Schulleistungen in heterogenen Gruppen - Eine empirische Studie über Integrationsklassen


Magisterarbeit, 2003

112 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung und Problembegegnung

2 Begriffsklärung
2.1 Nicht behinderte Kinder
2.2 Behinderte Kinder
2.3 Integration
2.4 Sonderpädagogisches Zentrum
2.5 Sonderpädagogischer Förderbedarf
2.6 Integrationsklasse
2.7 Zusammenfassung der Kapitel 1 und 2

3 Forschungsstand

4 Untersuchungsdesign
4.1 Pretest
4.2 Modus der Stichprobengewinnung
4.2.1 Auswahl der Schulklassen
4.2.2 Stichprobe und Population
4.3 Zeitraum der Datenerhebung
4.4 Aufbau des Tests
4.5 Die Test-Items
4.5.1 Soziografische Daten
4.5.2 Items zur Leistungsfeststellung, abhängige Variablen
4.6 Durchführung der Testung
4.7 Auswertung
4.8 Wissenschaftliche Gütekriterien
4.8.1 Objektivität
4.8.2 Reliabilität
4.8.3 Validität

5 Statistische Auswertung
5.1 Beschreibung des Datenmaterials
5.2 Soziogene Daten
5.2.1 Verteilung der Geschlechter
5.2.2 Muttersprache der Probandinnen und Probanden
5.3 Test-Items
5.4 Itemschwierigkeiten
5.5 Dimensionen der Test-Beispiele (Datenreduktion)
5.6 Untersuchung der Arbeitshypothesen
5.6.1 Unterschiede zwischen Regel- und Integrationsklassen
5.6.2 Unterschiede zwischen den Geschlechtern
5.6.3 Unterschiede zwischen den Kindern hinsichtlich der Muttersprache
5.7 Zusammenfassung der Auswertungsergebnisse

6 Resümee und Diskussion der Ergebnisse
6.1 Relevanz der Forschungsfrage
6.2 Ausblick
6.2.1 Die Meinung der Österreichischen Volkspartei
6.2.2 Die Meinung der Freiheitlichen Partei Österreichs
6.2.3 Die Meinung der Grünen
6.2.4 Die Meinung der Sozialdemokratischen Partei Österreichs
6.2.5 Konklusion

Literatur

Anhang

Testbögen

Anhang zu den statistischen Verfahren

Transkription der Interviews mit den Bildungssprechern

der im österreichischen Parlament vertretenen politischen Parteien

„Die Volksschule hat in den ersten vier Schulstufen (Grundschule) eine für alle Schüler gemeinsame Ele­mentarbildung unter Berücksichtigung einer sozialen Integration behinderter Kinder zu vermitteln.“

(Schulorganisationsgesetz, 2. Hauptstück, Teil A, Abschnitt I, § 9 Abs. 2)

1 Einleitung und Problembegegnung

In Österreich haben Kinder mit Behinderungen ein verbrieftes Recht auf schuli­sche Integration. Dieses Recht de facto umzusetzen bedarf es einer bestimmten Anzahl von nicht behinderten Kindern, deren Eltern einer Integration zustimmen. Freiwilligkeit ist von beiden Seiten gefordert und auch sinnvoll.

Im Rahmen meiner 25-jährigen Tätigkeit als Volksschullehrerin in Wien begegnet mir jedoch oft das Problem, dass Eltern nicht behinderter Kinder sich weigern, ihre Söhne und Töchter in Integrationsklassen einschulen zu lassen. Der weit verbreitete Hauptvorwurf lautet, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf würden durch ihr intensives Beanspruchen pädagogischer Obsorge den Lernfort­schritt auch der nicht behinderten Mitschülerinnen und Mitschüler bremsen und damit das Leistungsniveau der gesamten Klasse drücken. Schon Hans Wocken beschrieb in seinem Buch über Hamburger Integrationsklassen das Phänomen der von den Erziehungsberechtigten befürchteten schulischen Deprivation der nicht behinderten Kinder in Integrationsklassen, welche, evoziert durch den „Bal­last“ der behinderten Kinder, eine generelle Verschlechterung der Leistungen mit sich bringen würde. Das Förderpotenzial der Schule würde von den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf empfindlich herabgesetzt und somit den nicht behinderten Kindern entzogen (Wocken in: Wocken & Antor 1987, S. 280-282). Daraus ergibt sich für viele Volksschuldirektorinnen und –direktoren die prekäre Situation, dass für die gewöhnlichen Regelklassen wesentlich mehr Ein­schreibungen vorliegen als für die parallel dazu geführten Integrationsklassen.

Wenn schon nicht alle darunter leiden, so könnte es doch sein, dass die über­durchschnittlich intelligenten Kinder in Integrationsklassen zu wenig gefordert und gefördert werden. Also unterstellt Wocken in seiner „Nivellierungshypo­these“, dass Hochbegabte in einer so extrem heterogenen Gruppe zu kurz kommen und ihre spezielle Förderung einer imaginären „Gleichmacherei“ zum Opfer fällt. Leh­rerinnen und Lehrer könnten einer so weit gefächerten Heteroge­nität innerhalb der Integrationsklas­sen nicht mehr zufrieden stellend begegnen und würden ihren Unterricht an ei­nem irrealen Durchschnittsbild orientieren, was sowohl leistungs­starken als auch besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern zum Nachteil gerei­chen würde (Wocken in: Wocken & Antor 1987, S. 282).

Andrerseits ortet etwa Gerhard Tuschel, Wiener Landesschulinspektor im Inspektorat für Sonderschulen und Integration, zunehmend auch solche El­tern, die für ihre nicht behinderten Kinder Vorteile in der Integration sehen. Sie interes­sieren sich deswegen für Integrationsklassen, weil sie sich aufgrund gerin­gerer Klassenfrequenz bei gleichzeitig höherem Angebot an pädagogischen Ressour­cen, so­mit einer günstigeren Lehrer-Schüler-Relation, eine Leistungsoptimierung ihrer nicht behinderten Kinder erwarten. Das in österreichischen Integrationsklas­sen obligate Zwei-Lehrer-System würde in Verbindung mit einer geringeren Klas­sen­schülerzahl die Wahrscheinlichkeit häufigerer Schüler-Lehrer-Interaktio­nen mit sich bringen, was sich positiv auf die Schulleistung der Kinder ohne sonder­päda­gogischen Förderbedarf auswirken könnte.

Da der Kritikpunkt in allen Fällen im kognitiven Bereich ansetzt, wird dieser hier anhand der mathematischen Leistungen genauer beleuchtet. Weitere Aspekte eines umfassenden Leistungsbegriffes – etwa das Lesen, die Rechtschreibung, aber auch soziale, kommunikative, emotionale Kompetenzen, das Selbstkonzept, etc. - wurden in früheren Untersuchungen inkludiert, bleiben hier jedoch aus test­ökonomischen Gründen unbeachtet.

Die Konzentration auf den mathematischen Bereich erfolgt aus mehreren Grün­den: Erstens weil die Mathematik den Entwicklungsstand kognitiver Prozesse am reinsten widerspiegelt, zweitens die mathematischen Lernerfolge einer sinnvollen Messung sehr gut zugänglich sind (Ingenkamp 1985, S. 97), weiters davon aus­gegangen werden kann, dass die mathematischen Lernleistungsprodukte zumin­dest im größtenteils nachhilfefreien Volksschulbereich am ehesten und zu einem vergleichsweise hohen Prozentsatz auf schulische und nicht familiäre Förderung zurückzuführen sind und weil außerdem auch untersuchungsökonomische Inte­ressen dafür sprechen.

Es stellen sich nun folgende Fragen: Geht die Integration von Kindern mit son­derpäda­gogischem Förderbedarf auf Kosten der Lernleistung ihrer nicht behin­derten Klassenkolleginnen und Klassenkollegen? Bringen heterogene Lerngrup­pen ei­nen Leistungsnachteil oder werden Kinder ohne sonderpädagogischen För­der­bedarf in einer Integrationsklasse sogar besser gefördert als in einer Regel­klasse? Gibt es im Volksschulbereich einen Unterschied zwischen den mathema­tischen Leistungen von nicht behinderten Kindern in Wiener Regelschulklassen und jenen von ebenso nicht behinderten Kindern in Wiener Integrationsklassen?

Auf diesem Hintergrund ergibt sich die Forschungshypothese, die im Weiteren die vorliegende Arbeit leiten soll:

H0: Es gibt keinen signifikanten Unterschied zwischen den mathematischen Lernleistungsresultaten nicht behinderter Kinder der dritten Schulstufe in Wiener Volksschul-Regelklassen und jenen nicht behinderter Kinder der dritten Schulstufe in Wiener Volksschul-Integrationsklassen.

Als Grundlage für die diese Nullhypothese überprüfende empirische Untersu­chung diente der mathematische Subtest der beiden standardisierten Schulleis­tungstests von Helmut Seyfried, AST 2 und AST 3 (Seyfried 1976, S. 5-7 und Seyfried 1978, S. 2-5), bearbeitet und aktualisiert von der Versuchsleite­rin und Autorin der vorliegenden Diplomarbeit.

Anschließend an diese Einleitung werden Grundbegriffe definiert, welche für das eindeutige Verständnis der übrigen Abschnitte von Bedeutung sind und eventu­elle Missverständnisse vermeiden helfen.

Im dritten Kapitel werden der aktuelle Stand der Forschung und seine historische Entwicklung anhand von Eckdaten empirischer Untersuchungen im europäi­schen, deutschsprachigen Raum dargestellt.

Das vierte Kapitel der vorliegenden Studie beschreibt detailliert das hierfür verwendete Testinstrument, die Methoden, nach denen es entwickelt wurde, erläu­tert die einzelnen Items und die Auswahl der Versuchspersonen, referiert über die praktische Durchführung der Untersuchung und begründet die wichtigsten wissenschaftli­chen Güte­kriterien.

Danach erfolgt eine statistische Auswertung der Datenerhebung in grafischer wie auch beschreibender, analysierender Form. Es wird dafür das Datenanalysesys­tem SPSS für Windows eingesetzt.

Im Resümee werden die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst und noch einmal mit der Forschungsfrage in Verbindung gebracht. Ein Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Integrationsklas­sen in Österreich, basierend auf Interviews mit den Bildungssprechern der vier im Parlament vertretenen politischen Parteien, beendet den Hauptteil dieser Dip­lomarbeit.

Nach dem Literaturverzeichnis hält der Anhang für die interessierte Leserin oder den interessierten Leser zu­sätzliche, ergänzende Erläuterungen zur statistischen Auswertung, die bei­den Testbögen, sowie die Zusammenfassungen der Politiker-Interviews bereit, welche zwar aufschlussreiche Informationen bieten, je­doch im Hauptteil den Lesefluss stören würden.

2 Begriffsklärung

In verschiedenen Werken der Fachliteratur werden Begriffe oft in unterschiedli­chem Sinn gebraucht. Mag es sich auch nur um feine Nuancen der Interpretation handeln, so verlangt doch der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, verwen­dete Termini möglichst präzise und unverwechselbar zu definieren und durchgängig in ausschließlich vorgegebener Bedeutung zu verwenden.

2.1 Nicht behinderte Kinder

Der Begriff „Nicht behinderte Kinder“ steht in der vorliegenden Arbeit für jene Schülerinnen und Schüler, die lediglich nach dem Lehrplan der Volksschule (da es in dieser Arbeit vorrangig um Volksschulkinder geht) unterrichtet werden, also keinen sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Ausschließlich diese Kinder stehen im Zentrum des Forschungsinteresses der hier beschriebenen Untersu­chung. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf durften zwar auch an der Tes­tung teilnehmen, jedoch wurden ihre Testbögen nicht in die statistische Aus­wer­tung einbezogen.

2.2 Behinderte Kinder

Obwohl in einschlägiger Literatur immer noch von „behinderten Kindern“ die Rede ist, besteht in Fachkreisen Konsens darüber, dass die Bezeichnung „behin­dert“ einer entwürdigenden Geringschätzung gleichkommt (die Behinderung bekommt einen allzu hohen Stellenwert, der Wert des Menschen tritt in den Hintergrund), moralisch daher nicht mehr vertretbar ist und somit als Stigmatisierung abgelehnt werden soll. „Was das Ler­nen eines Kindes behindert und eine adäquate Lernhilfe bedingt, ist nur ein spe­zialisierter Aspekt des allgemeinen Lernens und Lehrens. Ein Kind, das als `be­hindert´ bezeichnet wird, ist in erster Linie Kind wie jedes andere auch“ (Speck 1996, S. 56 – 57). Es soll nicht der Aspekt der Behinderung im Vordergrund ste­hen! Man sieht das Kind heute nicht mehr defizitorientiert (Was kann es nicht?), sondern definiert es zuerst einmal als Kind wie jedes andere auch. In Österreich setzt sich stattdessen mehr und mehr der Begriff „Kinder mit sonderpädagogi­schem Förderbedarf“ durch. Obgleich: Eine Änderung in der Terminologie allein löst noch keine Probleme! Es müssen weitere Schritte folgen, vor allem in der Sozialpolitik und in der Pädagogik.

Als „behindert“ gelten in dieser Arbeit alle Kinder, denen aufgrund geistiger und/oder physi­scher und/oder psychischer und/oder sozialer Bedingungen ein erfolgreiches Erfüllen aller Mindestanforderungen des Regelschullehrplanes (hier insbesondere des Volksschullehrplanes) unmöglich gemacht wird. Sie werden teilweise – dort, wo es unbedingt nötig ist – nach dem Lehrplan einer Sonder­schule unterrichtet und benotet, sofern sie in einer Integrationsklasse beschult werden können. Anderenfalls besuchen diese Kinder disziplinspezifische Son­derschulen (siehe Kapitel 2.3 sowie 2.6).

Folgende sechs Einschränkungen können in verschiedenen Graden die betrof­fenen Kin­der beeinträchtigen: Körperliche Behinderung, geistige Behinderung, Sinnesbe­hinderung (Hör- oder Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Blindheit), Sprachbehinderung, Lernbe­hinderung, Ver­haltensauffälligkeit, wobei nicht selten zwei oder mehrere Behinde­rungsarten gleichzeitig auftreten.

Die Frage der Integrationsmöglichkeit hängt entscheidend vom Grad der Beein­träch­tigung ab, da in vielen Regelschulen etwa die architek­tonischen Gegeben­heiten für jene körperbehinderten Schülerinnen und Schüler, die zu ihrer Fortbe­wegung einen Rollstuhl brauchen, nicht geeignet sind, Thera­pieangebote nicht zur Verfü­gung gestellt werden oder aber andere materielle oder personelle Vor­aussetzun­gen nicht oder nicht rechtzeitig geschaf­fen werden können.

2.3 Integration

Aus dem Stowasser:

integrare = wieder herstellen; wieder aufnehmen, von neuem beginnen, erneuern

integratio = Erneuerung

(Der kleine Stowasser 1970, S. 274)

Erneuerung soll im Sinne von „Wiederherstellung eines Ganzen“ verstanden werden. Durch Integration wird aus Teilen ein Ganzes – in Bezug auf die Sozietät der Kinder, in Bezug auf ein bestimmtes Gesellschaftssystem, in Bezug auf eine Staatengemeinschaft o. ä. - wieder hergestellt. Für Feuser bedeutet Integration „Wiedereingliederung be­reits ausgeschlossener Kinder wie Erhalt der Eingliede­rung der von Ausschluss bedrohten Kinder“ (Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 208). Integration als ein Prozess der Annäherung zielt darauf ab, „dass Menschen in sozialen Gruppen und Institutionen zusammenleben, d. h. sich gegenseitig akzeptieren und einander unterstützen und ergänzen, gleichgültig, ob sie ansonsten eine Behinderung aufweisen oder nicht“ (Speck 1996, S. 399).

„Integration ist ein Bekenntnis zur Vielfältigkeit“ meinen Wocken und Antor (Wocken & Antor 1987, S. 8). Jede Gesellschaft ist geprägt von einer weitrei­chenden Heterogenität, die auf den ersten Blick zu Gliederung, Spaltung, Aus­sonderung anregen könnte, die aber andererseits auch zu Integration, zur positi­ven Bewältigung dieser Heterogenität, zu einer sinnvollen Nutzung aller ver­schiedenen Ressourcen oder zumindest zu einem Akzeptieren der Vielfalt moti­vieren könnte. Jedes Individuum birgt in sich gesellschaftlich anerkannte, aber auch von der Gesellschaft abgelehnte Anteile. Wie aus der Psychoanalyse bekannt, verfügen wir über verschiedene Abwehrmechanismen, mit deren Hilfe wir die unerwünschten Eigenheiten zu verdrängen, verleugnen oder etwa auf andere Personen zu projizieren trachten. Bloß: Durch Verleugnen, Verdrängen, Projizieren werden Probleme nicht gelöst und vermeintliche Unzulänglichkeiten nicht aus der Welt geschafft, dadurch wird aus einem Menschen keine integrierte Persönlichkeit. Die Annahme von eigenen Behinderungen und von ungeliebten Persönlichkeitsanteilen wäre hingegen eine wichtige Voraussetzung dafür. „Integ­ration ist auch ein Akt der Selbstliebe und erweist sich in einem freundschaftli­chen Umgang mit den eigenen Gebrechlichkeiten. Behinderungen sind mensch­lich; sie bei uns selbst und bei anderen zu akzeptieren, ist Gegenstand der Menschwerdung des Menschen“ (Wocken in: Wocken/Antor/Hinz 1988, S. 441). Integration müsste daher bei uns selbst, im Akzeptieren der eige­nen Schatten beginnen.

„Integration bedeutet Eingliederung. Die Integrationsfähigkeit hängt aber keines­wegs nur vom Außenseiter, vom `Nichtnormalen´, in der Schule, also vom Leis­tungsschwachen und Anpassungsbehinderten ab, sondern ebenso davon, was man als Norm bezeichnet und wie sich die Gruppe der `Normalen´ selbst begrenzt und definiert“, meint Reinhart Lempp in seinem Beitrag über Möglich­keiten und Grenzen der Integration von Schülern mit besonderen Bedürfnissen. Und weiter fasst derselbe zusammen: „Eine Integration, die nur die Angleichung der Behinderten oder `Nichtnormalen´ an die selbst definierte `Norm´ versteht, leistet keine Integration, sondern Desintegration, Ausgrenzung. Integration kann nicht die Forderung der `Normgruppe´ an die Außenseiter sein. Integration ist Anpassungsbereitschaft auf Gegenseitigkeit“ (Reinhart Lempp in: Olechowski & Wolf 1990, S. 70 und S. 74). Es geht bei Integration eben nicht um Gute und Schlechte, nicht um Starke und Schwache, sondern 1. darum, zu sehen, dass Normen von uns selbst gemacht sind und 2. zu erkennen, dass jeder Mensch in irgendeiner Weise diesen selbst errichteten Normen nicht immer zu hundert Pro­zent entspricht.

Da sich diese Arbeit mit schulischer Integration beschäftigt, sei auch die Defini­tion aus dem „Wörterbuch Pädagogik“ zitiert:

„Allgemein: Soziale Prozesse der Eingliederung von Menschen in gesellschaftli­che Systeme, z. B. von Einzelpersonen in Gruppen, von Gruppen in ein Gesell­schaftssystem oder Vereinigung von Gesellschaftssystemen“ (Schaub & Zenke 1995, S. 275-276). Diese Diplomarbeit widmet sich dem gesellschaftlichen Sys­tem Schule, hier geht es also um den Prozess schulischer Erziehung und Bildung, und beleuchtet darin den besonderen Aspekt der Eingliederung behinderter Kinder in das Regelschulwesen und dessen Auswirkungen auf die schulischen Leistungen nicht behinderter Kinder. Und weiter heißt es: „In der Pädagogik wird der Begriff in verschiedenen Zusammenhängen definiert verwen­det. (…) Die Integration von Behinderten und Nichtbehinderten in Regel­schulen führte seit den achtziger Jahren vermehrt zum gemeinsamen Lernen in Integrati­onsklassen, sodass eine Aufnahme in die Sonderschule nicht notwendig wurde. Das bedeutet: Reduzierung der Klassenfrequenz, Zwei-Lehrer-System (Grund­schullehrer, Erzieher oder Sonderschullehrer), offene Lernformen und zieldiffe­rentes Lernen, Raumgestaltung und veränderte räumliche Bedingungen, Abschaffung des Ziffernzeugnisses und Einführung des individuellen Entwick­lungsberichtes, Fortbildung und Ausbildung der Lehrerschaft und Kooperation mit therapeutischem, psychologischem und medizinischem Fachpersonal“ (Schaub & Zenke 1995, 275 - 276). Hier werden bereits die erwünschten Rahmenbedingun­gen für ein gedeihliches Miteinander im schulischen Alltag aufgezählt.

Integration ist nichts Statisches, sondern sie stellt – wie oben zitiert - einen Pro­zess dar, „der sich auf einem Kontinuum von segregativen bis voll integrativen Formen abspielt“ (Bürli 1997, S. 71). Segregation, das diametrale Pendant zur Integration, meint „Aussonderung“, eine strenge Teilung in so genannte „Behin­derte“ und „Nicht Behinderte“, indem jene ausschließlich in disziplinspezifische Sonderschulen, diese in Regelschulen unterrichtet werden sollen. Wie oben erwähnt war dies im Großteil Europas, vor allem aber im deutschsprachigen Raum bis in die Achtzi­gerjahre gängige Praxis. Schulische Integration jedoch beginnt bei der Betreuung durch Förder- oder Stützlehrerinnen bzw. Förder- oder Stützlehrer innerhalb einer Regelklasse und führt über zeitweise kooperierende Klassen zu Integrationsklas­sen, die sich im Gebäude einer Regelschule befinden und Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf gemeinsam för­dern. Auch Feuser streicht den Prozess-Charakter hervor, wenn er meint, man könne nicht einfach von einem gewohnten Erziehungssystem auf ein neues umschalten. Integration wäre vielmehr „ein Prozess mit momentanen Höhepunk­ten und mit langen Durststrecken“ (Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 209). Als Durststrecken bezeichnet er jene Zeit, „die benötigt wird, bis eine ent­sprechende bewusstseinsmäßige Umstellung bei uns selbst erfolgt ist“ (Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 209).

In Österreich gibt es für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Pflichtschulbereich derzeit vier Organisationsformen von Integration. Kinder, die bloß in einem Gegenstand nach dem Lehrplan einer Sonderschule unterrichtet werden müssen („…wenn die zusätzliche Fördernotwendigkeit nur gering ist …“ Mörwald & Pannos 2002a, S. 4), können eine gewöhnliche Regelschul-Klasse besuchen, in der sie zusätzlich zur Klassenlehrerin oder zum Klassenlehrer auch noch von einer Stützlehrerin oder einem Stützlehrer bzw. einer Förderlehrerin oder einem Förderlehrer, medizinischen oder therapeutischen Fachleuten betreut werden. In dieser Einzelintegration (Der Begriff „Einzelintegration“ wird in Deutschland anders verwendet! Siehe dazu: Feuser in: Olechowski & Wolf 1990, S. 211) ist die Stütz­lehrerin oder der Stützlehrer bzw. die Förderlehrerin oder der Förderlehrer für den Unterricht und die Benotung jenes Gegenstandes verantwortlich, in dem das Kind nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet wird (Zur Benotung siehe unter 2.6 „Integrationsklasse“!). Muss ein Kind in mindes­tens zwei Fächern nach einem Sonderschullehrplan unterrichtet werden, so kann es seinen Schulbesuch in einer Integrationsklasse absolvieren.

Es besteht für Sonderschulen die Möglichkeit, mit allgemeinen Schulen (Volks-, Haupt- oder Polytechnischen Schulen) zusammenzuarbeiten, d.h. den Unterricht in einzelnen Stunden oder Fächern zeitweise, vielleicht projektbezogen oder schwerpunktmäßig, gemeinsam zu gestalten. Diese Kooperation – man spricht von „Kooperationsklassen“ - regelt der Absatz 1a im § 9 des Schulunterrichtsge­setzes.

Die vierte Variante schulischer Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf besteht in so genannten Aufbauklassen, die dazu gedacht sind, dass sie Kinder, deren Beeinträchtigung erst während ihrer Schullaufbahn eintritt bzw. erst dann festgestellt wird – dies ist auf jeden Fall bei Lernbehinderung der Fall, kann aber auch bei allen anderen Behinderungen zutreffen -, nicht von son­derpädagogischen Fördermaßnahmen ausgeschlossen werden müssen. Eine Klassenlehrerin oder ein Klassenleh­rer beginnt eine erste Volksschulklasse mit 15 Kindern, um die restlichen Plätze für jene Kinder, deren sonderpädagogischer Förderbedarf erst später evident wird, frei zu halten. Förder- und Stützmaßnah­men werden der Klasse aufbauend, dem Zuwachs an Kindern mit sonderpäda­gogischem Förderbedarf synchron, vom nächstliegenden sonderpädagogischen Zentrum zugeteilt. Nach Erreichen einer zumutbaren Klassenschülerfrequenz besteht kein Unterschied zwischen einer Aufbauklasse und einer Integrations­klasse.

2.4 Sonderpädagogisches Zentrum (SPZ)

„Sonderpädagogische Zentren sind Sonderschulen, die die Aufgabe haben, durch Bereitstellung und Koordination sonderpädagogischer Maßnahmen in anderen Schularten dazu beizutragen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in bestmöglicher Weise auch in allgemeinen Schulen unterrichtet werden können“; so die Erklärung des Schulorganisationsgesetzes (SchOG § 27a Abs. 1). Das heißt, dass das sonderpädagogische Zentrum sowohl die Son­derschullehrerinnen und Sonderschullehrer für Integrationsklassen zur Verfügung stellt, sie berät und unterstützt, aber auch die für den Unterricht nötigen zusätzli­chen Mittel (etwa therapeutische Hilfsmittel oder Anschauungsmaterial) den Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bereitstellt. Sonderpädagogi­sche Zentren nehmen zudem Verbindung mit außerschulischen Unterstützungs­systemen auf dem gesundheits- und sozialpolitischen Gebiet auf und vernetzen diese miteinander und mit den Integrationsklassen.

Die Leiterin oder der Leiter eines Sonderpädagogischen Zentrums hat die Eltern zu beraten, wenn es um die Frage eines eventuellen sonderpädagogischen För­derbedarfs geht. Sie oder er ist außerdem ein Glied der sonderpädagogischen Kommission, deren Aufgabe darin besteht, einem beantragten sonderpädagogi­schen Förderbedarf stattzugeben oder ihn abzulehnen. Weiters hat das Sonder­pädagogische Zentrum darauf zu achten, dass die Integration möglichst wohnort­nahe durchgeführt werden kann. Dazu obliegt es dem Sonderpädagogischen Zentrum, bei Bedarf sich um die Einrichtung einer neuen Integrationsklasse zu bemühen. Dies alles sollte im Einvernehmen mit allen involvierten oder hilfrei­chen Institutionen (Regelschule, Schulpsychologie, andere sonderpädagogische Zentren) und Personen (dem Kind selbst, seinen Eltern, Schulinspektoren) geschehen.

Zusammenfassend werden die folgenden drei Funktionen eines Sonderpädago­gischen Zentrums hervorgehoben, die vorrangig einerseits den sonderpädagogi­schen Kompetenztransfer und andrerseits die Sicherstellung sonderpädagogi­scher Betreuungsqualität gewährleisten sollen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

(Hovorka in: Schule gestalten, S.162 - 169)

2.5 Sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF)

Österreich gehört hinsichtlich schulischer Integration nicht zu den Vorreitern innerhalb Europas. Mehrere Länder, ganz besonders Italien, Dänemark, Schwe­den und Norwegen legten schon lange vor uns Gesetze zur Integration von Kin­dern mit sonderpädagogischem Förderbedarf vor und vollzogen diese auch Jahre vor uns. Ebenso verabschiedeten die USA bereits 1978 ein Gesetz für die inte­grative Beschulung (Benkmann & Pieringer 1991, S. 19-20).

Umso erfreulicher, dass seit 1993 nun endlich auch Österreich über eine gesetz­liche Verankerung der Integration in Volksschulen, seit 1997 über eine ebensol­che für die Sekundarstufe verfügt. Der gesamte Paragraf 8 des aktuellen öster­reichischen Schulpflichtgesetzes beschäftigt sich mit dem Schulbesuch bei son­derpädagogischem Förderbedarf. War in der früheren Fassung des österreichi­schen Schulpflichtgesetzes noch davon die Rede, dass schulpflichtige Kinder mit physischer oder psychischer Behinderung eine ihrer Eigenart entsprechende Sonderschule oder Sonderschulklasse zu besuchen haben, so ersetzt das Bun­desgesetzblatt BGBl. Nr. 513/1993, §8 Abs. 1 die Überschrift „Besuch einer Son­derschule“ durch den Begriff „Schulbesuch bei sonderpädagogischem Förderbe­darf“.

Seit diesem Zeitpunkt werden Kinder mit Behinderungen nicht mehr ausschließ­lich und zwingend in Sonderschulen abgeschoben, sondern es gibt nun auch die Möglichkeit, diese Kinder integrativ in gewöhnlichen Regelklassen oder in Integ­rationsklassen zu unterrichten. „Aus der bisherigen Selektionsdia­gnostik soll daher eine maßnahmenorientierte Förderdiagnostik werden, die auf die Berück­sichtigung der besonderen Erziehungsbedürfnisse eines behinderten Kindes abzielt“ (Gruber in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst 1993, S. 16). Es wird nun nicht mehr nach der richtigen Form von Sonderschule gefragt, sondern nach der optimalen Abstim­mung von besonderem Förderbedarf und den verfüg­baren Förderkompe­tenzen. Nach Erstellen verlässlicher Diagnosen kann das Kind in einem oder mehreren Gegenständen nach dem seiner Behinderung ent­sprechenden Son­derschullehr­plan unterrichtet werden; in einer Regelklasse dann, wenn bloß in einem einzigen Fach nach Sonderschullehrplan unterrichtet wird, und in einer Integrationsklasse sofern zwei oder mehr Gegenstände davon betroffen sind (Mörwald & Pannos 2002b, S. 4). § 8 lit. a Abs. 1 des geltenden Schulpflichtge­setzes erklärt dies fol­gendermaßen: „Schulpflichtige Kinder mit sonderpädagogi­schem Förderbedarf (…) sind berechtigt, die allgemeine Schul­pflicht entweder in einer für sie geeig­neten Sonderschule oder Sonderschulklasse oder in einer den sonderpädagogi­schen Förderbedarf erfüllenden Volksschule (…) zu erfüllen, (…)“ (Schulpflicht­gesetz 1993, BGBl. Nr. 513 § 8a Abs. 1).

Die Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs kann entweder von den Erziehungsberechtigten oder von Amts wegen (etwa von der Schulleitung) vor Schuleintritt, bei Vorliegen einer Lernbehinderung erst am Ende der Grund­stufe I (d. h. am Ende der zweiten Volksschulklasse) beantragt werden. Nötige Gutachten, verfasst von der Leiterin oder dem Leiter des Sonderpädagogischen Zentrums, der Schulärztin oder des Schularz­tes, in begründeten Fällen auch von der Schulpsychologin oder dem Schulpsy­chologen oder von anderen mit der Behinderung vertrauten Fachleuten, liegen dem Ansuchen bei. Die regionale Kommission, bestehend aus der Bezirksschul­inspektorin oder dem Bezirks­schulinspektor, der betreffenden Schulleiterin oder dem betreffenden Schulleiter, der Leiterin oder des Leiters des zuständigen Son­derpädagogischen Zentrums, der Schulpsychologin oder dem Schulpsychologen, gibt dem Antrag statt oder lehnt ihn begründet ab (Mörwald & Pannos 2002b, S. 8). Die zuständige Bezirksschulinspektorin oder der zuständige Bezirksschulin­spektor erteilt nach positiver Behandlung aller Unterlagen den Bescheid auf son­derpädagogische Förderung. Dies wird immer dann der Fall sein, wenn zu befürchten ist, dass das begutachtete Kind aufgrund seiner Behinderung dem Unterricht nach Volks­schullehrplan nicht ohne zusätzliche Hilfsangebote folgen kann.

Nach einer angemessenen Beobachtungsfrist genehmigt der Bezirksschulrat den Unterricht nach dem der Behinderung des Kindes entsprechenden Sonder­schul­lehrplan (SchUG[1] § 17 Abs. 4). Die Schulkonferenz hat zu entscheiden, „ob und in welchen Gegenständen der Schüler nach dem Lehrplan einer anderen Schul­stufe, als der seinem Alter entsprechenden, zu unterrichten ist“ (SchUG § 17 Abs. 4b). Es hängt von der Art der Behinderung und vom Grad deren Ausprä­gung ab, welcher Lehrplan für welches Kind und in welchem Gegenstand der optimale ist. Dies muss von den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungs­trägern indivi­duell diagnostiziert, begründet und festgelegt werden.

2.6 Integrationsklasse

Eigentlich ist es irreführend, die Integrationsklasse einer Regelklasse gegenüber­zustellen, zumal in Österreich schon 1993 Volksschul-Integrations­klassen aus dem seit dem Schuljahr 1986/87 laufenden Schulversuch ins Regel­schulwesen übergeführt wurden – im Sekundarbereich geschah dies im Rahmen der 17. SchOG[2] -Novelle im Jahr 1996 - , somit der Ausdruck „Integrative Regel­klasse“ eher dem Gesetz entsprechen würde. Dennoch hat sich im Sprach­gebrauch der Begriff „Integrationsklasse“ durchgesetzt und auch für die gewöhn­lichen Pflicht­schulklassen gibt es keine andere Bezeichnung als die der „Regel­klasse“.

„Eine Integrationsklasse versteht sich als eine Stammgruppe von behinderten und nicht behinderten Kindern, die während der gesamten Grundschulzeit zusammen bleibt“ (Wocken in: Wocken/Antor/Hinz 1988, S. 396). So erläutert Hans Wocken, der Doyen der Integration in Deutschland, kurz und prägnant die zum Zeitpunkt dieser Aussage noch ganz junge Organisationsform.

Der Wiener Schulführer 2003, herausgegeben vom Stadtschulrat für Wien, defi­niert „Integrationsklasse“ folgendermaßen:

„Gemeinsamer Unterricht von behinderten und nicht behinderten Kindern. Im Unterricht wird grundsätzlich ein/e Lehrer/in mit sonderpädagogischer Ausbil­dung, die auf die jeweilige Behinderungsart der Kinder Rücksicht nimmt, zusätz­lich eingesetzt“ (Stadtschulrat für Wien 2003, S. 185). Die Sonderpädago­gin oder der Sonderpädagoge steht während der gesamten Unterrichtszeit zur Verfügung. Im Sinne einer multiprofessionellen Versorgung kann bei Bedarf (je nach Behin­derungsart und -grad) gleichzeitig eine weitere Fachkraft, etwa eine Physiothera­peutin oder ein Physiotherapeut, eine Ergotherapeutin oder ein Ergotherapeut, ein Gebärdendolmetsch etc., zu Rate gezogen werden.

Integrationsklassen sind meist räumlich und institutionell in Regelschulhäuser eingegliedert. (Es gibt heute – zwar ohne gesetzlichen Rückhalt[3] - auch schon Fälle von umgekehrter Integration, das heißt, es werden Kinder ohne son­derpädagogischen Förderbedarf in bestimmte Sonderschulklassen aufgenom­men, also integriert. Diese Klassen sind dann natürlich in den Gebäuden der betreffenden Sonderschule untergebracht.)

Für die Schülerinnen und Schüler einer Integrationsklasse gibt es somit mindes­tens zwei Lehrerinnen oder Lehrer als Ansprechpartner, im für die vorliegende Arbeit relevanten Volksschulbereich sind das eine Volksschullehrerin oder ein Volksschullehrer plus eine Sonderschullehrerin oder ein Sonderschullehrer. Auf­grund der unterschiedlichen Ausbildung widmet sich die Sonderpädagogin oder der Sonderpädagoge vorrangig den Bedürfnissen der Kinder mit sonderpädago­gischem Förderbedarf, während die Volksschullehrerin oder der Volksschullehrer in erster Linie für die Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zuständig ist. Es sollen allerdings beide Pädagoginnen oder Pädagogen beiden Schüler­gruppen ihre Aufmerksamkeit schenken und den Unterricht in ständiger Abspra­che gemeinsam planen und durchführen (Mörwald & Pannos 2002a, S. 4). „Es arbeiten (…) alle Lehrer als gleichwertige Partner; jeder der in der Klasse tätigen Lehrer ist für ALLE Kinder zuständig“ (Mörwald & Pannos 2002b, S. 14).

Als zusätzliche Hilfe sollen die Kinder selbst ermutigt werden, ihren Fähigkeiten ent­sprechend einander zu helfen. Soziales Lernen spielt eine umso größere Rolle, je vielfältiger sich die heterogene Klassengemeinschaft präsentiert. „Besonderes Augenmerk wird auf ein soziales Klima gelegt, innerhalb dessen die SchülerInnen einander mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen, individuel­len Bedürfnis­sen und Kommunikationsfähigkeiten akzeptieren und wertschätzen und die unterschiedlichsten Tätigkeiten gemeinsam durchführen“ (Mörwald & Pannos 2002a, S. 4). Die vorhandene Heterogenität wird nicht durch eine Stra­tegie der unbedingten Homogenisierung, auch nicht durch ein Anpassen einer Minderheit an die Mehr­heit bewältigt, sondern durch Binnendifferenzierung, Indi­vidualisierung und aktive Zusammenarbeit aller am Unterricht Beteiligten. „Alle Kinder, behinderte wie nicht behinderte, sollen ihrem Vermögen gemäß bean­sprucht werden, und sie sollen dabei auch miteinander und voneinander lernen. Das Ziel eines integrativen Unterrichts ist die allseitige Förderung aller Kinder durch gemeinsame Lernsitua­tionen“ (Wocken in: Wocken & Antor 1987, S. 72).

In einer Integrationsklasse darf jeder in Österreich zugelassene Lehrplan zur Umsetzung gelangen, jedes Kind erhält den für seine Fähigkeiten optimalen und wird danach auch beurteilt. Das Schulorganisationsgesetz bringt dazu im §10 Abs. 4 folgendes zur Kenntnis: „Für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbe­darf findet der Lehrplan der Volksschule insoweit Anwendung, als erwartet wer­den kann, dass ohne Überforderung die Bildungs- und Lehraufgabe des betref­fenden Unterrichtsgegenstandes grundsätzlich erreicht wird; im übrigen findet der der Behinderung entsprechende Lehrplan der Sonderschule Anwendung“ (BGBl.[4] Nr. 512/1993, Z 10).

Diesem Lehrplan entsprechend wird dann auch die Leistung des Kindes beurteilt und im Zeugnis vermerkt, welcher Sonderschullehrplan bzw. der Lehrplan wel­cher Schulstufe zur Beurteilung herangezogen wurde (SchUG § 19 Abs. 2 und § 22 Abs. 2 lit. i).

Zur Klassenfrequenz in Volksschul-Integrationsklassen findet sich im Schulunter­richtsgesetz folgender Satz: „In Volksschulklassen, in denen Kinder ohne und mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam unterrichtet werden, soll der Anteil an Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur jenes Ausmaß betragen, bei dem unter Bedachtnahme auf Art und Schweregrad der Behinde­rung die erforderliche sonderpädagogische Förderung erfolgen kann“ (Schulun­terrichtsgesetz 2001, §9 Abs.1). Es obliegt dem Ermessen der zuständigen Pädagogen, die Anzahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf indi­viduell festzulegen. Handelt es sich ausschließlich um lernbehinderte Kinder – was laut Aussage von Alfred Brader, Bildungssprecher der ÖVP, in den meisten Fällen zutrifft – so wird diese Zahl höher sein als wenn mehrfach- oder schwerstbehinderte Kinder betroffen sind.

Für das Bundesland Wien legt das Wiener Schulgesetz im 2. Hauptstück §10 Abs. 2 die Klassenschülerhöchstzahl für Integrationsklassen fest: „Im Fall des gemeinsamen Unterrichts von nicht behinderten Kindern und Kindern mit sonder­pädagogischem Förderbedarf vermindert sich die Klassenschülerhöchstzahl für jedes leistungsbehinderte oder lernschwache Kind um eins und für jedes Kind mit anderer Behinderungsform um zwei. Dabei soll eine Klassenschülerzahl von 22 nicht überschritten werden (LGBl. Nr. 49/1994 Art I Z 9)“ (Wiener Schulgesetz, II. Hauptstück, 1. Abschnitt, §10). Im Regelfall wird diese Grenze auch nicht über­schritten, umso mehr verwundert es, dass von den getesteten 13 Integrations­klassen ein recht hoher Prozentsatz, nämlich 4 Klassen, über dem empfohlenen Limit von 22 Schülerinnen und Schülern liegt.

Dem Prinzip der Freiwilligkeit gehorchend liegt die Entscheidung, ob ein Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Sonderschule oder eine Integrations­klasse besucht, bei den Erziehungsberechtigten, die – so sie in Wien wohnen - im Zweifelsfall eine Beratung der Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrates für Wien in Anspruch nehmen können, zumal die Entscheidung, welche Schul­form bzw. welche Klassenform für das betreffende Kind die richtige sein wird, oft nicht sehr leicht ist.

2.7 Zusammenfassung der Kapitel 1 und 2

Die Integration von Kindern mit Behinderungen in Regel-Volksschulen (Es geht in dieser Arbeit vorrangig um Volksschulen, nicht um Hauptschulen, Polytech­nische Schulen oder Höhere Schulen!) ist in Österreichischen Schulgesetzen seit nunmehr zehn Jahren verankert. Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, das sind alle Kinder, die ohne zusätzliche Hilfe nicht imstande wären, den Volks­schullehrplan zu erfüllen und somit zum Teil einem Sonderschullehrplan folgen, werden in disziplinübergreifenden Integrationsklassen gemeinsam mit Kindern ohne sonderpädagogi­schen Förderbedarf unterrichtet. Die Zusammensetzung richtet sich nach der Art und dem Schweregrad der Behinderungen. Bei einer reduzierten Klassenschü­lerhöchstzahl liegt der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Österreich etwa zwischen 20 und 25%. Zwei Lehrerinnen oder Lehrer, nämlich eine Volksschullehrerin oder ein Volksschullehrer und eine Sonderschullehrerin oder ein Sonderschullehrer (von einem Sonderpädagogi­schen Zentrum der Volks­schule zugewiesen), gestalten den Unterricht in Team­work so, dass auf die Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler möglichst optimal eingegangen werden kann. Die regel­mäßige Evaluierung des Leistungsstandes gibt Auskunft darüber, ob der ursprünglich festgestellte sonderpädagogische Förderbedarf weiterhin besteht oder bereits aufgegeben werden kann.

„Auch die integrationsfähige Schule muss den Auftrag erfüllen, die Kinder in die grundlegenden Kulturtechniken einzuführen und Qualifikationen für das spätere Berufsleben vorzubereiten. (…) Es erscheint mir deshalb unbestritten, dass für die Beurteilung von Integrationsversuchen die Wirkungen der leistungsheteroge­nen Bezugsgruppe auf den Erwerb der elementaren Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen untersucht werden müssen“ (Haeberlin in: Zeitschrift für Pädagogik 37/91, S. 174). Was Haeberlin hier für die Schulversuche fordert, sollte sich nicht darin erschöpfen. Vorhandene Befunde müssen immer wieder aufs Neue hinterfragt und evaluiert werden. Das ist die Aufgabe der empirischen Wissenschaften.

Es erhebt sich daher die Frage, ob dies tatsächlich gelingt, ob auch die Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Integrationsklassen gleich gut geför­dert werden wie in traditionellen Regelklassen. Dazu gibt es verschiedene Theorien und Mei­nungen, von absolutem Vorteil der integrativen Erziehung über eine Pattstellung bis hin zu einer nachteiligen Leistungsentwicklung in Integrati­onsklassen. Skepti­kerinnen und Skeptiker bezweifeln die Gleichwertigkeit der beiden Klassentypen und unterstellen, dass Kinder mit sonderpädagogischem Förderbe­darf unverhält­nismäßig viel Aufmerksamkeit des Lehrpersonals auf sich ziehen und dadurch den Leistungsstand der gesamten Klasse, insbesondere aber jenen der Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf herabsetzen. Kinder ohne sonderpä­dagogischen Förderbedarf würden somit in Regelklassen mehr lernen als in Integrationsklassen.

Es ist nun das Ziel dieser Diplomarbeit zu überprüfen, ob der genannte, an Integ­ration zweifelnde Vorwurf seine Berechtigung hat oder unter dem Titel „Vorurteil“ abgewiesen werden kann. Dazu wird das folgende Kapitel erst einmal darstellen, welche Untersuchungen zu diesem Thema bereits existieren, um danach die eigene empirische Untersu­chung vorzustellen, zu analysieren, auszuwerten und die neuen Erkenntnisse zu interpretieren.

3 Forschungsstand

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich begannen, angeregt durch Eltern­initiativen, die ersten intensiven Bemühungen um integrative Beschulung in den frühen Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Das Interesse galt zuerst vor­rangig den Kindern mit Behinderungen. Man wollte sie nicht mehr vom „norma­len“ Leben aussperren (Recht auf Normalität). Sie sollten so wie im privaten Be­reich auch in der Schule gemeinsam mit nicht behinderten Kindern leben und lernen. Im Laufe der Zeit mehrten sich jene Effizienzforschungen, die klar machen sollten, ob Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonder­schulen oder in Integrationsklassen besser gefördert werden. Zum anderen war es ein Bedürfnis, schon im Kindesalter nicht behinderten Schülerinnen und Schülern erfahrbar zu machen, wie Menschen mit Behinderungen leben, was sie brauchen und wie man mit ihnen kommuniziert.

So waren die ersten Forschungsfragen auf das Befinden der Kinder mit sonder­pädagogischem Förderbedarf gerichtet, doch schon bald danach interessierte auch das der nicht behinderten Kinder. Wie geht es ihnen in einer Integrations­klasse im Zusammenleben (emotionaler und sozialer Aspekt) und im gemeinsa­men Lernen (kognitiver Aspekt) mit behinderten Kindern? Kommt die Integrati­onsklasse ihren Erziehungsaufgaben allen Kindern gegenüber – jenen, die son­derpädagogische Betreuung brauchen genauso wie jenen, die ohne diese zurechtkommen – nach?

In diesem Kapitel wird der historischen Entwicklung letztgenannter Forschung nachgegangen. Es werden in chronologischer Folge deren Meilensteine inner­halb des deutschsprachigen Raumes synoptisch dargestellt und die einschlägi­gen empirischen Untersuchungen von ihren Anfängen bis zum heutigen Stand skizziert.

Vor etwa zwanzig Jahren begann man in verschiedenen Städten Deutschlands mit der Erforschung des Leistungsstandards in Integrationsklassen. Als erste groß angelegte wissenschaftliche Untersuchung führte Hans Wocken ab dem Schuljahr 1983/84 in Hamburg seine Studien durch. Er begleitete dort die ersten Integrations­klassen in den Grundschulen.

Die hier beschriebene Testung fand in den beiden Schuljahren 1984/85 und 1985/86 statt und umspannte 13 erste Klassen, ausschließlich Integrations­klassen, und auf der zweiten Schulstufe sieben Integrationsklassen und sieben Regelklassen.

Die Klassenfrequenz in den Integrationsklassen betrug entweder 18 nicht behin­derte Kinder plus zwei behinderte Kinder oder elf nicht behinderte Kin­der plus vier behinderte Kinder. Diese Klassen-Zusammensetzung unterscheidet sich gra­vierend von jener der heutigen österreichischen Integrationsklassen! Die größte Gruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf waren geistig behin­dert, die zweitgrößte Gruppe hatte Körper- oder Lernbehinderungen. Auch in die­sem Punkt unter­scheiden sich die Hamburger Klassen von den aktuellen öster­reichischen Integ­rationsklassen (hier überwiegen die Kinder mit Lernbehinderun­gen, während geistig behinderte Kinder nicht allzu häufig in Integrationsklassen zu finden sind), aber auch von den weiter unten beschriebenen Schweizer Integ­rationsklassen, welche – zumindest zur Zeit der Untersuchungen von Bless und Klaghofer - ausschließlich lernbehinderte Kinder integrierten. Und noch ein drittes Prinzip der hier untersuchten Integrationsklassen weicht ab von jenem, welches die aktuellen österreichischen Integrationsklassen kennzeichnet: In Hamburg waren für den Unterricht nicht nur zwei sondern drei Pädagoginnen oder Pädagogen zuständig, außer dem Grundschullehrer bzw. der Grundschul­lehrerin und der Sonderschullehre­rin oder dem Sonderschullehrer wurden die Kinder auch noch von einer Erzieherin oder einem Erzieher versorgt (Wocken/Antor/Hinz 1988, S. 13).

Die Testleistungen der nicht behinderten Kinder im ersten Schuljahr verglich Wocken mit den Ergebnissen der Eichstichprobe eines standardisierten Tests. Im zweiten Schuljahr bildete er dann mit Hilfe der parallel geführten Regelklassen Kontrollgrup­pen. Getestet wurden die beiden Kulturtechniken Lesen und Rech­nen.

[...]


[1] SchUG … Schulunterrichtsgesetz

[2] SchOG … Schulorganisationsgesetz

[3] siehe Anhang: Interview mit Dieter Brosz!

[4] BGBl. … Bundesgesetzblatt

Ende der Leseprobe aus 112 Seiten

Details

Titel
Schulleistungen in heterogenen Gruppen - Eine empirische Studie über Integrationsklassen
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Erziehungswissenschaft)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
112
Katalognummer
V26822
ISBN (eBook)
9783638290470
Dateigröße
824 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schulleistungen, Gruppen, Eine, Studie, Integrationsklassen
Arbeit zitieren
Edda Böhm (Autor:in), 2003, Schulleistungen in heterogenen Gruppen - Eine empirische Studie über Integrationsklassen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/26822

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