginarität Wiesing zufolge noch einen weiteren Aspekt gemeinsam: die Synthetizität[4]. Auf die Imagination folgt also die Interpretation. Das Bewusstsein habe eine dynamische Struktur, eine Atmosphäre und werde vom Wahrnehmungs-Kontext beeinflusst. Die Nähe der Phänomenologie zur Gestaltpsychologie möchte ich hier nur erwähnen, aber nicht näher diskutieren. „Auch sie [die Gestalttheorie] hat zu der Einsicht geführt, daß vorbegriffliche Konstantenbildung auf ästhetischen Formprinzipien beruht, in denen das Sinnliche und Sinnhafte eine unzertrennliche Einheit bilden.[5]

Auch in der Philosophie Henri Bergsons findet sich ein solch vereinigender Bildbegriff~ „Der zentrale Begriff der [..] die Kluft zwischen den Vorstellungen und den Gegenständen zu überbrücken helfen soll, ist der Begriff des Bildes.“[6] Bergson will zwischen den Gegensätzen des Idealismus und des Realismus vermitteln, wie es auch die Absicht Merleau-Pontys und Sartres ist. Sartre versucht dies besonders in seiner Konstruktion des Kunstwerks als imaginärem Objekt, was ich später noch aufgreifen werde. Für Bergson hat die Wahrnehmung eine bildliche Struktur und eine verknüpfende Funktion zwischen Außenwelt und Bewusstsein. Sie ist synthetisierend und schöpferisch: „In diesem Prozeß [der Wahrnehmung] ist das Bild eine schöpferische und praktische Auseinandersetzung unserer Sinne und Vorstellungen mit der Welt der Dinge.“[7]

Der dritte Grund, warum die Phänomenologie Wiesing zufolge der Kunst nahe steht, ist der, dass beiden das Merkmal einer Intentionalität zugrunde liegt: „das Denken in Begriffen als auch das Betrachten eines Bildes ist ein intentionaler Akt. Wer denkt, denkt an etwas; wer ein Bild betrachtet, richtet seinen Blick auf einen dargestellten Gegenstand.“[8] Bewusstsein sei also immer Bewusstsein-von-etwas. Die Verwandtschaft von Denken und Bildbetrachtung dürfe sich allerdings nicht auf das Merkmal der Intentionalität beschränken, denn jedem Bewusstseinsakt liege ja eine Intention zugrunde. So auch dem Lesen oder dem Studieren von Vögeln beispielsweise. Nur verbunden mit dem Merkmal der Imaginarität und dem der Synthetizität sei die These des Verwandtschaftsverhältnisses gerechtfertigt. „Das Denken und das Bildbewußtsein vermeinen ihr intentionales Objekt gleichermaßen als einen imaginären Gegenstand.“[9] Diese Definition lässt sich – denke ich – auf das Betrachten, Hören, Lesen von Kunstwerken im Allgemeinen übertragen.

Betrachte man die von Wiesing genannten Gründe zusammenfassend, so geht er also davon aus, dass Bild-Bewusstsein immer Bewusstsein-von-etwas ist, d. h. das reflektierende Subjekt denkt intentional, und gleichzeitig stilisierend bzw. interpretierend. Damit übernimmt er Gedanken der Phänomenologie. Denken – und bei Merleau-Ponty oder Bergson auch die Wahrnehmung – ist ihr zufolge subjektiv eingefärbt. Bestes Beispiel hierfür ist die Kunst, sie drückt genau diese Subjektivität aus. Und jeder künstlerische Ausdruck, sei er sprachlich oder bildlich, ist zugleich eine Interpretation der Welt und ihres Sinns. Auch in der Phänomenologie gibt es kein Sein an sich, sondern nur Gegebenheitsweisen. Meines Philosophie und vor allem Phänomenologie vollzieht Weltinterpretation auf theoretischer Ebene und die Kunst vollzieht sie auf der angewandten, praktischen. Das ist die Formel, auf die sich das Verwandtschafts-Verhältnis von Kunst und Phänomenologie bringen lässt.

Sartre, wie auch Merleau-Ponty und andere, haben die Phänomenologie in die rechtmäßige Nähe zur Kunst gebracht. Sartre wendet sich dabei sowohl gegen das semiotische als auch gegen das materialistische Kunstverständnis. Abgekürzt kann man ersteres unter „etwas ist für-etwas präsent“ subsumieren, letzteres schlicht unter „etwas“. Diese beiden stelle ich nun kurz vor.

Das semiotische und materialistische Kunstverständnis

Lambert Wiesing stellt in seinem Text das semiotische und das materialistische Sartres Kunstverständnis gegenüber, was plausibel ist, da Sartre sich selber von beiden absetzt. Wiesing erklärt, dass die Phänomenologie sich den Zugang zur modernen, avantgardistischen Kunst versperrt, wenn sie sich ausschließlich auf die Materialität von Kunstwerken konzentriert, wie es beispielsweise Heidegger in seinem Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes“ tut.[10] Sie neige nämlich durch die Konzentration auf die konkreten Phänomene, wie Husserl es fordere, zur materialistischen Position. Wiesing referiert dann eine von Nelson Goodman vertretene Position. Goodman sagt, dass die traditionelle philosophische Ästhetik im 20. Jahrhundert ihre Berechtigung verloren habe, da sie die Antwort auf die Frage nach dem Kunststatus im Gegenstand selber suche. Das sei absurd angesichts von sogenannten Ready-Mades, die Alltagsgegenstände als Kunst stilisieren – wie das Urinoir von Marcel Duchamp oder die gestapelten Brillo-Kartons von Andy Warhol.

Nelson Goodman vertritt in seinem Buch „Weisen der Welterzeugung“ die semiotische, bzw. zeichentheoretische Position. Goodman erklärt, dass jedes darstellende Werk ein Symbol sei. Er wendet sich damit gegen die Puristen, für die reine Kunst ohne jeglichen Symbolcharakter ist und nur für sich selber stehe. Für sie ist der Kunststatus im Werk begründet. Damit haben sie eine in diesem Fall ähnliche Ansicht wie Heidegger. So würde aber laut Goodman der Inhalt und die Aussage auch avantgardistischer Kunst vernachlässigt werden. Er will dem materialistischen Dilemma der werkimmanenten Analyse entkommen und wandelt die Frage ‘Was ist Kunst?‘ in ‘Wann ist Kunst?‘ um. Der Kunststatus ist für ihn ein funktionalistischer und von symboltheoretischen Bedingungen abhängig.

Für Goodman und andere Zeichentheoretiker bzw. Sprachanalytiker müssen Kunstwerke nicht ausschließlich verweisende Symbole sein, also für abwesende Dinge und Sachverhalte stehen (Status der Denotation). Dennoch seien sie niemals frei von Bezügen. Auch ein abstraktes Gemälde sei ein Zeichen und zwar eines, das auf sich selber als eine Sichtweise verweise (Exemplifikation).

Wiesing erklärt wiederum, dass es aus zeichentheoretischer Sicht keiner speziellen Kunstphilosophie bedürfe, sondern nur einer Zeichentheorie, die den Aspekt der Kunst in ihr normatives System miteinbaue. Goodmans Position der Kunst als Zeichenfunktion ist für ihn problematisch: „Das, was so frei von Normativität sein soll, ist eine Norm, wie sie deutlicher nicht sein kann.[11]

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die traditionelle Phänomenologie mit Heidegger und Husserl die Kunst als einen Forschungsgegenstand betrachtet - wie Wiesing es ausdrückt und sie dadurch in ihrer Sonderstellung abwertet.[12] Husserl beispielsweise macht ein Bild zu einem „Scheinobjekt“, das es als Resultat eines Widerstreits zwischen dem materiellen Bildträger und dem vorgestellten Bildobjekt zu erforschen gilt.

Nelson Goodman und die Symboltheorie sprechen so der Kunst eine Sonderfunktion ab und rauben ihr jegliche Autonomie. Für Sartre hingegen darf der Symbolcharakter von Kunstwerken gar kein Kriterium für den Kunststatus sein, wie er immer wieder betont. Die Konzentration auf das materielle Werke ist für ihn ebenfalls ungenügend, da Kunst an Produzent und Rezipient gebunden ist und damit in hohem Maße ein Bewusstseinsvorgang. Pinselstriche oder Leinwand seien real, aber nicht das Kunstwerk als ein ästhetischer Wert.[13] Er versucht einen Zwischenweg zwischen Materialismus und Idealismus zu gehen. Für ihn erfüllt die Kunst eine Funktion sui generis und leistet damit etwas was nur sie kann.

Sartres Kunstverständnis

Als Jean-Paul Sartre an seinem Essay „Was ist Literatur?“ schrieb, hatte Frankreich die Erfahrung des Krieges gegen den Faschismus und der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg gemacht. Viele französische Schriftsteller und Intellektuelle –einschließlich Sartre – politisierten sich in dem Sinne, dass sie sich vornehmlich für sozialistische und kommunistische Ideale einsetzten. Das Bewusstsein dieses Umbruchs auch in der Literatur und der Problematik des L’art-pour-l‘art-Prinzips sind Grundlage dieses umfangreichen Essays von 1947. Letztendlich ist es jedoch als Antwort auf eine Polemik entstanden. Man hatte Sartre vorgeworfen, er wolle mit seiner Forderung nach dem Engagement der Literatur diese in den Dienst politischer Zwecke stellen und zur (kommunistischen) Tendenzliteratur machen. Daraufhin sah er sich gezwungen, seine Vorstellung von Literatur ausführlich zu erläutern:

„Und da die Kritiker mich im Namen der Literatur verurteilen, ohne jemals zu sagen, was sie darunter verstehen, ist es die beste Antwort, die Kunst des Schreibens ohne Vorurteile zu untersuchen. Was ist schreiben? Warum schreibt man? Für wen? Tatsächlich scheint sich das niemand je gefragt zu haben.“[14]

In „Was ist Literatur?“ finden sich wesentliche Gedanken Sartres zur Kunst. Es ist nicht allein die Literatur, die Sartre hier thematisiert, obwohl der Titel und die Kapitelüberschriften es zu beweisen scheinen. Es sind ebenso seine Vorstellungen von Kunst und von der Funktion eines Kunstwerks im Allgemeinen. Die Prosa nimmt unter den Künsten bei ihm eine Sonderstellung ein. Sartres Literaturverständnis detaillierter zu erläutern, ist hier nicht möglich und daher thematisiere ich die Literatur wie auch die Malerei, um Sartres genre-übergreifende Gedanken darzustellen.

WAS IST UND WAS KANN DIE KUNST?

Ich möchte die allgemeinen Bedingungen darlegen, unter denen für Sartre ein Kunstwerk Kunst ist. Wichtig für den Kunststatus bei Sartre ist zunächst die Tatsache, dass Kunstwerke nur in Wechselbeziehung zum Künstler und Rezipienten existieren. Eine Autonomievorstellung des Kunstprodukts, wie es sie beispielsweise in der Romantik bei Friedrich W.J. Schelling gegeben hat, wo sich Freiheit und Natur im Kunstwerk zu einer „endlichen Darstellung des Unendlichen“ verbinden, interessiert Sartre nicht. In „Was ist Literatur?“ entwickelt Sartre zwei grundlegende Bedingungen für den Kunststatus. In den Kapiteln „Was ist schreiben?“ und „Warum schreiben?“ finden sich auch die Gründe, warum man Sartres ästhetische Theorie als eine phänomenologische bezeichnen kann.

In „Was ist schreiben?“ bezeichnet er zunächst ein Kunstwerk als ein imaginäres Objekt. Die erste Bedingung für den Kunststatus ist also, dass ein Werk etwas-als-etwas präsentieren muss und nicht ausschließlich für-etwas, d. h. als Zeichen, stehen darf. Das Kunstwerk hat nach Sartre keinen Zweck, sondern ist einer.[15] So sei beispielsweise ein Gemälde reine Präsentation: „Jenen gelben Riß am Himmel über Golgatha hat Tintoretto nicht gewählt, um die Angst zu bedeuten noch um sie hervorzurufen; er ist Angst und gelber Himmel zugleich [..] eine Ding gewordene Angst“.[16] Dem Künstler geht es also anders gesagt um die Präsentation von Imagination, also einer Vorstellung. Dem Betrachter muss etwas anschaulich werden. Es entstehe in seinem Bewusstsein ein Sinngebilde, das abhängig sei von den Absichten, die der Künstler hineingelegt hat, von der Imaginationsfähigkeit des Betrachters und vom Kontext des Betrachtens. Der Kontext sei insofern wichtig, als dass der Betrachter nicht immer mit gleicher Intensität und unter gleichen Voraussetzungen betrachte. Der Betrachter nimmt also die imaginären Gegenstände eines Kunstwerkes so wie der Künstler sie an ihn heranträgt auf, nimmt sie gleichzeitig mit seiner ganzen Welterfahrung wahr und vereinnahmt sie für sich als etwas Neues. Im Folgenden daher wird Sartres Kunstverständnis in Abgrenzung zum materialistischen und semiotischen als ein dynamisches oder synthetisierendes bezeichnet.

Zweitens ist es für ihn eine Sonderform des Imaginären, da in ihm offenbar wird, wie und wann etwas-als-etwas präsent wird, d. h. wie die Subjektivität des Künstlers das etwas-als-etwas auf die je eigene Weise präsentiert und genau dann wenn der Betrachter die betrachtende Haltung einnimmt. Zu Letzterem heißt es in „Das Imaginäre“: „So muß das Gemälde als ein materielles Ding verstanden werden, das von Zeit zu Zeit (jedesmal, wenn der Betrachter die vorstellende Haltung einnimmt) von einem Irrealen heimgesucht wird [...j“.[17] Kunst ist also über die Funktion der Präsentation von Imagination hinaus eine indirekte Kommunikation zwischen Produzent und Rezipient. Um das näher zu erläutern, ist es nötig, nachfolgend auf die Rolle des Künstlers und die des Rezipienten näher einzugehen.

Zunächst kann man jedoch schlussfolgern, dass für Sartre die Kunst etwas ganz eigenes kann und eine Funktion sui generis erfüllt. Im Zusammenspiel von Künstler und Betrachter entsteht ein imaginäres Sinngebilde, das mit nicht-begrifflichen Mitteln ein Bewusstsein von der Welt schafft. Durch die Darstellung in Wort, Material oder Ton werden Botschaften über die Welt vermittelt. Botschaft ist hier aber nicht zeichentheoretisch zu verstehen, sondern „die Botschaft ist letztlich eine Gegenstand gewordene Seele.“[18] Die Botschaft ist das Werk. Imagination ist bei Sartre das, was die Kunst ausmacht und Kunst dient meines Erachtens hier als Verstärker der Imagination. Lambert Wiesings zweite, eingangs erwähnte These vom Bild als Imaginationsverstärker erscheint konstruktiv und plausibel und wird daher im Folgenden auf das gesamte Kunstverständnis von Sartre übertragen.

Was leistet die Kunst bei Sartre genau? Von entscheidender Bedeutung ist zunächst die Tatsache, dass für Sartre Kunstwerke – auch literarische Werke der Weltliteratur – die Weh nicht verändern können. In „Was kann Literatur?“ betont er einmal mehr, dass sie keinen praktischen Nutzen haben und „noch kein Buch den Tod eines Kindes verhindert hat.“ Trotzdem schrieb Sartre weiterhin philosophische, literarische und politische Texte, was er in seiner Autobiographie „Die Wörter“ so begründet: „Trotzdem schreibe ich Bücher und werde ich Bücher schreiben; das ist nötig; das ist trotz allem nützlich. Die Kultur vermag nichts und niemanden zu retten [..j Aber sie ist ein Erzeugnis des Menschen, worin er sich projiziert und wiedererkennt, allein dieser kritische Spiegel gibt ihm sein eigenes Bild.“[19] Den Vergleich des Spiegels benutzt Sartre häufiger im Hinblick auf die Literatur. Gemeint ist damit nicht die bloß nachahmende Spiegelfunktion der Kunst wie sie Platon beschreibt. Sartre räumt der Literatur eine wichtige Rolle zur kritischen Selbstreflexion und damit zur Selbstwerdung ein. Sie ist also ein „Ort“, wo der Mensch sich selber auf eine Art und Weise reflektieren kann, die ihm weder die alltägliche Wahrnehmung, noch die direkte Kommunikation mit anderen ermöglicht.

In „Was ist Literatur“ beschreibt Sartre ebenfalls die Funktion der Selbstreflexion und Selbstschöpfung: „Eines der Hauptmotive des künstlerischen Schaffens ist gewiß das Bedürfnis, uns gegenüber der Welt wesentlich zu fühlen.“[20] Der Künstler spürt die Macht oder die Freiheit sich die Welt durch Gestaltung anzueignen. Die menschliche Existenz wirkt „enthüllend“, d. h. dass es durch ihn Sein gibt: „[..] wir sind es, die jenen Baum mit jenem Stück Himmel in Beziehung bringen [..]“. Der Mensch enthüllt die Dinge durch seine Wahrnehmung.

Hier ist der Zusammenhang zwischen dem phänomenologischen Grundsatz der Intentionalität – Bewußtsein ist immer Bewußtsein-von-etwas – und der auf die Welt gerichteten Existenz des von Sartre beschriebenen Menschen. Der Mensch nimmt nicht nur intentional wahr – enthüllt also – und hat damit eine natürliche, intentionale Einstellung zur Welt, sondern auch sein Schaffen hatten diesen gerichteten Charakter. Der Mensch ist bei Sartre ohnehin ein schaffendes Wesen, dass aus seiner Existenz erst seine Essenz entwickeln muss, wie in seinem philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ beschrieben. Das Bindeglied zwischen Mensch und Welt ist die Freiheit, die die Kluft zwischen beidem aber nicht gänzlich überbrücken kann. Das Moment der Freiheit erhält bei Sartre immer wieder größte Bedeutung, worauf ich hier aber nicht näher eingehe. Kunst ist Ausdruck von Freiheit, die Freiheit manifestiert sich auch in der Intentionalität und die Intentionalität prägt das künstlerische Schaffen: „Denn genau das ist das Endziel der Kunst: diese Welt vereinnahmen, indem man sie so vorführt, wie sie ist, aber als wenn sie ihre Quelle in der menschlichen Freiheit hätte.“[21] Die Kunst kommt als Ausdruck von Freiheit einer Einheit zwischen Mensch und Welt schon sehr nahe, wenn nicht sogar am nächsten.

Durch die Äquivalenz der phänomenologischen Intentionalität – Bewußtsein-von-etwas – mit Sartres Schaffensbegriff – etwas-als-etwas-präsentieren – ist Sartres Ästhetik eine phänomenologische und die Phänomenologie ist zumindest theoretisch in ihrer Anlage eine ästhetische Theorie. Allerdings nur wenn sie Kunstwerke als gleichwertige Phänomene in ihrer Besonderheit betrachtet. Der Gegenstand einer ästhetischen Phänomenologie wäre dann in erster Linie das imaginäre Kunstobjekt als Wesen des Kunstwerks. Der Rezipient interpretiert Sartre zufolge das Kunstwerk als etwas, der Künstler gibt in seinem Werk seinem Bewußtsein-von-etwas als etwas Ausdruck. Beide Perspektiven stelle ich nun vor.

DER KÜNSTLER

Wenn der Künstler das ihm Wesentliche an Gegenständen und Weltzusammenhängen hervorbringt, dann tritt das enthüllende Moment der Wahrnehmung zurück. Er fixiert seine Wahrnehmungen: „je mehr ich neue Beziehungen herstelle, desto mehr entferne ich mich von der illusorischen Objektivität, die mich herausforderte [...] da ich zutiefst bedauert habe, daß diese eine,, Augenblick wahrgenommene Anordnung mir von niemandem geboten worden und infolgedessen nicht wahr ist, kommt es vor, daß ich meinen Traum festhalte, ihn auf eine Leinwand, in eine Schrift übertrage.“[22] Dem Künstler kommt hier eine erstaunlich passive, untergeordnete Rolle desjenigen zu, der Eindrücke festhält und vermittelt. Dabei kann er nicht zwischen Wahrnehmung und künstlerischem Schaffen hin und her schalten, so dass Sartre sogar die Behauptung aufstellt, er könne sein fertiges Werk nicht objektiv wahrnehmen, da er immer nur sich und seine Absichten darin wahrnehme. Wahrnehmung und Vorstellung sind also nicht vereinbar: „So bietet sich in der Wahrnehmung das Objekt als das Wesentliche und das Subjekt als das Unwesentliche dar; dieses erstrebt die Wesentlichkeit im Schaffen und erhält sie, aber dann ist es das Objekt, das das Unwesentliche wird.“[23] Der Künstler ist also ein eingeschränkter Schöpfer. Das ist eine problematische Überzeugung, auf die ich in der kritischen Auseinandersetzung mit Sartre eingehen werde.

Literatur zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie Dinge fühlbar und vorstellbar macht, ohne sie direkt auszusprechen. Was die Literatur von der wissenschaftlichen Kommunikation unterscheidet, ist für Sartre der Umstand, dass sie nicht eindeutig ist. Kunst zeichnet sich also durch unendliche Auslegbarkeit aus. Das ist für ihn mit dem Mittel des Stils zu erreichen. „Für mich ist Stilder Einfachheit nicht ausschließt, im Gegenteilvor allem eine Methode, drei oder vier Dinge auf einmal zu sagen. Da ist der einfache Satz mit seinem unmittelbarem Sinn und dann, darunter, gleichzeitig andere Bedeutungen, die in der Tiefe liegen. Wenn man nicht imstande ist, der Sprache diesen mehrfachen Sinn zu geben, dann lohnt es sich nicht zu schreiben.[24] Das Moment des Stils ist zwar Thema für Sartre, wird jedoch in seiner Bedeutung nicht genug betont.

Sartre hat das Thema des Kunstschaffens nicht oft explizit aufgenommen. In seiner Autobiographie „Die Wörter“ beschreibt er seinen Zugang zur Literatur als eine Neurose, eine übersteigerte Liebe zur Dinghaftigkeit der Wörter. Später wird sie notwendige Daseinsberechtigung, die sich auch in seinem Ausspruch „sich gegenüber der Welt als wesentlich empfinden“ ausdrückt. Er schließt damit von seinem persönlichen Zugang zur Kunst auf den Künstler im Allgemeinen. Obwohl die abstrakte Rolle des Künstlers bei der Produktion eines Kunstwerkes in Sartres ästhetischen Schriften recht kurz kommt, hat er ihr doch eine große Bedeutung in Einzelstudien zugewiesen. Für Sartre ist die Persönlichkeit des Künstlers entscheidend, um seine Werke zu verstehen (Persönlichkeit und Werke dürften allerdings nicht in einem kausalen Verhältnis stehen). Er hat Aufsätze über moderne Künstler verfasst, mit denen er zum großen Teil befreundet war, und einen monumentalen Roman über den Schriftsteller Gustave Flaubert und dessen künstlerisches Schaffen – „Der Idiot der Familie“. In dem Aufsatz über den Bildhauer Giacometti – „Die Suche nach dem Absoluten“ – tastet Sartre sich über das Wesen des Menschen an das Wesen seiner Werke heran. Sartres Hauptanliegen scheint es zu sein, den einzelnen Künstler zu verstehen und nicht eine allgemeine, umfassende Theorie zu verfassen. Vincent von Wroblewsky drückt das so aus: „Sartres Philosophierenund dazu gehören, wenn auch in eigener Weise, seine ästhetischen Reflexionen - hat viel Ähnlichkeit mit der Arbeit der Künstler, die er beobachtet und zu erfassen versucht hat. [..J Es kommt ihm einzig darauf an, ob er diese Anregungen innerhalb seines Denkens fruchtbar machen kann [..J er prüft, ob sich die vorläufigen Ergebnisse in einen größeren Zusammenhang integrieren lassen, beobachtet, ob sie lebensfähig sind, und das heißt für ihn, ob sie sich im Leben bewähren.[25] Man kann sagen, dass Sartre auch hier ganz und gar Phänomenologe ist, indem er die Erscheinungen und Eindrücke für sein Bewusstsein beschreibt. Außerdem zeigt sich, dass er ebenfalls ganz und gar Existenzphilosoph ist, da er die Essenz, das Wesen des Künstlers betrachtet und in einen Lebenszusammenhang stellt.

DER REZIPIENT

Ich habe bisher von Sartres Kunst- und Kunstwerkauffassung im Allgemeinen gesprochen, dann die Künstlerperspektive beschrieben und werde nun den Rezipienten als den dritten konstituierenden Aspekt einer Kunsttheorie behandeln. Der Rezipient eines Kunstwerks nimmt bei Sartre aber eine besondere Stellung ein, ja Sartre hat geradezu eine Rezeptionsästhetik geschaffen. Sartre spricht vom Rezipienten meistens als dem Leser. Seine Rolle beschreibt Sartre in „Was ist Literatur?“ und in „Was kann Literatur?“, einem Beitrag zu einem Podiumsgespräch von 1964. Meine These ist, dass für Sartre dem Rezipienten die eigentlich schöpferische Rolle beim Erschaffen eines Kunstwerks zukommt.

In „Was kann Literatur?“ heißt es, der Leser bekomme durch die Literatur einen „Sinn seines Lebens“.[26] Diesen Sinn schaffe sich der Leser - bewusst oder auch unbewusst - auf mehrfache Weise. Eine Art des Erschaffens von Sinn ist, dass sich der Leser als der Schöpfer wahrnimmt. Er eignet sich die Welt auf ähnliche Weise an, wie der Künstler und gibt ihr seine eigene Gestalt. Der Leser kann die Weltsicht des Autors ja nur auf seine Weise erfassen, er schlüpft in sie hinein und erzeugt sie ganz für sich. Lesen und Schreiben sind damit zwei Seiten der gleichen Medaille. Der Schriftsteller schreibt über sich und seine Welt und gibt ihr einen Sinn und der Leser erliest ihn sich.

Dann spricht Sartre davon, dass Literatur eine Kommunikation von Autor und Leser bedeutet. Der Autor kann zwar für sich selber schreiben, zum Beispiel im Stil des L’art- pour-l‘art-Ästhetizismus, aber das sei nach Sartre nicht der Zweck von Literatur und Kunst: „Kunst gibt es nur für und durch andere. f...] Wenn der Autor allein existierte, könnte er schreiben, soviel er wollte, niemals würde das Werk als Gegenstand das Licht der Welt erblicken, und er müßte die Feder weglegen oder verzweifeln. Aber der Vorgang des Schreibens schließt den des Lesens ein als sein dialektisches Korrelat.“[27] Mit ‘Gegenstand‘ meint Sartre offenbar den imaginären Gegenstand, der sich bei der Lektüre zum Sujet bzw. Thema bzw. Sinn herauskristallisiert und ohne die Reflexion eines Lesers vielleicht bloße Spinnerei des Autors geblieben wäre. Dasselbe gilt auch für das Betrachten eines Gemäldes oder das Hören einer Sinfonie. Alleine ist der Mensch, in diesem Fall der Künstler, in seinen Vorstellungen gefangen; erst zwei und mehr Menschen können eine Realität schaffen. Bei der Lektüre treffen sich also der Autor und der Leser in ihrer gemeinsamen Welt, könnte man sagen. Der Leser trägt schon eine individuelle Sicht auf die Welt in sich. Gleichzeitig erfasst er beim Lesen die Weltsicht des Autors und somit entsteht Kommunikation - wenn auch indirekt. Das Moment der Kommunikation betont Sartre vor allem als Gegensatz zu den Prinzipien des „nouveau roman“, wie überhaupt bei ihm viele Gedanken aus einer bewussten Abgrenzung entstanden sind. Dort hat der Autor als Referenz keine Bedeutung und der Text ist ausschließlich nach Eigengesetzen strukturiert, was Sartre strikt ablehnt.

Menschen geben allem möglichen einen Sinn im Leben, aber die Einheit aller partiellen Sinngehalte finden sie nach Sartre nur in der Lektüre (und damit auch in der Kunst im Allgemeinen). „Ein Buch fordert sie gerade auf durch Lesen diese Einheit in Freiheit zu realisieren.“[28] Der Leser suche nach einem Sinn, denn sonst würde er nicht lesen. Die Freiheit der Menschen löse die Sinnsuche aus. Das Buch bzw. das Kunstwerk wende sich an den Rezipienten und seine Freiheit. Sartre verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des Appells. Sartre macht sich keine Illusion darüber, dass das Werk direkte Folgen auf das Handeln des Rezipienten habe. „Allerdings wird er jetzt eine Art Sinn des Lebens haben [..] keinen Sinn in Begriffen, denn in der Literatur spricht man nicht von Begriffen, man spricht vom ihm selbst [..J mit der Dichte eines Stils, mit einer Seinsweise, die ihn in eine Situation versetzt [...]“[29] Es gehe in der Literatur nicht darum aufzuklären, sondern eine Art totalen Sinns zu geben, so dass der Leser den Eindruck erhalte, „daß dahinter die Freiheit ist, daß er einen Moment der Freiheit erlebt hat, indem er sich selber entging und mehr oder weniger klar seine gesellschaftlichen und sonstigen Bedingtheiten verstand Wenn er diesen Augenblick der Freiheit erlebt hat, das heißt, wenn er für einen Augenblick durch das Buch den Entfremdungs­- oder Unterdrückungskräften entgangen ist, seien Sie sicher, daß er ihn nicht vergessen wird. Das, glaube ich, kann die Literatur oder zumindest eine bestimmte Literatur.“[30]

Kritische Auseinandersetzung mit Sartre

Die Kunst ist wichtig für Sartre. Er hat sich mit ihr nicht nur als Teil eines philosophischen Systems beschäftigt, wie seine zahlreichen Studien zu Künstlern wie Flaubert, Giacometti, Tintoretto, Camus, Wols usw., seine vielen Buchrezensionen in seiner Zeitschrift „Les Temps Modernes“ oder seine Reflexionen zu seinem eigenen Kunstzugang in beispielsweise „Die Wörter“ zeigen. Sartre ist nicht nur Philosoph und politischer Essayist, sondern mindestens in gleichem Maße selber Künstler, eben Schriftsteller, gewesen.

Obwohl sein Zugang zur Kunst, zur Bild- und Textrezeption, ein durchaus plausibler ist und meines Erachtens die Wichtigkeit einer existenziellen, d. h. ganz und gar persönlichen, Werk und Künstler als eine Einheit betrachtende Sicht bewiesen hat, sind seine Theorien nicht unproblematisch.

In erster Linie ist es seine Auffassung des Künstlers und des Kunstwerks als bloß imaginärem Objekt, die ich kritisiere. Wenn man „Die Wörter“ liest, erkennt man, dass das Schreiben für Sartre eine fast schon religiöse Manie war. Es war im Wesentlichen ein geistiger Vorgang, der die eigene Identitätsschöpfung und Daseinberechtigung zum Ziel hatte. Er schreibt, wie er „die lebenden Dinge mit der Schlinge der Sätze einfing“[31] ‚ und er so die Objekte in den Zeichen einfangen und aus ihrer Beschreibung „neue Wesen“ schöpfen konnte. Sartre hat selber als Kind den Weg zum Schreiben auch über die Sinne gefunden, über die Präsenz, den Geruch von Büchern, die Atmosphäre der Bibliothek etc. Diese Materialität und Sinnlichkeit der Wörter und der Welt im Allgemeinen in seine theoretischen Gedanken einzubringen hat er meines Erachtens vernachlässigt.

Wenn ein Künstler schafft, lassen sich meines Erachtens seine Sinne nicht von seinem Geist trennen. Am Beispiel des Malers sind es bestimmte Farben, für die er Liebe oder Aversion empfinden kann oder das Material, mit dem er arbeitet, eröffnet ihm plötzlich eine ganz neue Maltechnik u.ä. Sartre erklärt aber schon in „Das Imaginäre“ von 1940, daß Schönheit nur einem Imaginären zugesprochen werden könne.[32] Er will damit den ästhetischen Wert von Kunstwerken gegenüber einem Vergnügen der Sinne abgrenzen und damit von der Naturschönheit. Ich denke aber, dass er so vielen avantgardistischen Werken nicht gerecht werden kann, die sehr wohl zu einem großen Teil ihren Reiz und Wert aus z. B. Form- und Farbenspiel ziehen. Die Farbflächenmalerei Mark Rothkos beispielsweise erzeugt zwar auch imaginäre, quasi mysthische, Erlebnisse und Vorstellungen, aber in erster Linie begeistert sie den Betrachter durch die reine Sichtbarkeit und Präsenz der Farben und Formen, wie sie das Individuum Mark Rothko zum Ausdruck bringt.

Der Künstler ist bei Sartre zwar ein Schöpfer von etwas Sinnlichem, aber die Beziehung des Künstlers zu seinem Werk ist gestört. Beim Kunstschaffen spricht Sartre von den Ideen, die im Werk realisiert würden und mit denen der Betrachter sich dann auseinandersetzen würde. Der Künstler könne nicht gleichzeitig wahrnehmen, also enthüllen, und schaffen: „Ich kann nicht gleichzeitig enthüllen und hervorbringen. Die Schöpfung geht gegenüber der schöpferischen Tätigkeit ins Unwesentliche über [...] So verbindet sich unsere innere Gewißheit, „enthüllend“ zu sein, mit jener andren, gegenüber dem enthüllten Ding unwesentlich zu sein.“[33] Diese Auffassung lässt das fertige Kunstwerk zu einer vergeistigten, bloß imaginären Vorstellung werden, die keine Einheit mit ihrem materiellen Gegenstand bildet.

Diese letztendlich entmaterialisierte Auffassung reicht mir zur Erfassung des Phänomens Kunst nicht aus. Zwar schreibt er über die Dinglichkeit von Wörtern, wie der Name Florence beispielsweise die Assoziationen Florenz, fleuve (Fluß), fleure (Blume), oder die Erinnerung an eine bestimmte Frau in sich trage.[34] Sartre hat also sehr wohl die materielle Präsenz von Kunstwerken herausgestellt, in dem er beispielsweise über ein Gedicht schreibt: „Die Emotion ist Ding geworden, sie hat jetzt die Opazität [Undurchsichtigkeit] der Dinge.“[35] Aber trotzdem bleiben auch sichtbare Gegenstände, also zeitlich und räumlich anwesende, bei Sartre letztendlich imaginär als Repräsentanten von Angst, Hass etc. Die avantgardistische Kunst bietet aber genügend Beispiele für Kunst als Experiment und Kunst als materiellem Ausdruck des individuellen Stils.

Sartre macht in seinen eigenen schriftstellerischen Werken Dinge, Gedanken, Gefühle vorstellbar und nachfühlbar. Das Moment des „Fühlbar machens“ – wie ich es nenne – vernachlässigt er aber in seinen theoretischen Überlegungen hinsichtlich des Künstlers. Dessen Gefühle und Wahrnehmungen gehen in der Praxis doch direkt in sein Werk über und bilden darin meines Erachtens eine Symbiose zwischen Wahrnehmung und Vorstellung. Für Sartre sind Kunstwerke Verstärker der Imagination. Genauso sind sie aber – denke ich – auch Verstärker der Wahrnehmung. Auch Wahrnehmung und Vorstellung verstärken und beeinflussen sich gegenseitig.

Meine Kritik an Sartres Auffassung des Künstlers gründet auf seiner elementaren Trennung von Wahrnehmung und Vorstellung. Er trennt in „Das Sein und das Nichts“ das An-sich der Objekte vom Für-sich der Subjekte. In „Das Imaginäre“ drückt er die Gegensätzlichkeit so aus: „Vorstellung und Wahrnehmung [...] stellen vielmehr die beiden großen unreduzierbaren Haltungen des Bewußtseins dar. Daraus folgt, daß sie sich gegenseitig ausschließen.“[36] Sartre macht diese scharfe Unterscheidung – wie er selber erklärt –‚ um zu verhindern, dass die Wahrnehmung von irrationalen Vorstellungen heimgesucht und somit in ihrem Realitätsstatus gefährdet wird. Diese Trennung philosophisch zu diskutieren kann ich nicht leisten, auf die Ästhetik bezogen erfasst er aber meines Erachtens das Phänomen Kunst nicht in seiner Komplexität.

Diese Gedanken lassen sich schlussfolgernd so zusammenfassen, dass Sartre weniger an den konkreten materiellen Werken interessiert ist als an Bewußtseinsvorgängen. Er hat zwar in seinen Portraitstudien die Künstler in den Mittelpunkt seiner ästhetischen Theorie gestellt. Sein Interesse aber ist auch hier zu verstehen, wie ein anschauliches, aber imaginäres Kunstwerk im Bewusstsein entsteht, also welche Vorstellungen der Künstler umsetzt.

Auf den Aspekt des konkreten Kunstschaffens ist Maurice Merleau-Ponty differenzierter und meines Erachtens praxis- und realitätsnäher als Sartre eingegangen. Merleau-Pontys Gedanken zur Kunst sind auch ein indirektes Zwiegespräch mit Sartres Theorien, die er zu erweitern versucht hat. In „Prosa der Welt“ und der Essaysammlung „Das Auge und der Geist“ betont Merleau-Ponty die Körperlichkeit der Sprache, der Malerei und der Kunst im Allgemeinen. Den Körper versteht er als die Schnittstelle von Außen- und Innenwelt. In „Das Sichtbare und das Unsichtbare“ umschreibt er, wie bei der Malerei eine doppelte Sichtbarkeit entstehe: das Unsichtbare des individuellen Ausdrucks, also der Stil, und die Sichtbarkeit, also die stoffliche Präsenz. Im Gegenstand sind demnach mehrere Wirklichkeitsebenen enthalten, nämlich das Materielle, das Geistige, das Körperliche und damit das Individuelle. Der Maler malt ja nicht, um Realität zu repräsentieren, sondern um seine Sichtweise zu präsentieren. Sein Stil ist unmittelbar an den gemalten Gegenstand, den geschriebenen Text gebunden und kann daher nicht von ihm getrennt werden, wie es Sartre in seiner Theorie des imaginären Kunstgegenstands darzustellen neigt.

In seinen Bemühungen, sich von materialistischen und semiotischen Positionen abzugrenzen und aufgrund der dialektischen Anlage seiner Philosophie, ist Sartre meines Erachtens selber einem Schematismus verfallen. Merleau-Pontys Gedanken zum Kunstwerk lassen sich so zusammenfassen, dass in der Kunst die Grenzziehung zwischen Sinn und Verstand aufgehoben ist. Daher meine ich, dass der Gegenstand einer Phänomenologie der Kunst zwar das imaginäre Phänomen des Kunstwerks ist, sie der Avantgarde aber nur gerecht wird, wenn sie das Prozesshafte, Spontane, Intuitive, Sinnliche hervorhebt, so wie es Merleau-Ponty oder auch schon Bergson getan haben.

Sartre wollte als Phänomenologe die Opposition von Materialismus und Idealismus relativieren. Auch Merleau-Ponty spricht in der „Phänomenologie der Wahrnehmung“ von diesem Vorhaben. Er ist – denke ich – in der Umsetzung dessen Sartre einen Schritt voraus. Denn in seiner Philosophie werden die Phänomene der Außenwelt und damit auch die Kunstphänomene ein Teil des Menschen und bleiben nicht halb im „An-sich“ stecken wie bei Sartre (was unter anderem das Gefühl des Ekels vor den Dingen hervorruft, wie Sartre es in „Der Ekel“ beschreibt). Sartre sieht zwar die Persönlichkeit des Künstlers als entscheidend an, kann aber aus seiner dialektisch angelegten Philosophie heraus den in der Kunst oft gleitenden Übergang von Wahrnehmung und Vorstellung nicht vertreten. Bei ihm bleibt der Künstler zu seiner Schöpfung „unwesentlich“ und sein Werk ihm damit fremd. Dabei ist – denke ich – die Suche nach dem eigenen Stil im Kunstschaffen doch genauso existenziell wie die Suche nach dem Sinn, die den Rezipienten zur Kunst führt.

Fazit

Kunst und Phänomenologie sind sich in ihrer Art der Weltbetrachtung und Interpretation verwandt. Sie haben die Prinzipien der Imaginarität, der Synthetizität und der Intentionalität gemeinsam. Laut Lambert Wiesing müsse die Phänomenologie die Kunst daher weniger als einen Forschungsgegenstand ansehen, vielmehr als selbstständiges Aktionsgebiet, das auf eigene Weise Phänomenologie betreibt.

Meines Erachtens leistet das die Ästhetik Jean-Paul Sartres. Sartre fasst die Kunst als phänomenologische Herangehensweise an die Welt auf, lässt ihr aber auch eine Funktion sui generis. Für ihn dient sie als Verstärker der Imagination, wie es die Wahrnehmung nicht leisten kann, da sie ein imaginäres Kunstobjekt hervorbringt bzw. zum Gegenstand der Betrachtung hat. Dabei reicht sein Kunstverständnis über das semiotische, das im Kunstwerk ein Zeichen sieht, und das materialistische, das die Maßstäbe des Kunststatus im Werk sucht, hinaus.

Kunstwerke entstehen für ihn in Wechselbeziehung von Künstler und Rezipient. Zwei Bedingungen für den Kunststatus eines Werkes habe ich als wesentlich hervorgehoben. Erstens müsse es „etwas-als-etwas“ präsentieren, also Präsentation einer Vorstellung sein und zweitens ausdrücken „wie-und-wann-etwas-als-etwas“ präsent ist, also die Sichtweise des Künstlers und die Rezeption eines Anderen einschließen. Dadurch ergibt sich, dass Kunst für Sartre neben der imaginations-verstärkenden Funktion auch und vor allem indirekte Kommunikation zwischen Produzent und Rezipient ist. Das habe vor allem Auswirkung auf den Rezipienten. Die Kunst kommt bei Sartre als Ausdruck eines eigenständigen Schaffensprozesses, also von Freiheit, einer Einheit zwischen Mensch und Welt am nächsten. Kunst verändert in Sartres Ästhetik die Welt zwar nicht in ihren Grundzügen, lässt den einzelnen Menschen sich aber durch Rezeption von Kunstwerken frei fühlen und hat damit größten Einfluß auf seine Selbstreflexion und -schöpfung.

Kunstwerke sind Sartre zufolge in erster Linie Bewusstseinsphänomene. Er ist weniger an den konkreten materiellen Werken interessiert, als an Bewusstseinsvorgängen. Das hat zur Folge, dass er manchem künstlerischen Phänomen nicht so gerecht wird, wie beispielsweise Maurice Merleau-Ponty. Sartre hat sich zwar in seinen Künstler-Portraitstudien vor allem denjenigen zugewandt, die einen neuen, revolutionären Umgang mit ihrem Material entdeckt haben, wie Flaubert oder Giacometti. Sartres Ästhetik – mit seiner Theorie des Kunstwerks als imaginärem Objekt – kann zur Klärung des Phänomens Kunst sehr nützlich sein. Er ergreift entschieden Partei für die Avantgarde, kann aber durch seine strikte Trennung von Vorstellung und Wahrnehmung den Schaffensprozess der Praxis nicht adäquat darstellen.

Sartres Phänomenologie und Ästhetik sind im Vergleich mit Merleau-Ponty idealistisch geprägt. Problematisch wird das dann, wenn Sartre zwischen Wahrnehmung und Vorstellung nicht nur methodisch trennt, wie es in der Philosophie zur Analyse notwendig ist, sondern existentiell.

[...]


[1] Wiesing, S. 35

[2] Suhr. S. 99

[3] Wiesing, S. 91

[4] ebd., S. 35

5 Fellmann, S. 18

[6] Vrhunc, S. 136

[7] ebd., S. 162

[8] Wiesing, S. 31

[9] Ders., S. 32

[10] Wiesing, S. 99

[11] Wiesing, S. 106

[12] Ders., S. 117

[13] Sartre: Das Imaginäre, S. 293

[14] Sartre: Was ist Literatur? S. 12

[15] Ebenda, S. 42

[16] Ebenda S. 14

[17] Sartre: Das Imaginäre, 5. 293

[18] Sartre: Was ist Literatur? S. 34

[19] Ders.: Die Wörter. S. 144

[20] Sartre. Was ist Literatur, S. 36

[21] Ebenda, S. 49

[22] Sartre: Was ist Literatur. S. 46

[23] Ebenda, S. 37

[24] Sartre: Selbstportrait mit 70 Jahren. In: Sartre über Sartre, 5. 1S3

[25] Sartre: Die Suche nach dem Absoluten. Nachwort, S. 173 if.

[26] Sartre: Was kann Literatur? Beitrag zu einem Podiumsgespräch. In: Was kann Literatur? S. 80

[27] Ders.: Was ist Literatur? S. 39

[28] Ders.: Was kann Literatur? Beitrag zu einem Podiumsgespräch. In: Was kann Literatur? S. 80 ff.

[29] Sartre: Was kann Literatur? Beitrag zu einem Podiumsgespräch. In: Was kann Literatur? S. 80

[30] Ebenda, S. 83

[31] Sartre: Die Wörter, S. 104

[32] Sartre: Das Imaginäre, S. 293

[33] Ders.: Was ist Literatur. S. 36

[34] Ebenda, S. 18

[35] Ebenda, S. 21

[36] Sartre: Das Imaginäre, S. 199

Ende der Leseprobe aus 152 Seiten

Details

Titel
Jean-Paul Sartre. Literatur des Existenzialismus
Autoren
Jahr
2013
Seiten
152
Katalognummer
V266232
ISBN (eBook)
9783656573319
ISBN (Buch)
9783956871146
Dateigröße
1140 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
jean-paul, sartre, literatur, existenzialismus
Arbeit zitieren
Silja Maehl (Autor:in)Paul Parszyk (Autor:in)Claudia Kollschen (Autor:in)Ralf Beckendorf (Autor:in), 2013, Jean-Paul Sartre. Literatur des Existenzialismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/266232

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