"Öffentlichkeit gilt als irgendeine Art von Kollektiv, das sich in bestimmter Weise verhalten kann: Sie ist beunruhigt, interessiert sich, meint dies und das, fordert auch. (Neidhardt 1989, S. 25)"
Diese Beschreibung mag keine Unwahrheiten enthalten - lässt dafür aber eine wissenschaftliche Exaktheit und Problemlösungswillen vermissen. Da sich Neidhardt aber nicht mit dieser Definition zufriedengeben hat, lässt sich vermuten, dass seine Absicht keine exakte Beschreibung sein sollte. Er hat vielmehr die Schwierigkeit veranschaulicht, den Begriff Öffentlichkeit auf einen allgemeingültigen Nenner zu bringen. Einen weiteren Versuch, dem Öffentlichkeitsbegriff näher zu kommen, hat Niklas Luhmann mit einem frühen Text zur öffentlichen Meinung (Luhmann 1971) vor dem autopoietischen Paradigmenwechsel unternommen. Sein Öffentlichkeitsbegriff ist zwar genauer bestimmt, wie noch zu zeigen sein wird, erregt jedoch Kritik anderer Art:
"Mit seiner [Luhmanns, DH] Terminologie läßt sich jedes Problem darstellen, ohne unbedingt zur Klärung beizutragen (Stöber 1999, S.89)." Bei Luhmann "...gibt es Öffentlichkeit im Sinne eines empirisch beobachtbaren Phänomens nicht mehr... (Raupp 1999, S.113)" Raupp macht Luhmann den Vorwurf, dass sein Öffentlichkeitsbegriff ein rein theoretischer ohne Anwendbarkeit auf die Wirklichkeit sei und damit keinen praktischen Nutzen habe. Stöber geht noch weiter und behauptet dies nicht nur für den Öffentlichkeitsbegriff, sondern für jedes Problem.
Mit dieser Arbeit will ich mich der Frage nach der empirischen Anwendbarkeit des Öffentlichkeitsbegriff Luhmanns stellen. Die Fragestellung lässt sich metaphorisch auch so stellen, ob man mit der Brille "Öffentlichkeitsbegriff Luhmanns" mehr von der Wirklichkeit sieht, als ohne. Als exemplarisches Beispiel habe ich den "Amoklauf von Erfurt mit direkten Reaktionen darauf" im April/Mai 2002 gewählt. Falls ich mit diesem einen Beispiel einen Nutzen im Falle des Öffentlichkeitsbegriffs zeigen kann, ist Raupps These im Sinne Poppers falsifiziert und damit auch die weitergehende These Stöbers.
Inhaltsverzeichnis
- Stellungnahmen aus der Literatur
- Methodische Vorüberlegungen
- Öffentliche Meinung als Themenwissen
- Theoretische Abgrenzung zu Habermas
- Definition des empirischen Themas
- Kontingenz der öffentlichen Meinung
- Kontingenz in sachlicher Hinsicht
- Die Aufmerksamkeitsregeln
- Kontingenz der Aufmerksamkeitsregeln
- Auswirkungen auf politische Entscheidungen
- Kontingenz in zeitlicher Hinsicht
- Die Themenkarriere
- Einzelne Phasen der Themenkarriere
- Zunehmende Anzahl von Meinungen
- Zunehmende Abstraktion von Werten
- Kontingenz in sozialer Hinsicht
- Unterstellbarkeit der Akzeptiertheit von Themen
- Bedeutung der politischen Prominenz
- Umgang mit der öffentlichen Meinung
- Einheit der öffentlichen Meinung
- Kontingenz in sachlicher Hinsicht
- Anwendbarkeit der Theorie
- Anhang
- Quellenverzeichnis
- Grafiken
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der empirischen Anwendbarkeit des Öffentlichkeitsbegriffs von Niklas Luhmann. Im Zentrum steht die Frage, ob die Luhmannsche Perspektive einen Mehrwert für die Analyse der Realität bietet. Dies wird am Beispiel des Amoklaufs von Erfurt im April/Mai 2002 untersucht. Die Arbeit versucht zu zeigen, ob die Luhmannsche "Brille" mehr von der Wirklichkeit erkennen lässt als andere Perspektiven.
- Der Öffentlichkeitsbegriff von Niklas Luhmann
- Die Abgrenzung zur Habermas'schen Konzeption von Öffentlichkeit
- Die Kontingenz der öffentlichen Meinung
- Die öffentliche Meinung als Themenwissen
- Die empirische Anwendbarkeit des Luhmannschen Öffentlichkeitsbegriffs
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer kritischen Betrachtung des Öffentlichkeitsbegriffs und stellt den Luhmannschen Ansatz gegenüber anderen, insbesondere dem von Habermas. Es wird gezeigt, dass Luhmann eine andere Funktion der öffentlichen Meinung sieht, die nicht mehr im Sinne eines politischen Willensbildungsprozesses verstanden wird, sondern als "institutionalisierte Themenstruktur der gesellschaftlichen Kommunikation" (Neidhardt 1989, S. 27). Die folgenden Kapitel untersuchen die Kontingenz der öffentlichen Meinung in verschiedenen Dimensionen: sachlich, zeitlich und sozial. Es wird argumentiert, dass die öffentliche Meinung durch die Art und Weise, wie sie in den Medien thematisiert wird, in ihrer Bedeutung und Interpretation beeinflusst wird.
Schlüsselwörter
Öffentlichkeitsbegriff, Luhmann, Habermas, Themenwissen, Kontingenz, Amoklauf von Erfurt, öffentliche Meinung, Medien, Zeitungsartikel, Süddeutsche Zeitung.
- Quote paper
- Daniel Hess (Author), 2002, Anwendung des Öffentlichkeitsbegriff Luhmanns auf ein aktuelles Öffentlichkeitsthema, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27083