In der vorliegenden Arbeit wird es nicht darum gehen, eines oder mehrere Exempel aus dem „Libro de los enxiemplos del Conde Lucanor et de Patronio” zu analysieren. Die Forschung zu den einzelnen Exempla ist Legion. Stattdessen soll jenes „Werk der Weltliteratur“ des kastilischen Hochadeligen don Juan Manuel, das nach José Manuel Blecua dessen „obra mas importante“ darstellt, unter einer anderen Fragestellung gelesen werden. Denn die Literaturwissenschaft ist, was die Beurteilung dieses opus des Neffen Alfons X. anlangt, verblüffend zwiegespalten. Weite Teile der Forschung sehen in der Sammlung typisch ‚mittelalterliche‘, ja nachgerade rückwärtsgewandte Elemente verwirklicht. Der Conde Lucanor wird in dieser Perspektive vor der Folie der „kastilischen Krise“ in den letzten Regierungsjahren Alfons des Weisen gelesen: Der Kollaps der königlichen Herrschaft habe im Verlauf weniger Jahre den „Horizont des ‚dunklen Spätmittelalters‘“ heraufziehen lassen. Verglichen mit dem Corpus Alfonsinum erscheint Gumbrecht der Conde Lucanor als „ein Symptom mentalitätsgeschichtlicher Involution“. Ich habe mich ob der vergleichsweise harschen Wortwahl dazu angeregt gesehen, die Argumentation Gumbrechts näher in den Blick zu nehmen.
Ausgehend von dessen Bewertung wird daher in dieser Arbeit zunächst der entstehungsgeschichtliche Hintergrund, wie ihn Gumbrecht entwirft, untersucht werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit das Paradigma eines krisenhaften und ‚dunklen‘ 14. Jahrhunderts gerechtfertigt ist; denn von einer solchen Auffassung scheint Gumbrechts Bewertung des Conde Lucanor sowie weiterer, im Umfeld des kastilischen Königshofes in manuelinischer Zeit entstandener Literatur maßgeblich abhängig zu sein.
Anschließend wird ein weiteres omnipräsentes Forschungsparadigma problematisiert, wonach der Conde Lucanor ein dezidiert didaktischer Text sei und keinerlei Ambiguität aufweise. Unter Rückgriff auf neuere Forschungsliteratur wird argumentiert werden, dass der Text nicht nur nicht ausschließlich didaktisch ist, sondern das – möglicherweise an der Intention des Autors vorbei laufende – Potential auf alternative Lektüren bietet. Darüber hinaus sollen einige Aspekte in den Vordergrund gerückt werden, die durchaus modern und nicht ‚typisch mittelalterlich’ oder gar rückwärtsgewandt anmuten: so etwa die Rolle, die der Text dem Leser zuweist, das Selbstverständnis Juan Manuels als Autor und die iim Text greifbare Neubewertung menschlichen Erfahrungswissens.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Im Schatten des Spätmittelalters? Kastilien im 14. Jahrhundert
- 1.1 Die ,,Krise" des Spätmittelalters
- 1.2 Soziale Spannungen im Kastilien des 14. Jahrhunderts
- 1.3 Die Folgen der „Krise“: kultureller Niedergang oder literarische Produktivität?
- 2. El Conde Lucanor
- 2.1 ...„transparently didactic and completely untroubled by ambiguity“?
- 2.2 Der Leser als Hermeneut
- 2.3 Der Autor als Individuum
- 2.4 Neubewertung individuellen Erfahrungswissens
- Resümee
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Hausarbeit untersucht das literarische Werk „El Conde Lucanor“ von Don Juan Manuel, einem kastilischen Hochadeligen aus dem 14. Jahrhundert. Sie hinterfragt die weit verbreitete Sichtweise, welche dieses Werk als „typisch mittelalterlich“ und rückwärtsgewandt betrachtet. Die Arbeit analysiert die These, dass der Conde Lucanor ein Symptom einer „mentalitätsgeschichtlichen Involution“ im Kontext der „kastilischen Krise“ des 14. Jahrhunderts darstellt.
- Die „Krise“ des Spätmittelalters und ihre Relevanz für die Interpretation des „El Conde Lucanor“
- Die Rolle des Conde Lucanor im historischen und kulturellen Kontext Kastiliens im 14. Jahrhundert
- Die didaktische Funktion und das Potential des Conde Lucanor für alternative Lesarten
- Die Position des Lesers, die Rolle des Autors und die Bedeutung individuellen Erfahrungswissens im Conde Lucanor
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Forschungsfrage und die Zielsetzung der Arbeit ein. Sie stellt den Conde Lucanor als „Werk der Weltliteratur“ vor und verdeutlicht die gegensätzlichen Perspektiven auf das Werk in der Literaturwissenschaft.
Kapitel 1 analysiert die Argumentation von Hans Ulrich Gumbrecht, der den Conde Lucanor im Kontext einer „kastilischen Krise“ im 14. Jahrhundert betrachtet. Es beleuchtet die politischen und sozialen Spannungen dieser Zeit und stellt die These in Frage, dass das 14. Jahrhundert in Europa und Kastilien von einer „Krise des Spätmittelalters“ geprägt war.
Kapitel 2 widmet sich einem weiteren omnipräsenten Forschungsparadigma, das den Conde Lucanor als völlig transparent didaktischen Text versteht. Es argumentiert, dass der Text nicht nur didaktische Elemente beinhaltet, sondern auch das Potential für alternative Lesarten bietet.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit dem „El Conde Lucanor“, Don Juan Manuel, Spätmittelalter, Kastilien, Krise, Didaktik, literarische Produktivität, Interpretation, Lesarten, Autor, Erfahrungswissen, mittelalterliche Literatur.
- Quote paper
- Christoph Heckl (Author), 2011, El Conde Lucanor: "Mentalitätsgeschichtliche Involution" in der "Krise des Spätmittelalters"?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269051