Europa überwindet seine Grenzen!

Drei Essays über die Europäische Integration


Essay, 2013

23 Seiten


Leseprobe


Europa und die Nationen

Nüchternheit und Leidenschaft

Leipzig, Juli 2012

Deutsche Nation – Widerspruch in sich?

Ach, wie schön könnte es sein, Deutscher zu sein, wenn man nicht ständig daran erinnert würde. Immer wieder diese aufdringlichen, beißenden Vokabeln: Nation, Leitkultur, Patriotismus, Vaterland. Wie glühende Eisen pressen sie sich in die öffentlichen Debatten. Viele verfolgen die Diskussionen gern, aber die Wenigsten wollen sich selbst beteiligen, aus Furcht, man könnte etwas Falsches sagen, etwas, das historisch belastet ist. Stattdessen schauen die Deutschen lieber beschämt zu Boden, wenn man sie nach ihren Gefühlen für ihr Vaterland fragt, es sei denn, sie geben frank und frei zu, dass diese gar nicht existieren.

Zuzugeben, dass man keine Verbundenheit hat zu dem Land, in dem man lebt, ist für die meisten kein Problem. Als „typisch deutsch“ zu gelten, ist eine Gratulation, der sich die meisten lieber entziehen, wo doch viele Unarten und Geschmacksverirrungen ähnlich gerufen werden. Als „kerndeutsch“ bezeichnete dereinst auch Thomas Mann den kollektiven „Hang zur Selbstkritik, der oft bis zum Selbstekel, zur Selbstverfluchung“* gehe. Andere Europäer können darüber nur den Kopf schütteln. „Be british“ oder „être français“ sind geradezu Selbsthuldigungen, eine größere Auszeichnung kann man sich kaum denken, wenn es nach den Briten oder Franzosen geht. Woher kommt dieses merkwürdige Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation? Sind sie überhaupt noch eine Nation?

Die Definition der „Nation“, einst von Ernest Renan in seiner berühmten Sorbonner Rede aus dem Jahr 1882, hat heute immer noch Gültigkeit. Demnach ist die Nation eine im Geist und Verstand der Menschen vorkommende Idee, eine Fiktion, die sofort aufhört zu existieren, wenn die Menschen sie aus ihren Herzen und Köpfen verbannen.* Würde man denn sagen, dass es heute keine deutsche Nation mehr gebe?

Nein, ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl muss es doch immer noch geben, zumindest ein unterschwelliges Empfinden, dass die Deutschen irgendwie zueinander gehören und nicht bloß von einem Staat zusammengehalten werden. Bei einer Umfrage von Soziologen der Universität Hohenheim im Auftrag der Identity-Stiftung aus dem Jahr 2009 gaben zwar 80% der Befragten an, sich als Deutsche zu fühlen, doch nur 30% zeigen dies öffentlich – zum Beispiel: indem sie die Nationalhymne mitsingen**.

Hier und da zaghafte Bekenntnisse zu Nation und Patriotismus. Die Bilder von der Fußball-WM 2006 haben dies bewiesen. Doch ist dieses Gefühl wirklich national gemeint? Dazu würden auch Geschichte, Kultur, Staat oder Sprache gehören. Stattdessen erleben wir eher einen pragmatischen, individualistischen oder regionalen Patriotismus mit Autofähnchen und schwarz-rot-goldenen Perücken.

Es gibt eine eigenartige Spaltung hierzulande. Den meisten fällt es nicht schwer, sich als Deutsche zu „outen“, jedoch mögen viele damit kein Urteil verbinden. Stattdessen bekennt man sich lieber zu einem „Spaß-Patriotismus“

oder am besten gleich zum „Weltbürgertum“. Das klingt progressiv – damit liegt man ohnehin immer richtig. Die nationale Leidenschaft der Deutschen, möglichst wenig deutsch zu sein, macht uns auf der Welt so schnell keiner nach.

Die „Nation“ im Wandel der Zeit

Der englische Nationalismusforscher Ernest Gellner bemerkte einst, dass die Nation nicht den Nationalismus hervorbringe, sondern die Ideenwelt des Nationalismus sich die Nation schaffe.* Passender könnte man kaum die deutschen Verhältnisse im 19. Jahrhundert, der Geburtsstunde der deutschen Nation beschreiben.

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, bemerkte einst Heraklit. Wie bei anderen Völkern ist auch das deutsche „Wir-Gefühl“ erstmals im Krieg entstanden, genauer: in den Befreiungskriegen gegen Napoleon und während seines Besatzungsregimes. Der Korse hatte in so manchen Ländern die erste nationale Euphorie ausgelöst, eine Entwicklung, die es in sich hat, aber zur damaligen Zeit auch nicht ganz verkehrt war: Dass Europa nach dem Vierteljahrhundert von Französischer Revolution und Napoleonischen Kriegen nicht wieder – oder nicht sofort wieder – zurückfiel in eine Orgie des Wütens gegen sich selbst wie nach der Reformation, verdankt es vermutlich diesem neuen Gemeinschaftssinn: „Wir sind eine Nation!“ Das war fortan das Schlagwort jedes fortschrittlich denkenden Menschen. Napoleon rief bei den Deutschen zwei Gefühle hervor. Erstens: „Das soll nie wieder jemand mit uns machen können!“ Und zweitens: „Das wollen wir auch mal machen!“** Für die Deutschen waren mit der neuen Idee „Nation“ vor allem Hoffnungen verbunden: Man werde es künftig besser haben.

Heute wissen wir, welche Sprengkraft sich daraus entwickelte. Die Nation konnte letztlich weder das eine noch das andere verwirklichen, weder Schutz nach innen noch Entfaltung nach außen. Hat sie schon allein deshalb ausgedient? Viele Ideen in der Geschichte haben nicht das gehalten, was sie versprochen haben.

Das Besondere an der deutschen Situation damals war – man erinnere sich an Gellners Aussage –, dass es zwar ein Nationalgefühl gab, aber keinen Nationalstaat. Es gab lediglich einen Flickenteppich bestehend aus vielen unabhängigen deutschen Fürstentümern. Daher war der deutsche Gemeinschaftssinn nicht an eine Staatsnation gebunden, sondern an kulturell-subjektive Eigenheiten wie Abstammung, Kultur oder Sprache. Ehrfürchtig sprach man fortan von der Kulturnation Deutschland. Dieses Identitätsgefühl bewirkte, dass Menschen, ohne gefragt zu werden, plötzlich zur deutschen Nation hinzugerechnet wurden. Wessen Muttersprache deutsch war, der war von nun an Deutscher, ob er wollte oder nicht: „So weit die deutsche Zunge klingt“, wie Ernst-Moritz Arndt dichtete. Andererseits wurden dadurch Menschen, die bisher unter den Deutschen lebten, ausgeschlossen, weil man sie einer anderen Kultur zuordnete. Dieses Schicksal traf vor allem die Juden. Die Zugehörigkeit zur deutschen Nation war fortan keine Glaubensfrage, sondern eine Schicksalsfrage.

Zeitgleich mit der Idee der Nation entwickelte sich auch der deutsche Frühnationalismus – beide Aspekte galten bis ins 20. Jahrhundert hinein als zwei Seiten ein und derselben Medaille. Schon früh klang bei den Deutschen eine gewisse Selbstüberheblichkeit durch. Die Vorstellung, die Deutschen als Urvolk, den mythisch verklärten germanischen Stämmen entsprungen, seien das wichtigste Volk von allen Völkern der Erde, war für viele Deutsche bereits im 19. Jahrhundert eine selbstverständliche Annahme. Auch die Abgrenzung gegenüber den anderen Nationen in Europa schlug bisweilen in radikalen Hass um. Das Schlagwort „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ erfand Emanuel Geibel zwar erst 1861, das Gefühl, das hinter diesem Ausdruck stand, gab es allerdings schon längst. Was die Deutschen damals besonders prägte, war ihre eigene Legendenbildung, die mythische Verklärung ihrer Vergangenheit. Die Geschichte steht immer auch im Mittelpunkt des Nationalgefühls, doch deckt sie weniger die Realität, das wissenschaftliche Überprüfbare, ab – ihr Ziel ist vielmehr die Konstruktion und Erfindung einer nationalen Heilsgeschichte, eines Mythos.

[...]


* SCHREIBER, Patrick: Patriotismus der Heimwerker. In: DER SPIEGEL. Online-Artikel vom 04.05.2009.

* Vgl. Ernest Renan, Was ist eine Nation?, Vortrag an der Pariser Sorbonne 1882.

** SADIGH, Parvin: Werkeln am Nationalbewusstsein. In: Die Zeit. Online-Artikel vom 08.05.2009.

* Vgl. GELLNER, Ernest: Nationalismus und Moderne. Hamburg 1991.

** Vgl. HAFFNER, Sebastian: Von Bismarck zu Hitler. Hamburg 2009. S. 23-24.

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Europa überwindet seine Grenzen!
Untertitel
Drei Essays über die Europäische Integration
Autor
Jahr
2013
Seiten
23
Katalognummer
V269640
ISBN (eBook)
9783656611660
ISBN (Buch)
9783656610434
Dateigröße
424 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
europa, grenzen, drei, essays, europäische, integration
Arbeit zitieren
Eric Buchmann (Autor:in), 2013, Europa überwindet seine Grenzen!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/269640

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