Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die aktuelle gesellschaftliche Sichtweise auf Mädchen
3. Aktuelle Daten zum Ausmaß der Mädchengewalt
4. Ursachen für Mädchengewalt
5. Fallbeispiele
6. Physische Gewaltausübung von Mädchen vorbeugen
7. Fazit
Literaturverzeichnis
Eigenständigkeitserklärung
Anhang
1.Einleitung
In Karlsruhe stach eine 16-Jährige eine 17-Jährige auf offener Straße nieder[1], in Bad Windsheim misshandelte eine Gruppe mehrerer 14- und 15-jähriger Mädchen zwei Jungen und erpressten Bargeld von ihnen[2], in Hamburg schlug eine 14-Jährige eine 20-Jährige krankenhausreif[3]. Dies sind nur einige Beispiele von Medienberichten über Mädchengewalt aus den letzten Jahren. Zwischen 1993 und 2007 hat sich die Zahl der Täterinnen bei Körperverletzungsdelikten verdreifacht.[4]
Doch wie groß ist das Ausmaß wirklich? Und was sind die Ursachen hierfür? Was wissen wie über die Täterinnen?
Ziel dieser Hausarbeit ist es, durch eine Informationszusammentragung Folgerungen für die geschlechtsspezifische Gewaltprävention zu erlagen. Inspiriert wurde ich durch die Plakatvortragsrunde im Seminar, bei der es unter anderen auch um Gewaltausübungen von Frauen und um Mädchenarbeit ging.
Ich bin durch meine Arbeit in der offenen Kinder-und Jugendarbeit täglich sowohl mit Opfern als auch mit Täterinnen konfrontiert und denke, dass mir dort die Folgerungen der Hausarbeit in meiner Mädchengruppe helfen werden. Es geht in dieser Hausarbeit um die 12- bis 18 Jährigen und nicht um jüngere Kinder oder erwachsene Frauen. Des Weiteren bezieht sich diese Arbeit auf physische Gewalt, die bewusst eingesetzt wird um anderen zu schaden.
Diese Hausarbeit trägt den Titel „Mädchen als Gewalttäterinnen: Physische Gewaltausübung von weiblichen Jugendlichen verstehen und vorbeugen“. Nach dieser Einleitung folgt dazu in Punkt 2 erst einmal die aktuelle Sichtweise der Gesellschaft auf Mädchen und die Auswirkungen dessen auf die Sichtweise auf Mädchengewalt. Dann folgt ein Überblick über die Entwicklung von Mädchengewalt in den letzten Jahren, um das Ausmaß zu erfassen. In Punkt 4 geht es dann um die Gründe dafür, warum Mädchen gewalttätig werden. Punkt 5 veranschaulicht dies noch anhand von drei Fallbeispielen. Mit diesem Wissen folgt dann Punkt 6 und die Frage, wie man Mädchengewalt vorbeugen kann. Zum Schluss gibt es noch ein Fazit.
2. Die aktuelle gesellschaftliche Sichtweise auf Mädchen
Die aktuelle gesellschaftliche Sichtweise auf Mädchen ist positiv. Sie werden nicht mehr als benachteiligt angesehen, sondern als „[…] Alpha-Mädchen […]“[5]. Ihnen wird damit zugeschrieben, dass ihnen alle Türen offen stehen, sie Bildungsgewinnerinnen, Multitasking fähig und flexibel sind und vor allem auch, dass sie über soft skills verfügen und Konflikte friedlich klären können.[6]
Es gibt zahlreiche vielfältige und in sich widersprüchliche Anforderungen an die Rolle „Mädchen“, die zu viel Überforderung und wenig Orientierung führen.[7]„Das Mädchen von heute ist demnach stark, selbstbewusst, schlau, schlank, sexy, sexuell aktiv und aufgeklärt, gut gebildet, familien- und berufsorientiert, heterosexuell, weiblich, aber auch cool, selbstständig, aber auch anschmiegsam, es kann alles bewältigen und kennt keine Probleme, keinen Schmerz- all dies in der Summe, nicht wahlweise.“[8]Obwohl die erste und die zweite Pisa-Studie bewiesen haben, dass der Bildungserfolg stark vom Elternhaus abhängt und weitere Studien gezeigt haben, dass je problematischer die Lebenslage eines Mädchen ist, desto stärker sich auch geschlechtsspezifische Benachteiligungen auswirken, wird diese Ansicht noch dem Motto „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ verleugnet und das Mädchen selbst in die Verantwortung genommen.
Physische Gewalt, die von Mädchen verübt wird, schockiert, weil sie nicht den Rollenzuschreibungen und gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. „Das vorherrschende Weiblichkeitsbild in unserer Kultur definiert Frauen als nett, nicht aggressiv, empathisch, um andere bemüht und auf andere bezogen.“[9]Gewalt von Frauen ist somit „ […] nicht nur ein Verstoß gegen die Rechts-, sondern auch gegen die Geschlechterordnung“[10]und damit besonders irritierend. Dies hat zur Folge, dass Mädchengewalt entweder an das Geschlechterkonzept angepasst wird, indem die Gewalt als Verteidigung gesehen wird, oder dazu, dass die Gewalt dämonisiert wird.[11]
3. Aktuelle Daten zum Ausmaß der Mädchengewalt
Immer noch sind 80 bis 90% der Jugendgewaltdelikte Jungengewalt, der Anteil an Mädchengewalt ist jedoch stark gestiegen.[12]
Wie stark genau ist schwer zu belegen, da das Hellfeld nur die polizeilich bekannten Gewaltdelikte aufzeigt. Etwa ein Viertel aller Gewaltdelikte wird jedoch nicht angezeigt. Steigende Zahlen von Mädchen als Gewalttäterinnen können somit entweder mit einem tatsächlichen Anstieg der Straftaten oder mit einer erhöhten Sensibilität für Mädchen als Täterinnen und damit einer erhöhten Anzeigebereitschaft verbunden sein. Für einen tatsächlichen Anstieg spricht, dass in anderen europäischen Staaten, in denen Mädchengewalt ein nicht so zentrales Thema der Medien war, ein vergleichbarer Tatverdächtiginnenanstieg zu erkennen ist.[13]
Die Zahlen wie sehr die Mädchengewalt angestiegen ist schwanken. In einigen Medienberichten ist von einer Verdreifachung der Täterinnen bei Körperverletzungsdelikten zwischen 1993 und 2007 die Rede.[14]Die kriminalistisch-kriminologische Forschungsstelle des Landeskriminalamts in Nordrhein-Westfalen geht von einer Steigerungsrate bei den von Mädchen begangenen Gewaltdelikten im Zeitraum von 1996 bis 2006 von +112,5 % aus, während die Steigungsrate bei den Jungen nur +76 % betrug.[15]Dabei steigt die Mädchengewalt in allen drei ausgewählten Altersgruppen, 8 bis 13 Jahre, 14 bis 17 Jahre und 18 bis 20 Jahre, stärker an als die der Jungengewalt.[16]Betrachtet man nur die Delikte von vorsätzlichen leichten Körperverletzungen von 1996 bis 2008, gibt es bei den Mädchen eine Steigung von 290%.[17]Trotz allem betrug die Relation zwischen männlichen und weiblichen Tatverdächtigen in Nordrhein-Westfalen 2008 bei leichter Körperverletzung bei den 8 bis 13-Jährigen 3,5:1, bei den 14 bis 17-Jährigen 3,2:1 und bei den 18 bis 20-Jährigen 5,7:1, jeweils für die Jungen.[18]Mädchen werden seltener zu Gewalttäterinnen, wenn sie Täterinnen werden, begehen sie jedoch genauso viele Delikte wie die Jungen und es bleibt meist nicht bei einer Einzeltat. Nach dem 18. Lebensjahr nimmt bei Mädchen die Gewalt deutlich ab. Die höchste Tatverdächtigenbelastungszahl gibt es bei den Mädchen in der Kategorie 14- bis 17- Jährige, bei den Jungen hingegen bei den 18 bis 20-Jährigen.[19]
Das antisoziale Verhalten ist meist adolescence-limitet, dass heißt auf das Jugendalter beschränkt. Vor und nach der Adoleszenz gibt es kaum Täterinnen.[20]
All diese Angaben beziehen sich auf das Hellfeld, also nur auf die polizeilich bekannten Delikte. Vermutlich ist die Dunkelziffer der Straftaten viel höher. In verschiedenen Dunkelfeldstudien wurden Mädchen danach befragt, ob sie körperliche Gewalt ausüben. Die Prozentzahl der Mädchen, die dies bejaten, variiert je nach Studie zwischen 10 und 25%.[21]
4. Ursachen für Mädchengewalt
Rahel Heeg, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit in der Nordwestschweiz, führte sehr ausführliche Fallstudien mit Gewalttäterinnen durch und erforschte die Bedeutungen physische Gewaltausübung für Mädchen. Diese 2009 veröffentlichte Studie kommt zu dem Entschluss, dass bei der Gewaltausübung von Mädchen drei Faktoren eine Rolle spielen: Familie, Selbstwahrnehmung und die Gruppe.[22]Dabei ist der Faktor der Familie und damit der familiären Integration oder familiären Desintegration so von zentraler Bedeutung, dass er die Gewalttäterinnen in zwei Gruppen teilt.[23]Familiär integrierte Mädchen wenden Gewalt meistens aus anderen Gründen an als familiär desintegrierte Mädchen, die innerfamiliäre Gewalt erfahren haben. Für die erste Gruppe geht es hauptsächlich um das Thema Anerkennung und sie erhoffen sich durch die Gewalt diese zu erlangen. Auf der Ebene der Selbstwahrnehmung geht es dabei darum Selbstwirksamkeit zu erfahren und auf der Ebene der Gruppe wird Anerkennung angestrebt. Für die zweite Gruppe geht es um das Thema Selbstschutz, also darum etwas nicht zu verlieren. Die Gruppe ist dabei laut Heeg ein Bewältigungshilfeversuch und auf der Ebene der Selbstwahrnehmung wird das negative Selbstkonzept durch den Kontrollverlust bestätigt.[24]Mirja Silkenbeumer von der Universität Münster bestätigte in ihrer Fallstudie die Ergebnisse von Rahel Heeg.
Wie in Punkt 3 festgestellt, ist Gewalt bei Mädchen hauptsächlich ein Thema während des Jugendalters. Die drei zentralen Faktoren Familie, Selbstwahrnehmung und Gruppe erklären dieses Phänomen, da dies zentrale Faktoren der Adoleszenz sind. Zu den Entwicklungsaufgaben der Jugend zählen die Ablösung von den Eltern[25]und das Aufbauen von Gruppen, Cliquen und reifen Freundschaftsbeziehungen[26], sowie die Identitätsarbeit[27]. Sobald diese Aufgaben nicht mehr im Mittelpunkt des Lebens stehen, verringert sich auch die Bedeutung der Gewalt, was die starke Abnahme nach dem Jugendalter erklärt.
Die Mädchen, die familiär integriert sind und keine Gewalt in der eigenen Familie erfahren haben, erleben die Gewaltausübung als positiv und als einen Gewinn.[28] „Mit Hilfe von Gewalt bauen die Mädchen ein Selbstkonzept der Stärke und Selbstwirksamkeit auf und bestätigen dieses.“ [29] Dies ist für die Mädchen immer dann wichtig, wenn sie nicht auf anderen Wegen Stärke und Erfolge erleben können, dass heißt zum Beispiel keine guten Schulnoten bekommen, nicht viel Geld zur Verfügung haben und auch sonst keine besonderen Hobbies haben. Bei fehlenden Zukunftsperspektiven bleibt nur das eigene Selbstbild als starke Schlägerin, die für Gerechtigkeit sorgt und sich nichts gefallen lässt.[30]So fühlen sie sich als aktiv und haben das Gefühl, etwas zu bewirken und Nicht-Opfer zu sein. Dabei wird häufig die erste Schlägerei zu einen „[…] epiphanischen Erlebnis […]“[31], da dort zum ersten Mal Selbstwirksamkeit erlebt wird. So wird die Gewaltausübung zu einer, und häufig der einzigen, Ressource positiven Ich-Erlebens. Das dies so werden kann, liegt jedoch auch an der familiären Sozialisation. Rahel Heeg fand in ihrer Studie heraus, dass Mädchen, die Gewalt als positives Macht- und Stärkemittel nutzen, zu Hause sehr angepasst an ihre Eltern leben müssen und mit wenig Partizipation und Eigenständigkeit erzogen werden. Die Jugendlichen nehmen dort somit eine machtlose Position ein und die stärkeren Eltern setzen sich durch. Auf diese Weise lernen die Mädchen, dass immer „[d]er oder die Stärkste die […] Definitionsmacht über die Situation“[32]hat. Dieses Grundprinzip wird bei der Gewaltausübung über Gleichaltrige übertragen.
[...]
[1]http://www.sueddeutsche.de/panorama/mitten-in-karlsruhe-messerstich-in-den-ruecken-einfach-so-1.764016
[2]http://www.sueddeutsche.de/bayern/jugendgewalt-maedchenbande-erpresst-bargeld-von-jungen-1.412933
[3]http://www.mopo.de/news/ueberfall-pruegel-maedchen--14--schlaegt-junge-frau-krankenhausreif,5066732,5651064.html
[4]http://www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit/familie/jugendgewalt_in_deutschland/gewalt_bei_maedchen.jsp
[5]Waller, Claudia 2009: Mädchenarbeit: vom Feminismus zum Genderansatz?; S.3
[6]Ebd.; S.3
[7]Ebd.; S.3
[8]Ebd.; S.3
[9]Heeg, Rahel 2009: Mädchen und Gewalt. Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche, S.11
[10]Ebd., S.11
[11]Ebd., S.9
[12]http://www.traumapaedagogik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=184:wenn-maedchen-zuschlagen-aggressives-verhalten-von-maedchen-verstehen&catid=30:sonstiges&Itemid=53
[13]Heeg, Rahel 2009: Mädchen und Gewalt. Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche, S. 22
[14]http://www.planet-wissen.de/alltag_gesundheit/familie/jugendgewalt_in_deutschland/gewalt_bei_maedchen.jsp
[15]LKA Nordrhein-Westphalen 2011: Mädchenkriminalität und Mädchengewalt in NRW
[16]Siehe Anhang 2.1
[17]Siehe Anhang 1.1
[18]Siehe Anhang 1.3
[19]Ebd.
[20]Heeg, Rahel 2009: Mädchen und Gewalt. Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche, S.26
[21]LKA Nordrhein-Westphalen 2011: Mädchenkriminalität und Mädchengewalt in NRW; S.5
[22]Ebd., S.284
[23]Siehe Anhang Punkt 1.2
[24]Ebd., S.284
[25]Göppel, Rolf 2005: Das Jugendalter. Entwicklungsaufgaben-Entwicklungskrisen-Bewältigungsformen, S. 141
[26]Ebd., S. 158
[27]Ebd., S.218
[28]Heeg, Rahel 2009: Mädchen und Gewalt. Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche, S. 276
[29]Ebd., S.281
[30]Heeg, Rahel 2009: Mädchen und Gewalt. Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche; S.101
[31]Ebd., S. 91
[32]Ebd., S.131