Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Das Familienbild zu Kleists Zeit
2.1 Zeitliche und gesellschaftliche Bestimmung des Untersuchungsrahmens
2.2 Die Entstehung des Familienbegriffs
2.3 Die patriarchalische Familienstruktur
2.3.1 Der Patriarchalismus als Herrschaftsform
2.3.2 Die Polarisierung von Geschlechtscharakteren
2.3.3 Furcht und Liebe: Die zwei Seiten des Patriarchalismus
2.4 Die Eheschließung im Wandel der Zeit
2.5 Zwischenresümee
3. Das Familienbild in Kleists ‚Die Marquise von O…’
3.1 Die Familiensituation
3.2 Familienbild und -struktur
3.2.1 Die Rolle der Gesellschaft
3.2.2 Der familiale Patriarchalismus
3.3 Das Verfahren der Eheschließung
4. Schluss
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Über das historisch-empirische Familienleben sagen die bürgerlichen Trauerspiele, Rührstücke und Familiengemälde des 18. und 19. Jahrhunderts freilich ebensowenig [ sic ] aus, wie die als Familiendrama apostrophierten Spielfilme und Seifenopern des ausgehenden 20. Jahrhunderts über den familiären Alltag unserer Zeit. Allerdings geben sie Einblick in die einschlägigen Ordnungsvorstellungen und kulturellen Imaginationen der Menschen in einer Epoche.“[1]
Ist das tatsächlich so? Lassen sich aus literarischen Werken nur so wenige Informationen über das Leben in einer bestimmten Epoche ziehen? In der vorliegenden Arbeit soll dieser nüchternen und resignierten Ansicht Anke Vogels ein anschaulicher Vergleich zwischen dem Familienbild um 1800 und dem dargestellten Familienleben in einer Novelle dieser Zeit entgegengesetzt werden. M. E. lassen sich aus diesem Vergleich nicht nur Rückschlüsse über die ‚einschlägigen Ordnungsvorstellungen’ innerhalb der Lektüre ziehen, sondern dem gegenüber kann sich ebenfalls herauskristallisieren, welche zeitgenössischen Gesellschaftsspezifika ein Autor nicht in seinem Werk verarbeitet hat – aus welchen Gründen auch immer.
Grundlage des nachfolgenden Vergleichs wird die Novelle Die Marquise von O… des damals 30-jährigen Heinrich von Kleist sein, die im Jahre 1808 erschienen ist. Die Handlung der Geschichte spielt sich größtenteils im Rahmen der adeligen Familie von G… ab, wodurch die Familienthematik hier einen besonderen Stellenwert einnimmt.
Der Vergleich mit dem zu Kleists Zeit gängigen Familienbild der Realität wirft diverse Fragen auf: Welche Familienstrukturen gab es um 1800, welche waren vorherrschend? Entspricht die Familie von G… genau diesem Familienbild? Oder hat Kleist in seinem Werk eine für die damalige Zeit veraltete oder aber zukunftsweisende Form des Familienlebens aufgezeigt? Welchen Einfluss hatte die Gesellschaft auf das Familienleben? Die Basis dieser Arbeit soll demnach eine intensive Auseinandersetzung sowohl mit der damals gültigen Familiennorm als auch mit den Moral- und Wertvorstellungen zu Kleists Zeit bilden. Zentral ist hier eine Beschäftigung mit dem familialen Patriarchalismus.
Neben diesem literatursoziologischen Zugang zur dargestellten Familie sollen zum anderen auch die familieninternen Strukturen textanalytisch beleuchtet werden. Welche Rolle spielt der Zusammenhalt innerhalb der Familie? Welche Verhaltensweisen legen die einzelnen Familienmitglieder an den Tag und wie verhalten sie sich gegenüber einander, wie gehen sie miteinander um? Ziel dieser Untersuchung ist es, ein Verständnis für den historischen Kontext zu entwickeln sowie einen Einblick in die familiären Strukturen der Familie von G… zu bekommen. Auf allzu detaillierte Charakterisierungen der einzelnen Familienmitglieder soll jedoch verzichtet werden, da diese bereits hinreichend in der Sekundärliteratur behandelt wurden.[2]
Auch soll das Verfahren der Eheschließung, da es sich innerhalb der Novelle auf die Familienstrukturen auswirkt, angesprochen werden, nicht aber im Zentrum der Analyse stehen. Die soziale Stellung und Emanzipation der Frau dagegen soll im Rahmen dieser Arbeit ganz außen vor bleiben, da sich dieses Thema vielmehr für eine eigenständige Betrachtung eignet. Auch auf die Form der Kindererziehung oder die Rolle der Kinder in der Familie kann in diesem Rahmen nicht näher eingegangen werden, da zu wenige Informationen innerhalb der Primärliteratur vorliegen, um diese beurteilen oder mit den Erziehungsmethoden der damaligen Zeit vergleichen zu können.
2. Das Familienbild zu Kleists Zeit
2.1 Zeitliche und gesellschaftliche Bestimmung
des Untersuchungsrahmens
Im Folgenden soll das zur Zeit Kleists typische Familienbild näher beleuchtet werden, wofür zunächst eine Einordnung Kleists wie auch der dargestellten Familie von G… notwendig ist. Der 1777 geborene Kleist schied bereits 1811 freiwillig aus dem Leben, wobei er drei Jahre vor seinem Freitod Die Marquise von O… verfasste; somit ist dieser Zeitrahmen für die historischen Untersuchungen maßgeblich. Der Handlungsort der Novelle befindet sich „in M…, einer bedeutenden Stadt im oberen Italien“[3], in der die Familie zusammen das Kommandantenhaus des Vaters, des Obristen von G…, bewohnt. Kirchers Analysen zufolge entspricht diese dem verarmten Adel[4] angehörende Familie jedoch vielmehr dem bürgerlichen als dem adeligen Typus.[5] Aufgrund dieser Informationen richtet sich der Blick im weiteren Verlauf der Arbeit auf das Familienbild um 1800 in der bürgerlichen und adeligen Gesellschaft in Deutschland.[6]
2.2 Die Entstehung des Familienbegriffs
Heutzutage wird die am häufigsten vertretene Form des familiären Zusammenlebens, die aus Vater, Mutter und deren Kindern bestehende Kleinfamilie, als ursprünglich und selbstverständlich angesehen. Doch lange bevor sich diese Familienform weitgehend durchsetzen konnte, unterlag das gemeinschaftliche Leben innerhalb eines Hauses einem stetigen Wandel und ist somit als ein Produkt historischer Entwicklungen zu verstehen.
Im 18. Jahrhundert unterlag das bestehende Familienkonzept einem gravierenden Wandel. Erst zu dieser Zeit bürgerte sich überhaupt das Wort ‚Familie’ im deutschen Sprachgebrauch ein und ersetzte damit den zuvor geläufigen Begriff des ‚ganzen Hauses’. Dieser schloss alle unter der Herrschaft des Hausvaters stehenden Personen ein, die in dem Haus gemeinsam wohnten, aßen und auch arbeiteten.[7] Somit war unter dem Begriff des ‚Hauses’ nicht nur die Familie im heutigen Sinne, sondern „eine Rechts-, Arbeits-, Konsum- und Wirtschaftseinheit, zu der […] auch das Gesinde und der Besitz gehörten“[8], zu verstehen. Gleichzeitig spiegelte dieses Ordnungsmodell unter streng patriarchalischer Führung den ständisch hierarchischen Gesellschaftsaufbau der Zeit wider.[9]
Allerdings existierte in der deutschen Sprache bis ins ausgehende 18. Jahrhundert kein Begriff zur lexikalischen Abgrenzung des engen, verwandtschaftlichen Personenkreises, der heutzutage als Kernfamilie bezeichnet wird, da der damals neue Begriff der Familie zunächst das gewohnte Bedeutungsspektrum des ‚Hauses’ übernahm.[10] Lediglich die ärmeren Bevölkerungsgruppen lebten als Gemeinschaften zusammen, die aus dem engsten Familienkreis bestanden; doch für die Entwicklung eines gesellschaftlichen Leitbildes war die Lebensform der wohlhabenden Schichten entscheidend.[11] Den endgültigen sozialen und begrifflichen Übergang vom ‚ganzen Haus’ zur Familie begründet Vogel so:
Mit der zunehmenden Urbanisierung und den ökonomischen Umwälzungen des 18. Jahrhunderts erlebte das „ganze Haus“ einen tiefgreifenden [ sic ] Wandel, in dessen Verlauf es seine Eigenschaft als Produktionsstätte einbüßte und auf den Kern der Eltern und Kinder zusammenschrumpfte.[12]
Infolge der Aufklärung und der Romantik entstanden an der Wende zum 19. Jahrhundert wesentliche, neue Denkansätze über Ehe und Familie. Allerdings konnten sich diese in Literatur und Zeitschriften propagierten Ansätze in der Praxis nur langsam, zuerst in der bürgerlichen Oberschicht, durchsetzen und blieben daher zunächst nur theoretisches Gedankengut.[13] Doch prägten nun die aufklärerischen, von Vernunft geleiteten Maximen, zumindest dem normativen Anspruch nach, das Denken und Handeln in den Familien.[14] Eine Folge dieses neuen Denkens war jedoch der Entzug der religiösen Legitimation von weltlicher Herrschaft, was im kleineren Rahmen auch das Familienleitbild betraf, da nun auch der Hausvater das religiöse Verständnis seiner besonderen Stellung innerhalb der Familie verlor.[15] Gestrich erläutert zu dieser säkularisierten Auffassung von Familie und auch Ehe:
Analog dem Staat wurde die Familie als ein Vertragswerk aufgefasst. Jedes Mitglied hatte den daraus entstehenden Verpflichtungen, vor allem aber der Unterordnung unter die Befehlsgewalt des Hausherren [ sic ] zuzustimmen und konnte den Vertrag auch wieder aufkündigen. Diese Auffassung stand im Gegensatz besonders zur katholischen Ehelehre, die die Ehe als Sakrament definiert und damit für unauflösbar hält.[16]
Während jenes rationale, auf der Vertragstheorie basierende Leitbild aus Richtung der Aufklärer kam, entwarfen die Romantiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts ebenfalls ein völlig neuartiges Familienleitbild, das sich daraufhin weitgehend im bürgerlichen Familienleben etablierte. Nach ihren Vorstellungen sollten Ehe und Familie ausschließlich auf Liebe gründen, sodass jede rechtliche oder religiöse Grundlage für eine Heirat oder für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern beanstandet wurde. Es kann somit von einer Privatisierung und Emotionalisierung der bürgerlichen Familie gesprochen werden.[17] Daraus resultierend ergab sich sowohl eine Individualisierung als auch eine soziale Isolierung insbesondere des Bürgertums.[18] „Der enge Familienkreis wurde infolgedessen zu dem sozialen Ort für das Bürgertum“[19], ergänzt Rosenbaum. Doch nicht nur neue geistige Haltungen, sondern auch die zunehmende Industrialisierung brachte, entsprechend den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen, neue Moralvorstellungen und Familienverhältnisse mit sich.[20]
Mit der neuen Ehe- und Liebesauffassung ging auch ein Umdenken bezüglich der Kindererziehung einher: Statt die eigenen Nachkommen, wie es im Bürgertum und im Adel üblich war, weiterhin Ammen, Kindermädchen oder dem Hauspersonal zu überlassen, wurde nun verlangt, die Eltern sollten selbst die Erziehung ihrer Kinder übernehmen.[21]
Besonders interessant ist die Tatsache, dass sich das neue Ehe- und Familienmodell des Bürgertums explizit gegen den Lebensstil und das Familienbild des Adels richtete.[22] Dem höfisch-adeligen Lebensideal, das teilweise bereits auf das Bürgertum abgefärbt hatte, wurde bewusst ein neues, bürgerliches entgegengesetzt: „Gegen die Oberflächlichkeit des Adels, seine Fixierung auf äußere und starre Formen, Konventionen und Zeremoniell, entwickelte das Bürgertum den Kult der ‚inneren Werte’“[23], zeigt Rosenbaum die hinter dieser Entwicklung stehende Intention auf.
2.3 Die patriarchalische Familienstruktur
Kennzeichnend für die Familienform des ganzen Hauses war die patriarchalische Herrschaftsstruktur, die dem Regiment des Hausvaters unterlag. Sørensen nimmt sogar an: „Jenseits aller Haushaltsgrößen und Familientypen scheint sich als eine Konstante der europäischen Familien bis in die jüngste Vergangenheit der Patriarchalismus herauszuheben.“[24] Diese familiale Herrschaftsform beschreibt er zunächst als „geschlossenes und einheitliches System jenseits individueller Neigungen und epochaler Unterschiede“[25], und negiert diese weit verbreitete Annahme daraufhin:
[...]
[1] Vogel, Anke: Unordentliche Familien. Über einige Dramen Kleists. Hrsg. von Anke Tanzer
und Günther Emig. Berliner Diss. Heilbronn: o. V. 1996. S. 21.
[2] Siehe z.B. Rieger, Bernhard: Geschlechterrollen und Familienstrukturen in den Erzählungen
Heinrich von Kleists. Frankfurt am Main: Peter Lang 1985 (= Europäische Hochschul-
schriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 839).
Oder: Kircher, Hartmut: Heinrich von Kleist. Das Erdbeben von Chili, Die Marquise von O…:
Interpretation. München: Oldenbourg 1992 (= Oldenbourg-Interpretationen; Bd. 50).
[3] Kleist, Heinrich von: Die Marquise von O… Husum/Nordsee: Hamburger Lesehefte Verlag
2007. S. 3. Anm.: Im Folgenden wird nach der genannten Ausgabe zitiert, wobei die Seiten-
zahlen in Klammern im Fließtext angegeben werden.
[4] Vgl. Kircher, Hartmut: Heinrich von Kleist. Das Erdbeben von Chili, Die Marquise von O…:
Interpretation. München: Oldenbourg 1992 (= Oldenbourg-Interpretationen; Bd. 50). S. 90.
[5] Vgl. ebd. S. 92.
[6] Trotz des Handlungsortes Italien kann davon ausgegangen werden, dass Kleist seine No-
velle auf die ihm bekannten Gesellschaftsstrukturen in Deutschland aufgebaut hat, sofern
sich das dargestellte Familienbild überhaupt an der Realität orientiert, was noch zu überprüfen
ist. Zumal sich die Entstehung der bürgerlichen Familie relativ deckungsgleich in den euro-
päischen Ländern vollzog: „Die bürgerliche Familie entwickelte sich ebenfalls in anderen
Ländern mit vergleichbarer Gesellschaftsstruktur, so auch in England und Frankreich. Prinzi-
piell handelt es sich bei der Konstituierung des Bürgertums und der Entstehung des Leitbilds
der bürgerlichen Familie hier wie dort um identische Vorgänge.“ (Rosenbaum, Heidi: Formen
der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur
und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1982 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; Bd. 374) S. 254.)
[7] Vgl. Gestrich, Andreas: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert. München:
Oldenbourg 1999 (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 50). S. 4.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Glück-Christmann, Charlotte: Familienstruktur und Industrialisierung. Der Wandlungspro-
zess der Familie unter dem Einfluss der Industrialisierung und anderer Modernisierungsfakto-
ren in der Saarregion 1800 bis 1914. Saarbrücker Diss. Frankfurt am Main: Peter Lang 1993
(= Europäische Hochschulschriften: Reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd.
564). S. 17f.
[10] Vgl. Gestrich, A.: Geschichte der Familie. S. 4.
[11] Vgl. Glück-Christmann, Ch.: Familienstruktur und Industrialisierung. S. 19.
[12] Vogel, A.: Unordentliche Familien. S. 16.
[13] Vgl. Gestrich, A.: Geschichte der Familie. S. 5.
[14] Vgl. Vogel, A.: Unordentliche Familien. S. 17.
[15] Vgl. Gestrich, A.: Geschichte der Familie. S. 5.
[16] Ebd.
[17] Vgl. ebd.
[18] Vgl. Rosenbaum, H.: Formen der Familie. S. 274.
[19] Ebd. S. 275.
[20] Vgl. Nitsche, Rainer: Liebesverhältnisse. Untersuchungen zur literarischen Präsentation
von Sexualität, Frau, Familie und Gesellschaft in Deutschland im 19. Jahrhundert. Diss.
masch. Berlin 1972.
[21] Vgl. Rosenbaum, H.: Formen der Familie. S. 267.
[22] Vgl. ebd. S. 283.
[23] Ebd. S. 259.
[24] Sørensen, Bengt Algot: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im
18. Jahrhundert. München: Beck 1984. S. 12.
[25] Ebd.