Die romaneske Struktur des Abenteuers in "La gitanilla"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

20 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das romaneske Erzählen

3. Begrifflichkeit des Chronotopos
3.1. Der Chronotopos des Weges
3.2. Begriff des Abenteuers sowie der Abenteuerzeit

4. Formen des Chronotopos und der Abenteuerzeit in La gitanilla 10

5. Raumsemantik nach Lotman

6. Raumsemantik nach Lotman in La gitanilla 16

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Yo soy el primero que he novelado en lengua castellana"1 erklärt Cervantes im Prólogo al lector und weist sich damit einen herausragenden Platz in der Entwicklung dieser Gattung zu. Er sieht sich also als erster, der die Gattung der Novelle in der spanischen Literatur verwendet. Im Gegensatz zu anderen Autoren sind seine novelas „no imitadas ni hurtadas“2. Cervantes orientierte sich jedoch an der italienischen Novellentradition wie z.B. Boccaccios Decamerone3. Cervantes berühmtestes und auch meist gelesenes Werk ist wohl Don Quijote, dennoch sind die Novelas Ejemplares, die 1613 veröffentlicht wurden, nicht zu verachten.

Immer wieder wird die Exemplarität der Novellen in den Vordergrund gestellt. Meiner Meinung nach kann man die Novellen in zweierlei Hinsicht exemplarisch nennen. Zum einen sind laut Cervantes selbst alle seine Novellen exemplarisch, da sie einen moralischen Effekt auf den Leser haben sollten. Er behauptet, dass man aus jeder Novelle „algún ejemplo provechoso“4 herausziehen kann. Dennoch lässt sich hier darüber streiten, ob dies wirklich der Fall bei allen zwölf novelas ist. Nur zwei der zwölf Novellen enthalten eine explizite moralische Belehrung am Ende und selbst diese sind in einem ironischen Ton geschrieben, dass es schwer fällt, sie ernst zu nehmen. Seine Novellensammlung entspricht also voll und ganz dem Prinzip prodesse und delectare. Cervantes möchte seine Leser unterhalten und ihnen dennoch etwas mit auf den Weg geben. Zum anderen besteht eine Vorbildhaftigkeit in Bezug, was die literarische Umsetzung der novelas angeht. Cervantes verzichtet zwar auf die Rahmenhandlung, dessen ungeachtet wollte er aber bewusst Novellen schreiben und arbeitet gekonnt gattungsspezifische Merkmale in den verschiedenen Geschichten ab.5

In dieser Seminararbeit konzentriere ich mich allerdings nur auf eine der Novellen, nämlich auf La gitanilla. Nachdem ich Bachtins Theorie des Chronotopos kurz erläutert habe, werde ich versuchen, Bachtins Theorie auf die Novelle La gitanilla aus Cervantes' Novelas Ejemplares anzuwenden . Konkret werde ich überprüfen, ob und in welcher Weise die von Bachtin als Abenteuerzeit und Chronotopos des Weges mit dem Motiv der Begegnung bezeichneten Phänomene in La gitanilla vorliegen. Im Anschluss daran wird das strukturalistisch-semiotische Raummodell Lotmans kontrastierend zu Bachtins Konzept dargestellt und auf die Erzählung bezogen. Abschließend werden die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst sowie ein Ausblick auf weitere interessante Interpretationsansätze gegeben.

2. Das romaneske Erzählen

Die Romaneske ist die Vorform des heutigen Romans. Trotzdem ist es schwer, den Kunstbegriff des Romanesken exakt zu definieren, da diese Gattung im Deutschen nicht so oft vertreten ist wie z.B. im Spanischen oder Englischen. Dennoch könnte man La gitanilla dem entsprechenden englischen Begriff romance zuordnen, denn der Inhalt der Geschichte passt perfekt auf das einer romance.

In der novela La gitanilla geht es um den Kavalier Don Juan aus Madrid, der sich in die schöne Zigeunerin Preciosa verliebt. Diese geht allerdings nicht auf das von ihm direkt gestellte Heiratsangebot ein, sondern fordert von ihm zwei Jahre lang bei den Zigeunern zu leben und sein altes Leben hinter sich zu lassen, damit sie sehen könne, wie ernst es ihm sei. Don Juan verlässt unter dem Vorwand nach Flandern in den Krieg zu ziehen das Elternhaus und nimmt bei den Zigeunern den Namen Andrés Caballero an. Schnell wird Andrés zum geschickten Zigeuner und begeistert den Rest der Gruppe sowie Preciosa von sich. Eifersucht entbrennt in ihm dann, als Clemente zur Gruppe stößt, der, wie herauskommt, ein Poet und Bewunderer Preciosas aus Madrid ist; letztendlich werden die beiden aber gute Freunde. Die Geschichte spitzt sich zu, als sich die Dame Juana Carducha in Andrés verliebt und dieser das Angebot sie zu heiraten ausschlägt. Gekränkt steckt sie Andrés Kostbarkeiten zu, die sie später als gestohlen meldet. Andrés und ein Teil seiner Gruppe werden gefangen genommen und als ein Kavalier die Ehre Andrés beschmutzt, erschlägt er ihn. Der Prozess soll in Murcia stattfinden, wo allerdings entdeckt wird, dass Preciosa von adeliger Herkunft ist und zudem die Tochter des Corregidor. Am Ende wird Andrés freigelassen und es kann eine Hochzeit auf gleichem Stand und Rang gefeiert werden.

Man kann also sagen, dass La gitanilla „a prose narrative treating imaginary characters involved in events remote in time or place and usually heroic, adventorous, or myterious.“6 ist. Die abenteuerlichen Liebesgeschichten bestehen inhaltlich meistens aus „Vorgeschichten der Ehe, in Gestalt einer Trennung und Wiedervereinigung eines heterosexuellen Paares, von dem zumindest ein Teil (der weibliche) überirdisch schön ist“7 Das romaneske Erzählschema, das eindeutig in La gitanilla wiederzufinden ist, weist sehr viele Merkmale der „novela bizantina“8 auf. Der griechische Roman wird von der von Michail Bachtin geprägten Figur des Chronotopos gekennzeichnet. Im Weiteren werden die verschiedenen Arten des Chronotopos erläutert sowie auf die Novelle La gitanilla bezogen.9

3. Begrifflichkeit des Chronotopos

Der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin prägte den Begriff des Chronotopos (griech. chronos = Zeit; tópos = Ort) und untersuchte „den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-Raum-Beziehungen“.10 Chronotopoi charakterisieren somit den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung. Bachtin definiert verschieden Typen des Chronotopos.11 Im methodischen Teil meiner Seminararbeit werde ich die grundlegendsten Chronotopos- Begriffe erläutern. Auf Bachtins Begriff der Abenteuerzeit und den Spezialfall Chronotopos des Weges mit dem Motiv der Begegnung werde ich mit Blick auf La gitanilla besonders eingehen.

Der erste Begriff auf den ich eingehen werde, ist der Begriff des „realenhistorischen Chronotopos“. Zu Beginn seines Essay spricht Bachtin von der „literarischen Aneignung“12 von Raum und Zeit, also das, was einem Menschen „auf der jeweiligen geschichtlichen Entwicklungsstufe zugänglich“13 war. Damit meint Bachtin die Wahrnehmung von Raum und Zeit des Menschen. Frank und Mahlke betrachten den realen-historischen Chronotopos als eine „kulturhistorische Gegebenheit […]: die epochenspezifische raumzeitliche Ordnungsstruktur der menschlichen Wahrnehmung.“14 Wichtig bleibt also festzuhalten, dass Bachtin auch den Menschen in sein Konzept des Chronotopos mit einbezieht. Man kann also sagen, dass eine sogenannte Triangulierung entsteht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Das Subjekt bewegt sich innerhalb des betreffenden Raum-Zeit-Gefüges und deswegen wird das Bild des Menschen durch den Chronotopos bestimmt. Mit den Worten von Mahlke und Franke ist der Mensch des griechischen Abenteuerromans […] ein anderer als der des Rabelaisschen Roman-Zyklus, da beiden Textkorpora unterschiedliche, epochentypische - »reale«, wie Bachtin sagt - Chronotopoi zugrunde liegen. Jeder Autor konkretisiert in seinen Texten, wenn auch auf jeweils spezifische Weise, die ihm vorgegebene Vorstellung von Raum und Zeit, die solcherart das literarische Menschenbild determinieren.15

Das Ergebnis dieser literarischen Aneignung des realen-historischen Chronotopos ist dann der künstlerisch-literarische Chronotopos. Die Strukturierungen von Raum und Zeit bilden hier einen wechselseitigen und untrennbaren Zusammenhang. Räumliche und zeitliche Universalität offenbar die Verwendbarkeit dieser Kategorie schmälert“ (Wegner, 1365). Michael C. Frank und Kirsten Mahlke stimmen hier mit Wegner überein. Auch sie finden, dass die Unklarheiten und die begrifflichen Widersprüche zahlreich sind (vgl. Frank und Mahlke, 240).

Merkmale werden praktisch zu einem Ganzen. Sie durchdringen sich gegenseitig, indem der Raum die chronologische Bewegung der Erzählung gliedert und dimensioniert und umgekehrt die Zeit den Raum mit Sinn erfüllt.16 Der künstlerische Chronotopos ist ebenso ein Element der erzählten Welt, sei es ein Ereignis oder ein Ort, das den Raum-ZeitZusammenhang im Werk sichtbar macht. „Die Zeit, die an sich abstrakt und nicht sinnlich erfahrbar ist, gewinnt erst durch ihre räumliche Konkretisierung und Manifestation im Chronotopos Gestalt und »wird auf künstlerische Weise sichtbar«“17. „Der Chronotopos ist in Bachtins Verständnis nicht nur kennzeichnend für bestimmte Formen der Wirklichkeitsaneignung und der künstlerischen Gestaltung, er dient auch als Ausgangspunkt einer historischen Poetik, denn ,das Genre mit seinen Varianten [wird] vornehmlich vom Chronotopos determiniert.‘ (Chr. S. 8).“18 Typisch für den griechischen Roman ist der Chronotopos des Abenteuers sowie der Chronotopos des Weges, die im Folgenden beschrieben werden.

3.1. Der Chronotopos des Weges

Der Weg ist ein räumliches Phänomen, das vor allem durch die Zeit definiert wird. Ein Weg hat nur einen Sinn, wenn er begangen wird. Das Begehen des Weges bringt hier die zeitliche Komponente ins Spiel. Ein Ortswechsel durch einen Weg kann in einer bestimmten Zeit möglich sein. Bachtin selbst veranschaulicht den Begriff des Chronotopos des Weges durch die Metapher des Lebensweges. In ihr wird etwas Zeitliches, die vergangene Lebenszeit, durch etwas Räumliches, den begangenen Weg, ausgedrückt. Die Vorstellung von der gelebten Zeit wird praktisch auf den Raum übertragen und dadurch konkretisiert:

Die Zeit gießt sich hier gleichsam in den Raum und fließt durch ihn hindurch (wobei sie Wege entstehen läßt), was sich in den zahlreichen Metaphern des Weges und der Straße niedergeschlagen hat: ,der Lebensweg‘, ‘einen neuen Weg beschreiten‘, ‘der geschichtliche Weg‘ usw.; die Metaphorisierung des Weges ist vielfältig und vielschichtig, doch ihr eigentliches Kernstück ist der Strom der Zeit.19

[...]


1 Miguel de Cervantes: Novelas Ejemplares I. Madrid: 1995, 52.

2 Ebd., 52.

3 Hier gehen die Meinungen auseinander. „The search for Cervantes’s literary models can be seen in most all of the criticism written on his works, and La gitanilla is no exeption. Writing especially on La gitanilla, Thomas Hart notices an influence of the romances of chilvalry […]” (Burgoyne 393). Dennoch darf man hier nicht vergessen, dass sich Cervantes sehr wahrscheinlich doch mit der italienischen Novellentradition identifizieren wollte.

4 Ebd., 52.

5 Stanislav Zimic beschreibt die Novellen in seinem Werk Las Novelas ejemplares de Cervantes sogar als „las mejores novelas cortas escritas hasta entonces y entre más extraordinarias de todos los tiempos en cualquier idioma“ (Zimic 386).

6 Gefunden in Merriam Webster: „romance“ (22.05.2011).

7 Martin von Koppenfels: „Die Ökonomie der Jungfräulichkeit. Psychoanalytische Bemerkungen zu Cervantes' Novelle El amante liberal“, in Cervantes' Novelas ejemplares im Streitfeld der Interpretationen, Berlin: 2006, 320-336, hier 321.

8 Von Koppenfels (1999: 320).

9 Jonathan Burgoyne widerspricht in seinem Essay La gitanilla: A Model of Cervantes's Subversion of Romance dem Ansatz, dass La gitanilla eine romance ist: „This essay will probe the extent to which Cervantes engages the commonplaces of romance in La gitanilla, and the idealism associated with its literary tradition, in order to uncover his deliberate subversion of those same conventions” (Burgoyne, 374). Im weiteren Verlauf der Hausarbeit wird darauf eingegangen, ob La gitanilla dem Chronotopos des Abenteuers enstpricht. Hier wird dann ebenfalls darauf eingegangen, ob die Novelle dem romanesken Erzählschema untergeordnet ist.

10 Michail Bachtin: Cronotopos. Frankfurt am Main: 2008, 7.

11 Michael Wegner erwähnt in seinem Aufsatz Die Zeit im Raum. Zur Chronotopostheorie Michael Bachtins auch eine „einkalkulierte begriffliche Unschärfe und semantische Mehrdeutigkeit“ (Wegner, 1365) und behauptet, dass „die durch Bachtin dem Chronotoposbegriff verliehene

12 Bachtin (2008: 7).

13 Ebd., 7.

14 Frank und Mahlke (2008: 205).

15 Ebd., 210f.

16 Vgl. Bachtin (2008: 7).

17 Frank und Mahlke (2008: 206).

18 Tanja Dembski: Paradigem zur Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Würzburg: 2000, 185.

19 Bachtin (1989: 181).

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Die romaneske Struktur des Abenteuers in "La gitanilla"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
20
Katalognummer
V267017
ISBN (eBook)
9783656577768
ISBN (Buch)
9783656577713
Dateigröße
442 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
struktur, abenteuers
Arbeit zitieren
Laura Weyand (Autor:in), 2011, Die romaneske Struktur des Abenteuers in "La gitanilla", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/267017

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