Business Rules - Geschäftsregeln. Konzepte, Modellierungsansätze, Softwaresysteme


Diplomarbeit, 2013

126 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Problemstellung, Ziele und Methoden

2. Grundlagen und Begriffsdefinitionen
2.1 Modellierung und Notation
2.2 Geschäftsprozess und Workflow
2.3 Web Services und Serviceorientierte Architekturen
2.4 IT-Compliance und IT-Governance

3. Literatur
3.1 Literatursuche
3.1.1 Suche in Online-Katalogen
3.1.2 Suche in ausgewählten Publikationen
3.2 Monografien
3.3 Beiträge in Fachzeitschriften und Tagungsbänden
3.3.1 Selektion
3.3.2 Auswertung
3.3.2.1 Erscheinungsjahr
3.3.2.2 Inhalte
3.3.2.3 Methoden
3.3.2.4 Forschungszweck

4. Business Rules-Konzepte
4.1 Die Bedeutung von Regeln und deren Automatisierung
4.2 Regelbasierte Ansätze in der Wirtschaftsinformatik
4.2.1 Ausgangslage
4.2.2 Expertensysteme
4.2.3 Datenbankorientierte Ansätze
4.2.4 Objektorientierte Modellierung
4.3 Der Business Rules-Ansatz
4.3.1 Der Begriff der Geschäftsregel
4.3.2 Die Entstehung und Bedeutung des Business Rules-Ansatzes
4.3.3 Anforderungen an Geschäftsregeln
4.3.3.1 Allgemeines
4.3.3.2 Anforderungen an einzelne Geschäftsregeln
4.3.3.3 Anforderungen an Geschäftsregelmengen
4.3.3.4 Anforderungen an den Umgang mit Geschäftsregeln
4.3.4 Die Identifikation von Geschäftsregeln
4.4 Geschäftsregeln in angrenzenden Forschungsgebieten
4.4.1 IT-Compliance
4.4.2 Semantic Web
4.5 Methodenspektrum der analysierten Artikel

5. Die Klassifikation von Geschäftsregeln
5.1 Motive und Anforderungen
5.2 Implementierungsnahe Klassifikationsschemata
5.2.1 Das periodische System der Geschäftsregeln nach Ross
5.2.2 Das ECA-Klassifikationsschema nach Herbst/Knolmayer
5.2.3 Regelkategorien nach Odell
5.3 Klassifikationsschemata nach dem Regelinhalt
5.3.1 Die Klassifikationen nach von Halle und der BRG
5.3.2 Klassifikationen nach dem Meta-Modell der SBVR
5.4 Methodenspektrum der analysierten Artikel

6. Die Modellierung von Geschäftsregeln
6.1 Klassifikationen von Modellierungsmethoden
6.2 Unabhängige Ansätze der Geschäftsregelmodellierung
6.2.1 Grafische Modellierungsmethoden
6.2.2 Sprachlich-semantische Modellierungsmethoden
6.2.2.1 Die ECAA-Notation
6.2.2.2 Regelschablonen nach von Halle
6.2.2.3 SBVR Structured English (SBVR-SE)
6.2.3 Tabellarische Modellierungsmethoden
6.3 Integrierte Ansätze der Geschäftsregelmodellierung
6.3.1 Geschäftsregeln in UML
6.3.1.1 Allgemeines
6.3.1.2 OCL
6.3.1.3 Stereotype und Tagged Values
6.3.2 Geschäftsregeln in Methoden der Geschäftsprozessmodellierung
6.4 Methodenspektrum der analysierten Artikel

7. Die Implementierung von Geschäftsregeln
7.1 Klassifikationen von Softwarekomponenten und -systemen
7.2 Rule Execution Technologie
7.2.1 Regelausführung auf der Präsentationsebene
7.2.2 Regelausführung auf der Applikationsebene
7.2.2.1 Die Funktionsweise von Rule Engines
7.2.2.2 Integrationsformen von Rule Engines
7.2.3 Regelausführung auf der Steuerungsebene
7.2.4 Regelausführung auf der Datenhaltungsebene
7.3 Rule Management Technologie
7.3.1 Begriffsdefinition und Systembestandteile
7.3.2 Aufgaben
7.4 Methodenspektrum der analysierten Artikel

8. Der Business Rules-Ansatz – ein neues Paradigma?

Literaturverzeichnis

Anhang – Übersicht über die ausgewerteten Artikel

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Anzahl Artikel pro Erscheinungsjahr

Abb. 2: Anzahl Artikel pro Themenschwerpunkt

Abb. 3: Anzahl Artikel pro Forschungsmethode

Abb. 4: Anzahl Artikel pro Forschungszweck

Abb. 5: Regelkategorien nach ODELL

Abb. 6: Klassifikation von Geschäftsregeln nach VON HALLE

Abb. 7: Klassifikation von Geschäftsregeln nach der BRG

Abb. 8: Formalisierungsgrade von Aussagen in Anlehnung an VON HALLE

Abb. 9: Erläutertes Modell einer Geschäftsregel in Anlehnung an ROSS

Abb. 10: ECAA-Notation mit Beispiel in Anlehnung an ENDL

Abb. 11: Modellierung des Kontrollflusses mit der ECAA-Notation

Abb. 12: Bedingungstabelle nach SCHACHER/GRÄSSLE

Abb. 13: Geschachtelte Bedingungstabelle nach SCHACHER/GRÄSSLE

Abb. 14: Entscheidungsbaum

Abb. 15: EPE-Prozess mit Informationsobjekten in Anlehnung an ENDL

Abb. 16: Ausschnitt eines regelbasierten UML-Prozess-Diagramms nach ENDL

Abb. 17: Geschäftsregeln in EPK und Petrinetzen nach ENDL und HERBST

Abb. 18: Bestandteile eines BRMS in Anlehnung an BOYER/MILI

Abb. 19: Softwarearchitekturmodell in Anlehnung an STROHMEIER

Abb. 20: Rule Engine in Anlehnung an MORGAN

Abb. 21: Schichtenarchitektur in Anlehnung an SCHACHER/GRÄSSLE und DATE

Tabellenverzeichnis

Tab.1: Periodika mit Beiträgen zum Thema Geschäftsregeln

Tab. 2: Aspekte des Business Rules-Ansatzes

Tab. 3: Übersicht über die Monografien

Tab. 4: Forschungsmethoden in Anlehnung an WILDE/HESS und FETTKE

Tab. 5: Business Rules - Begriffsdefinitionen

Tab. 6: Unterschiede BRMS und Expertensysteme

Tab. 7: Anforderungen an einzelne Geschäftsregeln

Tab. 8: Anforderungen an Regelmengen

Tab. 9: Anforderungen an den Umgang mit Geschäftsregeln

Tab. 10: Eignung von Methoden zur Regelidentifikation

Tab. 11: Anforderungen an Klassifikationsschemata von Geschäftsregeln

Tab. 12: Regelfamilien nach ROSS

Tab. 13: Klassifizierung von Ereignistypen nach Herbst/Knolmayer

Tab. 14: Die Verzahnung elementarer Aktions- und Ereignistypen.

Tab. 15: Regelschablonen nach VON HALLE

Tab. 16: Bausteintypen zur Notation in SBVR-SE

Tab. 17: Logische Operatoren in SBVR-SE

Tab. 18: Modale Operatoren in SBVR-SE

Tab. 19: Regelklassen in den Szenarien des Prozess-Regel-Kontinuums nach KÖHLER

Tab. 20: Aufgaben des Geschäftsregelmanagements nach BAJEC/KRISPER und ENDL

1 Problemstellung, Ziele und Methoden

Der Begriff des Wirtschaftens wird in den Wirtschaftswissenschaften als planvolle Verfügung über knappe Mittel zur Bedürfnisbefriedigung definiert[1], impliziert also die Konformität des wirtschaftlichen Handelns mit bestimmten Regeln. Im unternehmerischen Kontext reicht das Spektrum dieser Regeln von gesetzlichen Vorgaben über branchenspezifische Sachzwänge bis hin zu unternehmenseigenen Arbeitsanweisungen, ist also sowohl der Herkunft als auch der zugrundeliegenden Motivation und dem Grad der Verbindlichkeit nach überaus breit angelegt. Die Bereitstellung geeigneter Informations- und Kommunikationstechnologie zur Unterstützung der Unternehmen bei der Einhaltung dieser Regeln kann dabei als zentrales Anliegen der Wirtschaftsinformatik aufgefasst werden.

Deren Fokus lag zu Beginn der digitalen Revolution in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren noch auf der Optimierung und Rationalisierung der internen Geschäftsausführung durch möglichst weitreichende Automatisierung der Geschäftsprozesse, während den Aspekten der Flexibilität und Portabilität von Informationssystemen zunächst nur wenig Beachtung zukam[2]. Der seitdem stetig zunehmende Einfluss einiger externer Rahmenbedingungen hatte jedoch zur Folge, dass den Unternehmen in immer kürzeren Abständen immer größere Anpassungsleistungen abverlangt wurden, um am Markt bestehen zu können: Die aufgrund des rapiden technologischen Fortschritts gestiegene Produktkomplexität, die zunehmende Produktdifferenzierung bei gleichzeitig abnehmenden Produktlebenszyklen, als Folge einer zunehmenden Marktdominanz der Nachfrageseite und eines gewachsenen Einflusses des Kunden auf die Produktgestaltung, und nicht zuletzt die durch Marktsättigung und Globalisierung veränderte Wettbewerbssituation können hier als Treiber des Wandels exemplarisch genannt werden. Vor diesem Hintergrund wird die Flexibilität elektronischer Datenverarbeitung (EDV) in ihrer Bedeutung inzwischen als zu den eingangs genannten Automatisierungsbestrebungen mindestens gleichwertig[3], wenn nicht sogar als entscheidender Wettbewerbsvorteil im Einsatz des kritischen Erfolgsfaktors Informationstechnik (IT) eingeordnet[4].

Der Begriff „Business Rules“ (zu Deutsch: „Geschäftsregeln“) verweist innerhalb der Wirtschaftsinformatik auf einen Ansatz, der eine von den Regeln eines Betriebes ausgehende Modellierung und Implementierung der Informationssysteme postuliert. Die Betrachtung von Geschäftsregeln als eigenständige Erkenntnisobjekte zielt dabei insbesondere darauf ab, diese von den Systemkomponenten der Datenhaltungs- und Anwendungsschicht konzeptionell und technisch zu entkoppeln, und in den Verantwortungsbereich der Fachseite zu übertragen. Zu diesem Zweck wird die Entwicklung einer Notation angestrebt, die sich zwar an der Sprache der fachlichen Wissensträger orientiert, zugleich aber auch den formalen Anforderungen für eine informationstechnische Umsetzung genügt. Die besondere praktische Bedeutung des Business-Rules-Ansatzes beruht folglich auf der Intention, durch Kapselung der vergleichsweise volatilen, fachspezifischen Systembestandteile eines Informationssystems dessen Anpassungsfähigkeit, und damit die Flexibilität der gesamten Organisation zu verbessern.

Obwohl das Thema Geschäftsregeln die Wirtschaftsinformatik, wie eingangs dargelegt, im Kern berührt, finden sich in der wissenschaftlichen Literatur relativ wenige dedizierte Ausarbeitungen. Zudem werden teilweise unterschiedliche Auffassungen darüber vertreten, wie weit der Begriff der Geschäftsregel gefasst werden soll. Werden etwa von einigen Publikationen auch extern vorgegebene, also z. B. naturgesetzliche oder rechtliche Restriktionen einbezogen, beschränken sich andere auf die Menge der Regeln, deren Gestaltung im Einflussbereich der Organisation verbleiben.

In ähnlicher Weise existieren unterschiedliche Ansätze, Geschäftsregeln anhand verschiedener verfügbarer Quellen zu identifizieren, nach bestimmten Kriterien zu klassifizieren, durch Notationen und Modelle darzustellen, in bestehende oder neu zu entwickelnde Informationssystem-Architekturen konzeptionell und technisch zu integrieren sowie fortlaufend zu evaluieren und verwalten.

Die Motivation dieser Arbeit besteht vor diesem Hintergrund darin, in der wissenschaftlichen Literatur zur Wirtschaftsinformatik sowohl im deutsch-, als auch im englischsprachigen Raum vorzufindende Konzepte, Modellierungs- und Implementierungsansätze von Geschäftsregeln zusammenzutragen, die selektierten Beiträge nach inhaltlichen, methodischen und historischen Gesichtspunkten zu systematisieren, und zueinander in Beziehung zu setzen. Anhand der Gesamtbetrachtung der Ergebnisse sollen schließlich etwaige Defizite des erreichten Forschungsstandes und daraus resultierende Forschungsschwerpunkte der Zukunft identifiziert werden können.

Methodisch wird die Erreichung der skizzierten Ziele mit Hilfe einer vergleichenden Literaturanalyse verfolgt, deren Ergebnis in der Wirtschaftsinformatik verschiedentlich als „Review“ bezeichnet wird. Nach Fettke [5] basiert ein Review auf einer Menge von Primäruntersuchungen zu einer Forschungsfrage, ohne selbst neue primäre Ergebnisse zu dieser Forschungsfrage zu präsentieren. Es zielt insbesondere darauf ab, die Ergebnisse der ausgewählten Beiträge zu beschreiben, zusammenzufassen und zu bewerten. Auf Basis der Gesamtheit aller gesammelten und systematisierten Beiträge werden schließlich die angestrebten Schlussfolgerungen über den „State-of-the-Art“, den derzeitigen Forschungsstand zum Business-Rules-Ansatz zu ziehen sein.

In Kapitel 2 werden zunächst einige für das Verständnis dieser Arbeit wesentliche Begriffe eingeführt, ohne jedoch bereits auf den Geschäftsregelbegriff selbst einzugehen, dessen Klärung – als eines der zentralen Hauptanliegen dieser Arbeit – mit Kapitel 4 bereits dem einleitenden Kapitel des Hauptteils vorbehalten bleibt. Zuvor erfolgen in Kapitel 3 eine ausführliche Beschreibung der bei der Literatursuche, -selektion und -auswertung zugrunde gelegten Vorgehensweisen und Bewertungsmaßstäbe, sowie eine Kategorisierung der selektierten Quellen nach diesen Maßstäben.

Der sich daran anschließende Hauptteil der Arbeit fasst die Ergebnisse der Literaturrecherche nach bestimmten Aspekten zusammen: Kapitel 4 setzt sich nicht nur mit den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der in der Literatur vertretenen Begriffsverständnisse des Geschäftsregelbegriffes auseinander, sondern auch mit der damit eng verbundenen Frage nach der Art und Weise, in der Geschäftsregeln als solche identifiziert werden.

Unter dem Aspekt der Klassifizierung von Geschäftsregeln wird in Kapitel 5 dargestellt, nach welchen Kriterien die Menge aller Geschäftsregeln in der Literatur unterschieden wird, wobei auch die im vorangegangenen Kapitel identifizierten konzeptionellen Unterschiede mit in die Betrachtung einfließen. Mit Kapitel 6 folgt eine vergleichende Analyse der in der Literatur diskutierten Möglichkeiten der Notation und Modellierung. Die technische Umsetzung von Geschäftsregeln in Softwaresystemen ist schließlich Gegenstand des Kapitels 7, in dem neben den in der Literatur betrachteten Konzepten zur Implementierung von Geschäftsregeln und Einbindung in bestehende oder neu zu konzipierende Softwarearchitekturen abschließend auch die Möglichkeiten ihrer Verwaltung im laufenden Betrieb diskutiert werden.

Innerhalb der betrachteten Aspekte wird nicht nur eine Systematisierung nach inhaltlichen Aspekten vorgenommen, sondern auch nach methodischen, d. h. nach der Wahl der zugrundeliegenden Erkenntnisinstrumente. Historischen Entwicklungsverläufen wird dahingehend Rechnung getragen, dass bei der Darstellung der jeweiligen Aspekte auf die chronologische Reihenfolge der zugrunde liegenden Beiträge explizit Bezug genommen wird.

Auf Grundlage der systematisierten Beiträge wird in Kapitel 8 ein abschließendes Urteil darüber zu fällen sein, welcher Forschungsstand zu den einzelnen Aspekten des Business-Rules-Ansatzes erreicht wurde, und welche Implikationen sich daraus für künftige Forschungsbestrebungen ergeben.

2 Grundlagen und Begriffsdefinitionen

2.1 Modellierung und Notation

Der Modellbegriff ist grundsätzlich sehr weit gefasst, und schließt sowohl ikonische oder materiale Modelle, als auch sprachlich-semantische Modelle ein[6]. Ganz allgemein kann ein Modell als zweckorientiertes, verkürztes Abbild der Wirklichkeit verstanden werden[7]. Durch die Verkürzung werden nur solche Attribute des repräsen­tierten Originals dargestellt, die den jeweiligen Modellerschaffern oder ‑benutzern relevant erscheinen, d. h. es findet eine zweckentsprechende Einschränkung des Modellumfanges auf bestimmte Teilaspekte des abgebildeten Ursystems statt, im Kontext der Wirtschaftsinformatik etwa auf Daten, Funktionen oder Geschäftsprozesse.

Der Begriff der Modellierung bezeichnet die Erstellung eines Modells[8], die in der Wirtschaftsinformatik zumeist mithilfe der formalen oder semiformalen Notation einer bestimmten Modellierungssprache erfolgt. Eine Notation dient somit der Darstellung der zu modellierenden Objekte, Beziehungen und Abläufe mit Hilfe einer gegebenen Menge symbolischer Zeichen nach standardisierten Regeln. Der Beschreibungsrahmen einer Modellierung lässt sich wiederum durch ein sog. Meta-Modell darstellen, das die verfügbaren Arten von Modellbausteinen und deren Beziehungen zueinander spezifiziert[9].

Der Begriff „Model Driven Architecture“ (MDA) bezeichnet schließlich einen Ansatz zur Entwicklung von Software, bei dem aus einem Modell heraus Quellcode generiert, die entworfenen, theoretischen Strukturen also automatisiert in ein reales, funktionsfähiges System überführt werden können. Diese Transformation vollzieht sich dabei in mehreren Schritten: Von einem fachlichen Unternehmensmodell („Computation Independent Model“, CIM) in ein plattformunabhängiges („Platform Independent Model“, PIM), und von diesem wiederum in die Zielsprache ein plattformspezifischen Modells („Platform Specific Model“, PSM)[10].

2.2 Geschäftsprozess und Workflow

Unter einem Geschäftsprozess wird im Allgemeinen eine inhaltlich abgeschlossene, zeitlich-sachlogische Abfolge von Aktivitäten verstanden, die zur Bearbeitung eines für die Leistungserbringung des Unternehmens relevanten Objekts, etwa eines Kundenauftrages, erforderlich sind. Ein Geschäftsprozess stellt damit die Abstraktion eines Arbeitsablaufes der organisationalen Ablauforganisation, eine Aktivität einen elementaren Arbeitsschritt in diesem Ablauf dar[11].

Unter Zugrundelegung des Modellbegriffes können Geschäftsprozessmodelle als zweckorientierte, verkürzte Abbildungen von Geschäftsprozessen definiert werden, wobei sich die Verkürzung – der jeweiligen Zielsetzung oder Perspektive entsprechend - sowohl auf Teilprozesse des Geschäftsprozesses, als auch auf ergänzende Merkmale beziehen kann[12]. Die Darstellung der zeitlich-logischen Abhängigkeiten zwischen den einzelnen Aktivitäten, Ereignissen und Zustandsveränderungen von Objekten wird nachfolgend als Kontrollfluss bezeichnet.

Neben der einen Geschäftsprozess konstituierenden Abfolge von Aktivitäten kommen als ergänzende Attribute insbesondere In- und Outputs von Daten bzw. Informationen sowie die an der Aufgabenerledigung beteiligten Organisationseinheiten und konkreten menschlichen oder maschinellen Ressourcen in Betracht[13]. Die Erhebung, Gestaltung, Dokumentation und Umsetzung von Geschäftsprozessen erfolgt im Rahmen des Geschäftsprozessmanagements[14].

Der Begriff Workflow bezeichnet die Implementierung eines Geschäftsprozesses oder Teilen davon mit Hilfe der Informationstechnologie, Workflow-Management die dazugehörige Implementierungstechnik. Hierbei werden die zu implementierenden Workflows mit Hilfe einer zumeist grafischen Spezifikation modelliert. Da das Resultat dieser Modellierung bereits ein ausführbarer Workflow ist, sind die Anforderungen an deren Präzision, Vollständigkeit, Eindeutigkeit und Konsistenz wesentlich höher, als dies im Rahmen der Geschäftsprozessmodellierung der Fall ist[15].

Workflow-Management-Systeme (WfMS) stellen letztlich Informationssysteme dar, die zur Steuerung, Koordination, Abwicklung und Kontrolle von Geschäftsprozessen eingesetzt werden, indem sie die Zusammenarbeit der beteiligten Akteure nach festgelegten Regeln und Methoden unterstützen[16].

2.3 Web Services und Serviceorientierte Architekturen

Unter Webservices sind autonome, gekapselte Softwareanwendungen zu verstehen, die eine genau definierte Funktion erfüllen, und über ein Netzwerk als Teil eines Geschäftsprozesses in dessen Ausführung integriert werden können[17]. Sie basieren damit auf dem Konzept der komponentenbasierten Softwareerstellung, das, wie das Paradigma der Objektorientierung, die Verbesserung der Veränderbarkeit und Wiederverwendbarkeit durch Modularisierung postuliert. Als Komponenten verfügen Webservices - wie Objektklassen – über Attribute, Funktionen und Schnittstellen zum wechselseitigen Austausch von Informationen, repräsentieren aber einen größeren Bestandteil des gesamten Anwendungssystems[18]. Der Vorgang der aktiven Komposition eines Geschäftsprozesses aus Diensten wird als „Orchestrierung“ bezeichnet[19]. Die am weitesten verbreitete Prozessspezifikationssprache zur Orchestrierung ist die Business Process Execution Language (BPEL).

Serviceorientierte Architekturen (SOA) bezeichnen eine Systemarchitektur, die eine plattform- und sprachenneutrale Nutzung und Wiederverwendung verteilter, heterogener Dienste ermöglicht, die von unterschiedlichen Besitzern zur Verfügung gestellt werden. Die technische und funktionale Unabhängigkeit der Dienste voneinander wird als „lose Kopplung“ bezeichnet. Die Spezifikation der Schnittstellen und Funktionen eines Dienstes wird durch den Serviceanbieter beschrieben („Service Description“) und in einem Serviceverzeichnis abgelegt, das von den potentiellen Servicenutzern aufgerufen und durchsucht werden kann[20]. Die Kommunikation zwischen Anbietern, Nutzern und Serviceverzeichnis erfolgt über Nachrichten einer formal definierten Sprache[21] und wird durch den sog. Enterprise Service Bus (ESB) als zentraler Infrastrukturkomponente gesteuert[22].

Webservices stellen letztlich ein konkrete Implementationsform von SOA dar, indem sie die Standards und Technologien des Internets zur Verfügung stellen: Zum Datenaustausch zwischen Applikationen in Netzwerken kommt etwa das Simple Object Access Protocol (SOAP), zur Beschreibung der Web Services die Web Services Description Language (WSDL), und als Serviceverzeichnis der Universal Description, Discovery and Integration (UDDI)-Standard zum Einsatz[23].

Der Begriff des Webservice wird zuweilen mit dem des (Software-)Agenten gleichgesetzt[24]. Graham verweist jedoch auf die uneinheitliche Verwendung des Agentenbegriffs. Er charakterisiert sie als verteilte Einheiten, die sich durch autonomes Verhalten sowie die Fähigkeit auszeichnen, mit anderen Agenten durch den Austausch von Nachrichten zu verhandeln. Darüber hinaus unterscheidet er zwischen einfachen, reaktiven Agenten und „intelligenten“, die u. a. über eine Wissensbasis, die Fähigkeit, Schlussfolgerungen zu ziehen und neues Wissen zu generieren sowie übergeordnete Ziele verfügen, die sie eigenständig verfolgen[25]. Letztlich kann aber jeder Software-Agent auch als Anbieter und Konsument von Diensten verstanden werden[26].

2.4 IT-Compliance und IT-Governance

Unter den Stichwörtern IT-Compliance und IT-Governance wird in der wissenschaftlichen Literatur zur Wirtschaftsinformatik vor allem seit Mitte der vergangenen Dekade ein Forschungsgegenstand intensiv untersucht, der sich, wie der Business Rules–Ansatz, mit der Einhaltung von Regeln in unternehmerischem Kontext auseinandersetzt. Im Jahr 2007 wurde folgende Definition des Compliance-Begriffes in den Deutschen Corporate Governance Codex aufgenommen, einem Leitfaden der Bundesregierung, der insbesondere Empfehlungen für ethische Verhaltensweisen börsennotierter Gesellschaften zum Schutz bestimmter Stakeholdergruppen definiert: „Der Vorstand hat für die Einhaltung der gesetzlichen Bestimmungen und der unternehmensinternen Richtlinien zu sorgen und wirkt auf deren Beachtung durch die Konzernunternehmen hin[27]. Unter Compliance ist mit anderen Worten „die Einhaltung sämtlicher für das jeweilige Unternehmen relevanten gesetzlichen Pflichten, Vorschriften und Richtlinien[28] zu verstehen. Demzufolge bezeichnet der Begriff der IT-Compliance einen Zustand, in dem die IT eines Unternehmens diesen Vorgaben entspricht. Unter die einzuhaltenden Anforderungen fallen dabei nicht nur Regelungen mit direktem IT-Bezug wie datenschutzrechtliche Vorschriften oder Protokollierungspflichten, sondern auch alle sonstigen, deren Einhaltung aus bloßen Rationalisierungsgründen automatisiert unterstützt wird, wie etwa im Bereich der Finanzbuchhaltung[29].

Unterschiedliche Auffassungen finden sich hingegen zur Verwendung des Begriffes der Corporate Governance: Während Wecker/Galla diesem neben einer verantwortungsvollen Unternehmenssteuerung durch die Unternehmensleitung auch die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften subsumieren[30], umfasst er bei Müller/Terzidis ausschließlich unternehmensintern gesteckte Vorgaben[31]. Legt man das erstgenannte Begriffsverständnis zugrunde, folgt daraus, dass dieses den Begriff der Compliance mit einschließt. Hierauf aufbauend kann IT-Governance als Summe aller Führungs- und Organisationsmaßnahmen verstanden werden, die sicherstellen sollen, dass die IT eines Unternehmens zur Einhaltung der Organisationsstrategie und Erreichung der Organisationsziele beiträgt[32].

Ein Grund für die zuletzt stark gestiegene Relevanz von IT-Compliance und -Governance ist in den staatlichen Regulierungs- und Sanktionierungsmaßnahmen zu sehen, die den Wirtschaftsskandalen und –krisen der jüngeren Vergangenheit, etwa der sog. Subprime-Krise, geschuldet waren[33].

3 Literatur

3.1 Literatursuche

3.1.1 Suche in Online-Katalogen

Nach hinreichender Eingrenzung des zu analysierenden Erkenntnisgegenstandes wurde mit der Suche nach wissenschaftlichen Beiträge zum Thema in Online-Katalogen begonnen. Den Ausgangspunkt der Recherche bildete der Online-Katalog der Universitätsbibliothek Hagen. Als Suchbegriffe wurden darin nacheinander die Schlagwörter „Geschäftsregel“, „Geschäftslogik“, „regelbasierte Systeme“, „Business Rule“, „Business Rule Engine“, „OMG Semantics of Business Vocabulary and Rules” und „RuleML“ verwendet, und die Treffer einer individuellen Sichtung unterzogen. Voraussetzung für eine Wertung als Treffer war dabei eine explizite Adressierung des Themas „Geschäftsregeln“ als Gegenstand des Erkenntnisinteresses.

Dieselbe Vorgehensweise wurde im Anschluss auf die Datenbanken der DigiBib, einem Angebot des Hochschulbibliothekszentrums des Landes Nordrhein-Westfalen, sowie auf die Online-Recherche-Funktion der Literaturverwaltungssoftware Citavi angewandt. Weitere Suchanfragen wurden mit dem Schlagwort „Business Rule“ an die Suchmaschinen Google Scholar und CiteSeer gerichtet.

Die Recherche ergab, dass das Thema Geschäftsregeln vorwiegend in Beiträgen zu Fachtagungen und wissenschaftlichen Zeitschriften behandelt wird. Durch den Verweis auf Tagungen und Workshops speziell zum Thema Geschäftsregeln ergaben sich Anknüpfungspunkte zu weiteren Recherchen. Dabei wurde u. a. ein Service der Universität Trier genutzt, die eine umfassende Übersicht über Fachtagungen aus dem Bereich Wirtschaftsinformatik und eine entsprechende Suchfunktion zu deren Beiträgen und Autoren zur Verfügung stellt:

http://www.informatik.uni-trier.de/~ley/db/

Eine Vielzahl von Beiträgen konnte direkt über diesen Service sowie über Online-Angebote von Verlagen und Organisationen bezogen werden. Schließlich wurde auch auf das Online-Angebot der sog. Business Rules Group (BRG) zugegriffen, einem US-amerikanischen Expertenkreis aus Beratern der IT-Branche[34], der im Jahr 1997 aus der zur Definition und Kategorisierung von Geschäftsregeln gegründeten Projektgruppe GUIDE hervorgegangen war und den Business Rules-Ansatz sowie die wissenschaftliche Forschung dazu erheblich beeinflusst hat:

http://www.businessrulesgroup.org/home-brg.shtml

Beiträge, die nicht direkt über das Internet bezogen werden konnten, wurden in kopierter Form über die Universitätsbibliothek angefordert. Schließlich wurden auch die Literaturverzeichnisse der gesammelten Publikationen untersucht, und nach den Kriterien der Literaturselektion ggf. weitere Beiträge ausgewählt[35].

Insgesamt konnten durch die Suche in Online-Katalogen und die sich daran anschließenden Recherchen mehrere hundert relevante Beiträge identifiziert werden.

3.1.2 Suche in ausgewählten Publikationen

Neben Online-Suchmaschinen wurden auch gezielt einzelne, namhafte Fachzeitschriften und –tagungen betrachtet, um aus dem Raum, welcher der Behandlung des Themas Geschäftsregeln darin gegeben wurde, Rückschlüsse auf die in der Wirtschaftsinformatik beigemessene Bedeutung ziehen zu können. Finden sich in diesen thematisch breit gefächerten Publikationen keine Beiträge, so ist die Bedeutung des Themas aus wissenschaftlicher Sicht gering einzustufen.

Eine Vorstellung der wichtigsten Zeitschriften der Wirtschaftsinformatik im deutsch- und englischsprachigen Raum, deren Beiträge wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, findet sich bei Heinrich/Heinzl/Roithmayr[36]. Weitere Empfehlungen wurden der Online-Fassung der Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik entnommen[37].

Tabelle 1 enthält eine Übersicht über die Anzahl der wissenschaftlichen Beiträge in den selektierten Periodika mit inhaltlichem Bezug zu Geschäftsregeln, sofern sich diese Themensetzung an Titel und Abstract erkennen ließ:

Tab. 1 : Periodika mit Beiträgen zum Thema Geschäftsregeln

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Außerhalb der betrachteten Jahrgänge wurde im Rahmen anderweitiger Recherchen ein weiterer Beitrag in der Zeitschrift „Wirtschaftsinformatik“ aus dem Jahr1995 identifiziert[40].

Im Bereich der Fachtagungen können als für den europäischen Raum repräsentativ die seit 1993 jährlich abwechselnd stattfindende „Internationale Tagung Wirtschaftsinformatik“ und „Multi-Konferenz Wirtschaftsinformatik“ gelten, bei der in den Anfängen ca. 40 bis 50, in späteren Jahren dann bis zu weit über 100 Beiträge behandelt wurden. Eine Überprüfung der auf der o. g. Homepage der Universität Trier veröffentlichten Tagungsinhalte[41] hat ergeben, dass lediglich jeweils ein einziger Beitrag mit Bezug zum Thema Geschäftsregeln darin enthalten war[42].

Ergänzend sei erwähnt, dass sich seit Ende der 1990er Jahre eigenständige Tagungen und Workshops mit Ausrichtung auf Geschäftsregeln herausgebildet haben, z. B. das seit 2002 unter wechselnder Bezeichnung stattfindende „Rule Symposium[43] “ sowie der einmalige Workshop „Tools and Environments for Business Rules“ im Rahmen der „European Conference on Object-Oriented Programming (ECOOP)“. Dennoch ist mit Blick auf die repräsentativen Fachzeitschriften und Fachtagungen der Wirtschaftsinformatik die Bedeutung des Themas Geschäftsregeln zusammenfassend als gering einzustufen.

3.2 Monografien

Als Literaturquellen der Wirtschaftsinformatik kommen insbesondere Monografien in Betracht. Neben Dissertationen wurden ca. 20 Monografien identifiziert, die in erster Linie eine Umsetzung des Business Rules-Ansatzes oder bestimmter Aspekte davon in der Praxis adressieren. Auch wenn diese Monografien nicht in erster Linie auf wissenschaftliche Belange ausgerichtet sind, haben einige davon das Forschungsfeld erheblich beeinflusst, und werden dementsprechend auch in den gesichteten wissenschaftlichen Beiträgen regelmäßig zitiert. Sofern dies im Einzelfall zutrifft, wurde diese Monografie mit berücksichtigt.

Zur Kategorisierung von Schwerpunkten betrachteter Publikationen werden an dieser Stelle, in Anlehnung an den Aufbau dieser Arbeit, folgende Aspekte des Business Rules-Ansatzes eingeführt:

Tab. 2 : Aspekte des Business Rules-Ansatzes

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Diejenigen Monografien, die den Themenbereich der Projektierung adressieren, bereiten zugleich Informationen zu den übrigen Themenbereichen auf, betten diese jedoch in ein explizites Vorgehensmodell ein. Von Halle schlägt mit ihrer „STEP-Methodologie“ etwa die Einführung eines geschäftsregelbasierten Systems in 15 Schritten vor. Eine Gegenüberstellung der verschiedenen Vorgehensmodelle liegt zwar außerhalb des inhaltlichen Spektrums dieser Arbeit. Soweit bei der Beschreibung der Vorgehensmodelle auch die übrigen Themenbereiche behandelt werden, fließen diese Betrachtungen jedoch in die Arbeit mit ein.

Nachstehende Tabelle enthält eine Übersicht über die für diese Arbeit gesichteten Monografien, deren Autoren, Erscheinungsjahre und inhaltliche Schwerpunkte. Als Schwerpunkt werden Aspekte dann gewertet, wenn ihnen mindestens ein Kapitel der obersten Gliederungsebene gewidmet ist. Auf den Themenbereich „Begriff und Bedeutung“ wird in allen betrachteten Monografien in einem oder zwei einleitenden Kapiteln eingegangen, der Aspekt wird daher nicht mehr explizit aufgeführt.

Tab. 3 : Übersicht über die Monografien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Berücksichtigt man die Implikation der anderen Aspekte durch den Aspekt der Projektierung, ist zusammenfassend festzustellen, dass sich die Mehrzahl der betrachteten Monografien mit Aspekten der Modellierung oder Implementierung von Geschäftsregeln beschäftigt.

3.3 Beiträge in Fachzeitschriften und Tagungsbänden

3.3.1 Selektion

Aufgrund der enormen Zahl relevanter Beiträge in wissenschaftlichen Fachzeitschriften sowie Tagungsbänden zu wissenschaftlichen Fachtagungen war nach bestimmten Selektionskriterien eine Auswahl zu treffen, welche Beiträge in die Auswertungen dieser Arbeit einfließen sollen. Im Rahmen dieser Selektion waren auch vereinzelte Forschungsberichte und Beiträge in Sammelwerken zu berücksichtigen. Aus Gründen der Vereinfachung werden nachfolgend alle genannten Typen wissenschaftlicher Arbeiten gleichermaßen als „Artikel“ bezeichnet.

Im Rahmen der initialen Literatursuche konnten nur sehr wenige Artikel identifiziert werden, die geeignet waren, zur Strukturierung der wissenschaftlichen Literatur zum Forschungsgebiet beizutragen. Andreescu/Uta stellen in einem der wenigen vorliegenden Reviews die Monografien von Morgan und von Halle einem Beitrag von Bajec/Krisper gegenüber[44]. Bei Steinke/Nickolette wird vor allem auf die Arbeiten führender Mitglieder der BRG verwiesen[45].

Zunächst wurde festgelegt, die Menge der eingehender auszuwertenden Artikel auf 50 Exemplare zu beschränken. Die Hälfte der Artikel wurde zu Beginn der schriftlichen Ausarbeitung nach grober Sichtung der Abstracts und Zusammenfassungen selektiert, im weiteren Verlauf teilweise auch wieder verworfen. Die andere Hälfte wurde im Rahmen der weiteren Recherche während der Ausarbeitung sukzessive hinzugefügt. In beiden Phasen erfolgte die Auswahl unter Heranziehung der folgenden Heuristiken:

- Die Summe der ausgewählten Artikel soll eine möglichst große zeitliche Bandbreite abdecken, um ggf. historische Entwicklungen des jeweils dominierenden Erkenntnisgegenstandes und erreichten Forschungsstandes darstellen zu können. Die Einbeziehung besonders früher Artikel erfolgte vor allem zu dem Zweck, die Wurzeln des Business Rules-Ansatzes zu verorten.
- Die Summe der ausgewählten Artikel soll eine möglichst große inhaltliche Bandbreite abdecken. Wurden von denselben Autoren mehrere Beiträge zu demselben Forschungsgegenstand identifiziert, erfolgte zur Vermeidung von Redundanzen eine Selektion des jeweils neueren Beitrags. In Einzelfällen wurden ältere Beiträge ausgewählt, um historische Entwicklungen zu explizieren.
- Die Summe der ausgewählten Artikel soll eine möglichst große methodische Bandbreite abdecken, im Zweifelsfall wurden also einzelne Beiträge bevorzugt, denen eine seltenere Forschungsmethode zugrunde lag.

Aufgrund dieser bewussten Bevorzugung einzelner Beiträge ist eine statistische Extrapolation der inhaltlichen, methodischen und zeitlichen Verteilung aller Beiträge des Forschungsgebietes nur eingeschränkt möglich. Es wurde gleichwohl darauf geachtet, dass die Summe der ausgewählten Artikel diesbezüglich zumindest tendenzielle Aussagen ermöglicht.

Von den letztlich selektierten Artikeln entfallen 28 auf Beiträge in Tagungsbänden, 14 auf Beiträge in Fachzeitschriften, 5 auf Arbeits- und Forschungsberichte (sog. graue Literatur) sowie 3 auf Beiträge in Sammelbänden. Die Beiträge entstammen in etwa im Verhältnis zwei zu eins dem europäischen und dem amerikanischen Raum. Dabei wurden 35 Beiträge in englischer, 5 in deutscher Sprache verfasst. Eine detaillierte Übersicht über die ausgewählten Artikel sowie die Ergebnisse der nachfolgend dargestellten Auswertung befindet sich im Anhang.

3.3.2 Auswertung

3.3.2.1 Erscheinungsjahr

Die Literaturauswertung soll nachfolgend mit einer Gesamtübersicht über die Erscheinungsjahre der betrachteten Artikel begonnen werden. Zugrunde gelegt wurden dabei die Erscheinungsjahre, wie sie auch im Literaturverzeichnis angegeben sind. Inwiefern einzelne Artikel bereits zu früheren Zeitpunkten über anderweitige Medien – z. B. im Internet - erschienen sind, wurde im Einzelfall nicht nachvollzogen.

Im Falle eines online veröffentlichten Forschungsberichtes ließ sich das Erscheinungsdatum – auch unter Hinzuziehung der Homepage des Autors – nicht evaluieren[46].

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 : Anzahl Artikel pro Erscheinungsjahr

Aus der Grafik ist ersichtlich, dass nur ca. ein Viertel der Artikel auf die Zeit vor der Jahrtausendwende entfällt. Mit Blick auf die Herkunft der Autoren ist ferner festzustellen, dass von den bis ins Jahr 2000 erschienenen Artikeln die Autoren nur in zwei Fällen einem universitären Umfeld – in beiden Fällen der Universität Bern - entstammten[47]. Insofern lässt sich, auch mit Blick auf die betrachteten Monografien, darauf schließen, dass der Business Rules-Ansatz ursprünglich eher aus praxisnahen Initiativen erwuchs, denn aus Forschung und Wissenschaft[48]. Die Schwankungen in den späten 2000er Jahren korrespondieren mit den jeweiligen Schwerpunktsetzungen des jährlichen Rule Symposiums, dem insgesamt acht Beiträge entnommen wurden.

3.3.2.2 Inhalte

Um die ausgewählten Artikel in inhaltlicher Hinsicht auswerten zu können, wird auf die bereits in Kapitel 3.2 eingeführte Kategorisierung nach Aspekten des Business Rules-Ansatzes zurückgegriffen. Im Gegensatz zur Kategorisierung der Monografien ist mit Blick auf einzelne Aspekte jedoch Folgendes zu beachten:

- Es wurde festgestellt, dass der Aspekt „Begriff und Bedeutung“ in einigen Beiträgen nur sehr knapp, in anderen als alleiniger Schwerpunkt behandelt wurde. Aus diesem Grunde wird dieser Aspekt - wie alle anderen - nur dann explizit aufgeführt, wenn er als eines der zentralen Erkenntnisinteressen des Beitrags anzusehen ist.
- Wird in einem Beitrag, z. B. einer Fallstudie, auf den Aspekt der Projektierung eingegangen, kann daraus nicht geschlossen werden, dass auch alle anderen Aspekte adressiert werden. Sofern weitere Aspekte adressiert werden, werden diese explizit aufgeführt.

Wie bereits im Bereich der Monografien der Fall, kann ein- und derselbe Artikel mehreren Aspekten zuzuordnen sein. Vor diesem Hintergrund wurden in den 50 gesichteten Artikeln insgesamt 66 Themenschwerpunkte identifiziert, die sich Abbildung 2 entsprechend auf die definierten Aspekte verteilen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 : Anzahl Artikel pro Themenschwerpunkt

Bezieht man die absoluten Zahlen auf die Anzahl der gesichteten Artikel, so ist zusammenfassend festzustellen, dass 36 % der Beiträge Modellierungsaspekte, 30 % Fragen der Implementierung und 26 % die grundsätzliche Bedeutung des Business Rules-Ansatzes adressieren. Stark unterrepräsentiert ist im Gegenzug der Aspekt der Projektierung und der sich daran anschließenden Frage nach der Evaluierung der Technikfolgen: Lediglich bei Royce und Nelson et al. werden Erfahrungen mit der Einführung geschäftsregelbasierter Systeme – in beiden Fällen bei Unternehmen der Versicherungsbranche – präsentiert[49].

3.3.2.3 Methoden

Zur Kategorisierung in methodischer Hinsicht wird auf einen Beitrag von Wilde/Hess Bezug genommen, in dem zwischen 14 Forschungsmethoden der Wirtschaftsinformatik unterschieden, und sechs Kernmethoden identifiziert werden[50]. Forschungsmethoden werden darin definiert als „mitteilbare Systeme von Regeln, die von Akteuren als Handlungspläne zielgerichtet verwendet werden können, intersubjektive Festlegungen zum Verständnis der Regeln und der darin verwendeten Begriffe enthalten, und deren Befolgung oder Nichtbefolgung aufgrund des normativen Charakters der Regeln feststellbar ist[51]. In Anlehnung an den zitierten Beitrag und Erweiterung um die Kategorie des „Reviews“ werden in dieser Arbeit nachfolgende Forschungsmethoden unterschieden:

Tab. 4 : Forschungsmethoden in Anlehnung an WILDE/HESS und FETTKE

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Da nur sehr wenige Artikel die jeweils angewandte Forschungsmethode explizieren, waren entsprechende Zuordnungen vorzunehmen. Sofern eine eindeutige Zuordnung nicht möglich war, wurde der Artikel derjenigen Methode zugeordnet, die letztlich zur Entwicklung der Kernergebnisse geführt hat. Mehrfachzuordnungen waren nicht zugelassen. Im Einzelfall schwer nachzuvollziehen, und daher auch kein Gegenstand der Untersuchung war hingegen die Frage, inwiefern die jeweils angewandten Vorgehensweisen dem Regelsystem der Methode genügen[54].

Als schwierig erwies sich die Unterscheidung zwischen deduktiver Analyse und Prototyping in solchen Fällen, in denen logische Argumentationsfolgen mit Ausführungen zu ihrer praktischen Umsetzung verbunden wurden. Sollte die praktische Umsetzung in diesen Fällen den Beweis der Machbarkeit erbringen, wurde der Beitrag der Kategorie „Prototyping“ zugeordnet, im Falle bloßer Fallbeispiele und Erfahrungsberichte zur Verdeutlichung des theoretischen Teils hingegen der Kategorie der „deduktiven Analyse“.

Eine Übersicht über alle ausgewerteten Artikel und deren Zuordnung zu den definierten methodischen Kategorien ergibt sich aus Abbildung 3.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3 : Anzahl Artikel pro Forschungsmethode

Eine weitere Unterteilung der deduktiven Analysen hat ergeben, dass diese in drei Fällen auf formalen, quantitativen, und in elf Fällen auf semiformalen Methoden beruhte. In allen drei als formal eingestuften Methoden wurden Forschungsgegenstände tabellarisch aufbereitet, und Ergebnisse quantifiziert[55]. Bei den als semiformal eingestuften Beiträgen wurden zumeist Meta-Modelle oder sonstige semiformale Repräsentationsformen des Untersuchungsgegenstandes präsentiert und analysiert[56]. In anderen Beiträgen waren tabellarische Gegenüberstellungen nicht-quantifizierbarer Ergebnisse für die Einstufung des Beitrags ausschlaggebend[57].

Wilde/Hess ordnen die von ihnen identifizierten Forschungsmethoden auf hoch aggregierter Ebene zwei grundlegenden erkenntnistheoretischen Paradigmen zu: Während das konstruktionswissenschaftliche Paradigma auf die Entwicklung nützlicher IT-Lösungen abzielt, fokussiert das verhaltenswissenschaftliche Paradigma die Folgen verfügbarer IT-Lösungen auf Unternehmen und Märkte[58]. Von den vorliegenden Artikeln konnten nur die Querschnittsanalyse von Green/Rosemann sowie eine der beiden Fallstudien dem verhaltenswissenschaftlichen Paradigma zugeordnet werden. In Ersterer wurde eine Gruppe von Studenten u. a. dazu befragt, wie hilfreich sie bestimmte Modellierungswerkzeuge zur Modellierung von Geschäftsregeln empfanden[59]. Nelson et al. befragten schließlich Vertreter fünf ausgewählter Unternehmen der US-amerikanischen Versicherungsbranche mittels Fragebogen zu ihren Erfahrungen mit der Einführung eines Business Rules Management Systems (BRMS)[60]. Alle übrigen Beiträge waren eindeutig dem konstruktionswissenschaftlichen Paradigma zuzuordnen.

3.3.2.4 Forschungszweck

Die gesichteten Artikel können ferner danach unterschieden werden, ob sie vorrangig deskriptiven, explikativen, normativen oder evaluativen Charakter besitzen, welchen Forschungszweck sie also verfolgen. Während deskriptive Beiträge auf die bloße Abbildung realer Phänomene beschränkt sind, befriedigen explikative hierauf aufbauend ein bestimmtes Erkenntnisinteresse über das Zusammenwirken relevanter Einflussgrößen. Dabei werden bestimmte Theorien auf die identifizierten Phänomene angewandt. Sofern mit Hilfe dieser Theorien zugleich Vorhersagen für die Zukunft abgeleitet werden, besitzt der jeweilige Beitrag auch prognostizierenden Charakter. Theoretische Erklärungen bilden ihrerseits die Grundlage normativer Gestaltungsempfehlungen sowie ihrer konkreten Manifestationen in konstruierten Modellen und Implementationen[61]. Diese werden schließlich in Beiträgen von evaluativem Charakter anhand ausgewählter Kriterien bewertet.

Die Sichtung der selektierten Artikel hat hierzu ergeben, dass in nahezu allen Beiträgen mehrere Forschungszwecke explizit oder implizit adressiert werden. Typischerweise werden zunächst ein bestimmtes Problemfeld oder ein bestimmter Status Quo beschrieben, dann die Zusammenhänge des Problemfeldes erklärt, um anschließend verschiedene Ansätze zur Lösung des Problems oder Verbesserung des Status Quo vorzustellen, und diese letztlich zusammenfassend zu bewerten. Da die adressierten Forschungszwecke aufgrund dieser wechselseitigen Verschränkungen mithin nur sehr geringe Trennschärfe besitzen, waren hilfsweise ergänzende Festlegungen zu treffen, die eine Zuordnung ermöglichten:

- Als deskriptiv oder explikativ wurden alle Beiträge eingestuft, in denen die theoretischen Grundlagen des Business Rules-Ansatzes gelegt oder weiterentwickelt werden. Dies gilt auch dann, wenn mit dem Beitrag ein Überblick über mögliche Gestaltungsalternativen geschaffen wird.
- Als normativ oder gestaltungsorientiert wurden alle Beiträge eingestuft, in denen Modellierungs- oder Implementationsansätze vorgeschlagen und an einem konkreten Beispiel präsentiert oder in einem Prototypen umgesetzt wurden. Dies gilt auch dann, wenn der Beitrag vordergründig die Beschreibung des Prototypen oder Erklärung seiner Funktionsweise adressiert.
- Als evaluativ werden nur solche Beiträge gewertet, in denen gegebene Erkenntnisgegenstände, z. B. Methoden, Werkzeuge oder Beiträge anderer Autoren, anhand expliziter Kriterien bewertet oder miteinander verglichen wurden.

Jeder Beitrag wurde einem dieser drei Kategorien zugeordnet. Das Ergebnis dieser Zuordnung ist Tabelle 4 zu entnehmen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 4 : Anzahl Artikel pro Forschungszweck

Trotz der klaren Dominanz gestaltungsorientierter Beiträge spricht die relativ große Menge erklärungsorientierter Arbeiten zunächst für ein hohes Maß an theoretischer Fundierung des Ansatzes. Andererseits wurden nur relativ wenige Artikel identifiziert, in denen eine kritische Auseinandersetzung mit gegebenen Aspekten des Business Rules-Ansatzes adressiert wurde. In drei der fünf Fälle bezog sich die Evaluation auf die Eignung bestimmter Methoden und Werkzeuge zur Geschäftsregelmodellierung[62], in einem weiteren Fall auf die Projektierung geschäftsregelbasierter Systeme[63], und nur in einem einzigen auf Beiträge anderer Autoren in der Literatur[64].

4 Business Rules-Konzepte

4.1 Die Bedeutung von Regeln und deren Automatisierung

Ganz allgemein kann der Begriff der Regel als eine „aus bestimmten Gesetzmäßigkeiten abgeleitete, aus Erfahrungen und Erkenntnissen gewonnene, in Übereinkunft festgelegte, für einen jeweiligen Bereich als verbindlich geltende Richtlinie[65] definiert werden. In diesem Sinne lässt sich unternehmerisches Handeln heute ebenso durch Regeln beschreiben wie zu der Zeit, als deren maschinengesteuerte Unterstützung noch in ferner Zukunft lag:

„Dem Gaugrafen gebührt der zehnte Teil der Ernte“

„Ein Großkunde erhält einen Rabatt in Höhe von zehn Prozent des Kaufpreises“

Organisatorische Regeln bezeichnen in der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie, in welcher Weise Menschen und Maschinen Aufgaben arbeitsteilig zu erfüllen haben, um nach ökonomischen Prinzipien Güter oder Dienstleistungen zu produzieren[66]. Ein früher Ansatz zur Automatisierung dieses spezifischen Regeltyps kann etwa in der praktischen Umsetzung tayloristischer Prinzipien im Rahmen der Fließbandfertigung gesehen werden, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg in der Massenproduktion von Konsumgütern zur Anwendung kam.

Erst mit der Entwicklung prozeduraler Programmiersprachen fanden schließlich computergestützte Informationssysteme auf breiter Ebene Einzug in alle betrieblichen Funktionsbereiche. War der Umfang der automatisierten Aktivitäten bis in die 1970er Jahre noch vorwiegend auf sequentielle Datenverarbeitung isolierter Aufgabenbereiche beschränkt, wurden im Zuge des technologischen Fortschritts und der gestiegenen strategischen Relevanz der EDV zunehmend auch komplexere Funktionen unterstützt. Beispielhaft kann hier der Bereich des Personalwesens genannt werden, in dem Informationstechnik bis in die 1970er Jahre hinein fast ausschließlich auf den Bereich der Personalabrechnung beschränkt war[67], bevor ab den 1980er Jahren sukzessive auch dispositive Aufgaben wie Personalbeschaffung oder Personaleinsatzplanung in Personalinformationssysteme integriert wurden[68].

Neben dieser zunehmenden Informatisierung wirkte sich aber auch die Abkehr von den streng arbeitsteiligen Prinzipien des Taylorismus und Hinwendung zu einer prozessorientierten Ausrichtung der Unternehmensorganisation komplexitätssteigernd auf das Geschäftsprozessmanagement aus[69]. Prozessorientierung zielte auf eine möglichst breite Mitarbeiterqualifikation zur umfassenden Vorgangsbearbeitung und Reduzierung von Schnittstellen, um die Durchlaufzeiten der einzelnen Geschäftsvorfälle verkürzen, und flexibel auf individuelle Kundenbedürfnisse reagieren zu können.

Während die Menge der organisatorischen Regeln durch den Paradigmenwechsel der Prozessorientierung abnahm, wurde den der Leistungserstellung zugrunde liegenden Regeln eine besondere Bedeutung beigemessen: Als kollektives Wissen bilden sie eine schwer imitierbare Ressource, und damit einen Bestandteil der Kernkompetenz des Unternehmens, nicht zuletzt im Umgang mit internen und externen Veränderungen[70]. Die flexible Anpassungsfähigkeit dieser Regeln sowie der Informationssysteme, in denen sie implementiert sind – nachfolgend als IT-Agilität bezeichnet – gewann hierbei zunehmend an Bedeutung.

4.2 Regelbasierte Ansätze in der Wirtschaftsinformatik

4.2.1 Ausgangslage

Noch bis in die 1990er Jahre hinein basierte die überwiegende Mehrzahl der betrieblichen Informationssysteme auf prozeduralen Programmiersprachen wie COBOL, PL/1 oder Visual Basic[71]. Applikationen, die auf prozeduralen Programmiersprachen beruhten, waren vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die darin implementierten Algorithmen in streng sequentieller Form zur Anwendung kamen, dass also ein vorgegebener Plan für die Ausführung existierte[72]. Wird nun aus fachlicher Sicht die Änderung einer Regel erforderlich, verursacht diese Art der Implementierung erheblichen Mehraufwand: Je nach Tragweite einer zu ändernden Regel kann diese inhaltsgleich in verschiedenen Applikationen implementiert, zur Konsistenzwahrung also auch an mehreren Stellen im Quellcode zu modifizieren sein. Auch ergibt sich aus dem Umstand, dass Regeln in prozeduralem Quellcode nicht zwangsläufig als solche zu erkennen, nach Bajec/Krisper[73] vielmehr darin „vergraben“ sind, ein höherer Analyse- und Identifikationsaufwand des Programmierers. Schließlich muss bei der Implementierung der Regel nicht nur das notwendige Know-how zeitaufwändig von den Fachanwendern zu den Programmierern verlagert werden[74]. Auch der Fachanwender muss, um diesen Prozess beratend begleiten zu können, sich mit den spezifischen technischen Eigenheiten der Programmiersprache auseinandersetzen[75].

Vor diesem Hintergrund wurden verschiedene Ansätze mit dem Ziel entwickelt, Regeln außerhalb der Applikationen zu explizieren, um den Aufwand manueller, und damit zwangsläufig auch fehleranfälliger prozeduraler Programmierung zu reduzieren. Diese Ansätze können als Vorläufer des späteren Business Rules-Ansatzes angesehen werden[76].

4.2.2 Expertensysteme

Der älteste dieser Ansätze entstammt mit den sog. Expertensystemen dem Forschungszweig der künstlichen Intelligenz[77]. Ein Expertensystem oder wissensbasiertes System ist dadurch gekennzeichnet, dass es die Problemlösungsfähigkeit von Experten simuliert[78]. Die Wissensbasis besteht dabei aus einer Menge von Fakten und Regeln. Während mit Fakten wahre Aussagen über konkrete Sachverhalte definiert werden („München hat einen Flughafen“), stehen Regeln für allgemeine Implikationen, und weisen die formale Struktur von Konditionalsätzen auf: Auf einen mit dem Schlüsselwort „Wenn“ eingeleiteten Bedingungsteil - alternativ als Prämisse oder Antezedensklausel bezeichnet - folgt auf der „Dann“-Seite die dazugehörige Konsequenz bzw. Konklusion („Wenn zwei Orte A und B einen Flughafen haben, dann sind sie miteinander verbunden“). Wird als Konklusion eine Aktion definiert, handelt es sich um den Spezialfall einer Aktionsregel[79].

Mit Hilfe einer sog. Inferenzmaschine („Inference Engine“) wird schließlich die Anwendbarkeit der Regeln auf die Fakten geprüft, wobei grundsätzlich zwischen der Vorwärts- und der Rückwärts-Inferenz unterschieden wird. Bei der Vorwärts-Inferenz erfolgt eine Prüfung der Fakten gegen die Prämissen der Regeln, und Deduktion der Konsequenzen. Bei der Rückwärts-Inferenz werden sie hingegen mit den Konsequenzen verglichen, und daraus induktiv auf die zugrundeliegenden Prämissen geschlossen[80]. Durch Verkettung von Regeln in die eine oder andere Richtung kann mittels logischer Schlussfolgerungen neues Wissen abgeleitet und für spätere Untersuchungen vorgehalten werden. Ein besonderes Merkmal vieler Expertensysteme stellt dabei deren Fähigkeit dar, durch Anwendung von Wahrscheinlichkeitsrechnungen Entscheidungen auf Basis unsicheren Wissens, sogenannter Heuristiken, herbeizuführen (sog. Fuzzy-Logik)[81].

Neuartig war an Expertensystemen insbesondere, dass sie auf dem deklarativen Programmierparadigma basierten, bei dem nicht die Reihenfolge der einzelnen Arbeitsschritte, also „wie“ etwas zu tun ist, sondern die Arbeit selbst, also „was“ zu tun ist, beschrieben wird. Diese Beschreibung bildete dabei die Quelle für eine automatisierte Generierung ausführbaren, prozeduralen Codes durch entsprechende Compiler[82]. Als bekannteste deklarative – teilweise auch als „regelbasiert“ bezeichnete - Programmiersprache gilt PROLOG, die in den frühen 1970er Jahren in Frankreich entwickelt wurde[83], und vollständig auf dem Prinzip der Rückwärts-Inferenz basierte. Im Jahr 1979 wurde von Charles L. Forgy schließlich der sog. RETE-Algorithmus entwickelt, der die Vorwärts-Inferenz unterstützte, und eine erhebliche Effizienzsteigerung in der Regelausführung ermöglichte, indem er innerhalb eines Regel-Netzwerks unnötige Mehrfachberechnungen derselben Prämissen vermied[84].

Als erstes Expertensystem wird in der Literatur häufig MYCIN angesehen, das 1976 zur Diagnose und Therapie von Infektionskrankheiten entwickelt wurde. Die im Kontext dieser Arbeit relevante technische Trennung zwischen Regeln und Inferenzmechanismus fand jedoch tatsächlich erst 1981, im Rahmen des Nachfolgesystems EMYCIN statt[85]. Bis heute kommen Expertensysteme zumeist in sehr eng begrenzten Spezialgebieten, wie eben in Disziplinen der Medizin zum Einsatz, aber auch in solchen der industriellen Fertigung, etwa im Rahmen des Computer Aided Design[86].

4.2.3 Datenbankorientierte Ansätze

Der Grundstein für einen zweiten, datenbankorientierten Ansatz zur automatisierten Regelunterstützung wurde mit der Entwicklung des relationalen Datenbankmodells nach Ted Codd im Jahre 1970 gelegt[87]. Unter dem Stichwort der Datenintegrität werden darin Bedingungen für die Beziehungen zwischen verschiedenen Datenbankobjekten definiert, die zur Erhaltung eines konsistenten und redundanzfreien Datenbestandes nach jeder Operation bzw. Zustandsänderung auf der Datenbank erfüllt bleiben müssen. In diesem Sinne kann eine Regel als Einschränkung oder Test definiert werden, der zur Aufrechterhaltung der Datenintegrität ausgeführt wird[88], und im Falle eines negativen Ergebnisses zur Ausgabe einer Fehlermeldung führen muss.

Im Jahr 1975 kam es schließlich zur Entwicklung der sog. Drei-Schichten-Architektur durch das American National Standards Institute (ANSI). Bei dieser wurden die logischen Abhängigkeiten zwischen den Datenobjekten in einer eigenständigen, „konzeptionellen“ Schicht dargestellt, unabhängig von der physischen Speicherung der Daten (interne Schicht) und ihrer Verwendung durch einzelne Applikationen (externe Schicht). Auf dieser Grundlage entwickelte sich das theoretische Konzept des Codd’schen Relationenmodells seit den 1980er Jahren zum dominierenden Paradigma der Datenmodellierung in Datenbankmanagementsystemen (DBMS)[89].

Der Umfang der von sog. „passiven“ DBMS unterstützten Regeln war zwar anfangs noch auf einfache Einschränkungen begrenzt, die sich durch Kardinalitäten und die Forderung nach referentieller Integrität ergaben[90]. Mit der späteren Entwicklung aktiver und deduktiver Datenbanken konnten aber auch komplexere Regeln eigenständig ausgeführt, und damit zunehmend Funktionalitäten von den vorgelagerten Applikationen übernommen werden:

Aktive Datenbanken verfügen – ähnlich wie Expertensysteme - über eine separate Regelbasis. Die Regeln sind darin nach dem Grundmuster „Event-Condition-Action (ECA)“[91] beschrieben, und werden durch sog. Trigger ausgelöst: Sobald vor, während oder nach einer Datenbankoperation ein bestimmtes Ereignis auftritt, werden sachliche und zeitliche Bedingungen anhand der Attribute dieses Ereignisses geprüft, und ggf. automatisch bestimmte vordefinierte Aktionsfolgen ausgeführt[92]. Während aktive Datenbanken insbesondere die Sicherstellung regelkonformer Datenbestände fokussieren, können deduktive Datenbanken zusätzlich dazu eingesetzt werden, mit Hilfe sog. deduktiver Regeln nach den Prinzipien der Logik aus gegebenen Datenbeständen neues Wissen zu generieren bzw. implizites Wissen zu explizieren[93].

[...]


[1] Vgl. Korndörfer (2003), S. 4

[2] Vgl. Endl (2004), S. VI

[3] Vgl. Scheer/Werth (2005), S. 1

[4] Vgl. Endl (2004), S. 20

[5] Vgl. Fettke (2006), S. 258.

[6] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (2012)

[7] Vgl. Stachowiak (1973), S. 131

[8] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 312

[9] Mertens/Back (2001), S. 312

[10] Vgl. Linehan (2008), S. 187

[11] Vgl. Endl (2004), S. 14

[12] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 210

[13] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 211

[14] Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (2012)

[15] Mertens/Back (2001), S. 513

[16] Vgl. Hansen (1998), S. 252

[17] Vgl. Mertens et al. (2010), S. 25 und 75

[18] Vgl. Graham (2007), S. 26

[19] Vgl. Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik (2012)

[20] Vgl. Oey et al. (2005), S. 208

[21] Vgl. Graham (2007), S. 20

[22] Vgl. Mertens et al. (2010), S. 25 f.

[23] Vgl. Graham (2007), S. 37

[24] Vgl. Paschke/Kozlenkov (2008), S. 1409

[25] Vgl. Graham (2007), S. 32 f.

[26] Vgl. Graham (2007), S. 36

[27] Deutscher Corporate Governance Codex (2007), S. 6

[28] Wecker / Galla (2009), S. 50

[29] Vgl. Böhm (2009), S. 50

[30] Wecker / Galla (2009), S. 50

[31] Vgl. Müller/Terzidis (2008), S. 341

[32] Vgl. Freidank/Peemöller (2008), S. 247

[33] Vgl. Sackmann (2008), S. 39

[34] U. a. David Hay, Keri Healy, Terry Moriarty, Ronald Ross, Warren Selkow, Barbara von Halle und John Zachman

[35] Vgl. Kap. 3.2

[36] Vgl. Heinrich/Heinzl/Roithmayr (2007), S. 339

[37] Vgl. Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik (2012)

[38] Die Zeitschriften „WIRTSCHAFTSINFORMATIK“ und „HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik“ erscheinen im zweimonatigen Intervall, alle übrigen quartalsweise.

[39] Nelson et al. (2010)

[40] Herbst/Knolmayer (1995)

[41] Die Tagungsbände der Tagung Wirtschaftsinformatik wurden ab 1999, die der Multikonferenz Wirtschafsinformatik ab 2002 überprüft.

[42] Petsch/Pawlaszczyk/Schorcht (2007) und Paschke/Kozlenkov (2008)

[43] Ursprünglich “International Workshop on Rule Markup Languages for Business Rules on the Semantic Web”

[44] Vgl. Andreescu/Uta (2008), S. 23

[45] Vgl. Steinke/Nickolette (2003), S. 53

[46] Vanthienen (o. J.)

[47] Vgl. Herbst/Knolmayer (1995), S. 149 und Knolmayer/Endl/Pfahrer (2000), S. 16

[48] Vgl. auch Spreeuwenberg/Gerrits (2006), S. 152

[49] Vgl. Royce (2007) und Nelson et al. (2010)

[50] Vgl. Wilde/Hess (2007), S. 283

[51] Wilde/Hess (2007), S. 281

[52] Wilde/Hess (2007), S. 282

[53] Vgl. Fettke (2006), S. 258

[54] Vgl. Wilde/Hess (2007), S. 283

[55] Vgl. Vanthienen (o. J.), S. 9-12, zur Mühlen/Kamp/Indulska (2007), S. 130, Lezoche/Missikoff/Tininini (2008)

[56] Vgl. z. B. Odell (1995), S. 54

[57] Vgl. Herbst et al. (1994), S. 43

[58] Vgl. Wilde/Hess (2007), S. 280

[59] Vgl. Green/Rosemann (2002), S. 318

[60] Vgl. Nelson et al. (2010), S. 39 f.

[61] Vgl. Strohmeier (2000), S. 90 f.

[62] Vgl. zur Mühlen/Kamp/Indulska (2007), Green/Rosemann (2002) und Herbst et al. (1994)

[63] Vgl. Nelson et al. (2010)

[64] Vgl. Andreescu/Uta (2008)

[65] Duden (2012)

[66] Vgl. Endl (2004), S. 11

[67] Vgl. DeSanctis (1986), S. 15

[68] Vgl. Hendrickson (2003), S. 382

[69] Vgl. Endl (2004), S. 14

[70] Vgl. Endl (2004), S. 18, von Halle (2001b), S. 5

[71] Vgl. Witt (2011); S. 25

[72] Vgl. Goedertier/Haesen/Vanthienen (2008), S. 195

[73] Vgl. Bajec/Krisper (2005), S. 423

[74] Vgl. Endl (2004), S. 22

[75] Vgl. Witt (2011); S. 25

[76] Vgl. Graham (2007), S. 53

[77] Vgl. Graham (2007), S. 59

[78] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 195

[79] Vgl. Becker (2006), S. 235 - 237

[80] Vgl. Schacher/Grässle (2006), S. 214

[81] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 196, Hruschka (1988), S. 326

[82] Vgl. Date (2000), S. 5

[83] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 383

[84] Vgl. Schacher/Grässle (2006), S. 220

[85] Vgl. Graham (2007), S. 3

[86] Vgl. Mertens/Back (2001), S. 193 f., Graham (2007), S. 60

[87] Vgl. von Halle (2002), S. XXXIV

[88] Vgl. Ross (1994), S. 11

[89] Vgl. Hansen (1998), S. 947

[90] Vgl. Appleton (1986), S. 88

[91] Vgl. Dayal (1988), S. 151 f.

[92] Vgl. Fischer (1995), S. 3

[93] Vgl. Herbst (1997), S. 35

Ende der Leseprobe aus 126 Seiten

Details

Titel
Business Rules - Geschäftsregeln. Konzepte, Modellierungsansätze, Softwaresysteme
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Fakultät für Wirtschaftswissenschaft)
Note
1,3
Autor
Jahr
2013
Seiten
126
Katalognummer
V268083
ISBN (eBook)
9783656581413
ISBN (Buch)
9783656580836
Dateigröße
2936 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
business, rules, geschäftsregeln, konzepte, modellierungsansätze, softwaresysteme
Arbeit zitieren
Andreas Noak (Autor:in), 2013, Business Rules - Geschäftsregeln. Konzepte, Modellierungsansätze, Softwaresysteme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/268083

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