Bindung und Schulbildung. Wie wird Schulbildung von der Bindungsqualität beeinflusst?


Examensarbeit, 2013

71 Seiten, Note: 1,5

Maria Monika Kopfmüller (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

0. Einleitung
0.1. Motivation und Zielsetzung
0. 2. Aufbau

1. Grundlagen
1.1. Grnndlegendes zu Bindung
1.1.1. Historischer Uberblick zur Entstehung der Bindungstheorie
1.1.2. Grundannahmen und Ergebnisse der Bindungsforschung
1.1.2.1. Definition von Bindung und Bindungstheorie
1.1.2.2. Das Bindungssystem
1.1.2.3.Innere Arbeitsmodelle
1.1.2.4. Bindung und Exploration
1.1.2.5. Konzept und Klassifikation der Bindungsqualitat
1.1.2.6. Feinfuhligkeit und Bindungsqualitat
1.1.2.7. Bedeutung der Bindungsqualitat Schutzfaktor
1.2. Grundlegendes zu Schulbildung
1.2.1. Bildungsbegriff heute
1.2.2. Determinanten der Qualitat von Schulbildung

2. Auswirkungen der Bindungsqualitat eines Kindes in der Schule
2.1. Auswirkungen der Bindung auf die kognitive Entwicklung
2.1.1. Hypothesen uber den Zusammenhang von Bindungssicherheit und kognitiver Entwicklung
2.1.1.1. DieBindungs-Explorations-Hypothese
2.1.1.2. DieBindungs-Lehr-Hypothese
2.1.1.3. Hypothese des sozialen Netzwerkes
2.I.I.4. Bindungs-Kooperations-Hypothese
2.1.2. Empirische Belege uber den Zusammenhang von Bindungssicherheit und kognitiver Entwicklung
2.1.3. Resumee
2.2. Auswirkungen der Bindungssicherheit auf die Sozialkompetenz
2.2.1. Zusammenhange von Bindungsqualitat und sozialen Fahigkeiten in der Kindheit
2.2.2. Zusammenhange von Bindungsqualitat und sozialen Fahigkeiten im Jugendalter
2.2.3. Resumee
2.3. Motivationale und emotionale Folgen der Bindungssicherheit
2.3.1. Selbstbild
2.3.2. Emotionen
2.3.3. Leistungsmotivation und Ausdauer
2.3.4. Schlussfolgerungen
2.4. Neurobiologische und medizinische Befunde zur Bindungstheorie
2.5. Resumee

3. Schlussfolgerungen und Konsequenzen
3.1. Forderung von Bindungssicherheit
3.2. Richtiger Umgang der Lehrkrafte mit unterschiedlichen Bindungstypen ihrer Schuler und Schulerinnen
3.2.1. Diskontinuitatserfahrungen nach Julius
3.2.2. Dynamische Lerndreiecke nach Geddes
3.2.3. Lehrkraft als sichere Basis
3.2.4. Resumee
3.3. Integration von Bindung in Bildung
3.4. Abschliefiende Gedanken

4. Literatur

5. Anhang

,,Man erreicht mehr mit einem Blick voll Liebe, mit einem Wort der Ermutigung, das Vertrauen einflofit, als mitvielen Vorwurfen.“ Don Bosco

0. Einleitung

0. 1. Motivation und Zielsetzung

Zahlreiche Versuche werden in unserer heutigen Bildungslandschaft unternommen um schulisches Lernen effektiver zu machen. Ausgelost durch die PISA Studien sind viele wichtige Verbesserungen fur die Schulbildung eingeleitet worden. Jedoch scheint der Blick auf grundlegende Voraussetzungen fur eine gute Schulbildung verstellt: Gesunde, gluckliche Kinder, die Freude am Lernen haben, wachsen zuallererst in Familien heran. Dort werden ihnen alle grundlegenden Fahigkeiten vermittelt, auf welche das Lernen in der Schule aufbauen kann. In einer Familie lernen Kinder Vertrauen, Hilfsbereitschaft und viele andere wichtige Fahigkeiten - oder auch nicht. Ein wichtiges Merkmal einer guten, vertrauensvollen Eltern-Kind-Beziehung ist das Konzept der Bindung, da Bindungen die Grundlage bilden, um soziales Verhalten zu lernen.

In der folgenden Arbeit soll der Einfluss der Bindungsqualitat auf die Schulbildung von Kindern und Jugendlichen untersucht werden.

Die vorliegende Arbeit versucht einen Uberblick uber Aspekte der Bindungsforschung zu geben, welche in Verbindung mit dem schulischen Lernen von Kindern und Jugendlichen stehen. Wie auch bei der Schulleistung spielen bei der Qualitat von Schulbildung individuelle, soziale und schulische Faktoren eine Rolle. In der vorliegenden Arbeit werden auf die individuellen Fahigkeiten des Schulers bzw. der Schulerin, welche im Zusammenhang mit der Bindungsqualitat stehen und gleichzeitig wichtig sind fur schulisches Lernen, eingegangen.

Diese individuellen Fahigkeiten des Schulers lassen sich in kognitive und nicht kognitive Kompetenzen unterscheiden, wobei sich die nicht-kognitiven nochmals ins soziale, emotionale und motivationale Fahigkeiten aufteilen lassen.

Die aktuelle Forschungslage uber Auswirkungen der Bindungsqualitat auf die weitere Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist recht umfassend.

Zahlreiche Studien belegen Einflusse von Bindungssicherheit auf soziale, emotionale, kognitive und psychische Faktoren in der Entwicklung von Kindern. Besonders fur den Bereich der mittleren Kindheit gibt es zahlreiche Studien, doch auch das Jugendalter bis 18 Jahre ist relativ haufig in derartigen Studien untersucht worden. Literatur, welche Bindung im Kontext von Schulbildung betrachtet, ist dagegen relativ wenig vorhanden. Eine wissenschaftliche Arbeit ist in diesem Kontextjedoch hervorzuheben. Die Dissertation von Romer vom Jahr 2008 leistet einen umfassenden Beitrag zu den bislang wenig erforschten Auswirkungen der Bindung auf die Schulleistung von Kindern.

0.2. Aufbau

Im ersten Teil dieser Arbeit sollen die grundlegenden Begriffe Bindung und Schulbildung erlautert werden. Das Konstrukt Bindung soll anhand der Darlegung der Bindungstheorie und der modernen Bindungsforschung zuganglich gemacht werden. Schulbildung soll im Anschluss daran anhand wichtiger Definitionen und dem modernen Bildungsbegriff dargelegt werden.

Der zweite Teil stellt den Hauptteil der Arbeit dar. Hier sollen nun die beiden Konstrukte Bindung und Schulbildung in ihren Zusammenhangen dargestellt werden. Die Hauptthese dieses Teils ist: „Zwischen Bindung und Bildung besteht ein enger Zusammenhang“ (Wettig 2008, S.127). Diese Darstellung wird neben theoretischen Annahmen v.a. viele wissenschaftliche Studien enthalten.

Die aus den herausgearbeiteten Zusammenhangen zwischen Bindung und Bildung folgenden Konsequenzen bilden den abschliefienden Teil der Arbeit.

1. Grundlagen

1.1. Grundlegendes zu Bindung

Nach einem kurzen historischen Uberblick wird auf Grundannahmen der Bindungsforschung und deren wichtigsten Erkenntnisse naher eingegangen.

1.1.1. Historischer Uberblick und Entstehung der Bindungstheorie

Das Konzept der Bindung entstand in den 1950er Jahren durch den Londoner Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1907-1990) und beschaftigt sich mit den fruhen Erfahrungen von Kleinkindern und den Auswirkungen auf ihre spatere Personlichkeitsentwicklung.

Nach dem 2. Weltkrieg erhielt John Bowlby, der bis zu diesem Zeitpunkt Leiter der London Child Guidance Clinic war, von der Weltgesundheitsorganisation den Auftrag, einen Bericht uber die psychische Entwicklung von Kriegswaisen zu verfassen. Die Ergebnisse dieser Forschung, welche er 1951 in seiner Monographie ,,Maternal care and mental health“ mitteilte, liefien ihn zu dem Schluss kommen, dass Kinder, die getrennt von ihren Muttern und unbefriedigt ihrer emotionalen und kognitiven Bedurfnisse aufwachsen, unter schweren nachteiligen Folgen leiden und ein hohes Risiko bzgl. ihrer weiteren gesunden Entwicklung aufweisen: ,,Die einem Kind normalerweise entgegengebrachte Liebe und Freude der Mutter sind Nahrung fur seine Seele“ (Bowlby 1951/2010, S.15). 1969 veroffentlichte Bowlby den ersten Band seiner Trilogie ,,Attachment and Loss“, welche das theoretische Fundament der Bindungstheorie darstellt. Seine Thesen stiefien bei Vertretern der Psychoanalyse auf viel Widerstand, da seine Ideen vielen Teilen der Triebtheorie widersprechen (Bowlby 1958). In der Entwicklungspsychologie wurden Bowlbys Gedanken jedoch aufgegriffen. Beeindruckt von seinen Ideen bildete sich eine Forschungsgruppe um Bowlby, unter ihnen die Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth. Nach langen empirischen Studien in Uganda und Baltimore entwickelte Ainsworth 1969 eine testahnliche, standardisierte Untersuchungssituation mit der die Bindungssicherheit von Kleinkindern erfasst werden kann, den sog. ,,Fremde- Situations-Test“, welcher bis heute von grofier Bedeutung ist.

Weitere empirische Fundierungen von Bowlbys Theorie erfolgten durch eine Vielzahl von entwicklungspsychologischen Langsschnittstudien u.a. von Inge Bretherton, Everett Waters, Alan Sroufe und Mary Main. Letztgenannte konzipierte das sog. „Adult Attachment Interview**, welches ermoglichte, die Bindungserlebnisse und Einstellungen zu Bindung von Erwachsenen zu untersuchen (Brisch 2009).

Die Bindungstheorie und deren Erforschung hat sich seit ihrer Entstehung in den 1950er Jahren vertieft und erweitert. Im deutschsprachigen Raum wurde diese Arbeit v.a. von der Forschungsgruppe unter dem Ehepaar Grossmann und Grossmann geleistet, welche in den breit angelegten Bielefelder und Regensburger Langsschnittstudien die Bindungsqualitat von Sauglingen und deren Auswirkungen fur die weitere Entwicklung bis ins Erwachsenenalter erforschten. Bowlbys Thesen haben sich als richtig erwiesen: „Die Grundannahmen konnten wiederholt bestatigt werden“ (Grossmann und Grossmann 2012, S.100).

1.1.2. Grundannahmen und Ergebnisse der Bindungsforschung

1.1.2.1, Definition von Bindung und Bindungstheorie

Die Bindungstheorie verbindet entwicklungspsychologisches, ethologisches, systemisches und psychoanalytisches Denken. Sie befasst sich mit den grundlegenden fruhen Einflussen auf die ganze weitere Entwicklung des Kindes und versucht die Entstehung und Veranderung von starken affektiven Bindungen zwischen Personen im weiteren Leben zu erklaren (Brisch 2009, S.35).

Bindung wird von den meisten Bindungsforschern als ,,lang andauerndes, affektives Band zu bestimmten Personen, die nicht ohne weiteres auswechselbar sind“ definiert (Fink 2009, S.34). Siegler formuliert dies folgendermaBen: Bindung ist „eine emotionale Beziehung zu einer bestimmten Person, die raumlich und zeitlich Bestand hat“ (Siegler, DeLoache, Eisenberg, Pauen und Grabowski 2008, S. 585). Fur Bowlby ist Bindung jedoch nicht einfach bloB mit einem sozialen Band gleichzusetzen. Fur Bowlby spielt die Mutter die zentrale Rolle fur die Entwicklung eines Kindes:

„In the case of human personality the integrating function of the unique mother- figure is one of importance of which I believe can hardly be exaggerated (Bowlby 1958, S.370). Bowlby betrachtet Mutter und Saugling als Teilnehmer an einem selbstregulierenden System, dem Bindungssystem. Bindung unterscheidet sich von Beziehung dadurch, dass Bindung nur als ein Teil des weitlaufigen Systems von Beziehung verstanden wird. So unterscheidet Bowlby zwischen verschiedenen Rollen der Mutter: Zum einen ist sie Bindungsperson, bei der das Kind bei Angst Schutz sucht, Geborgenheit und Liebe erfahrt sowie durch korperliche Nahe und Stillen ihrem Kind emotionale Verbundenheit schenkt, zum anderen Spielkamerad und Gefahrtin beim Erkunden der Welt, wenn sich das Kind sicher und geborgen fuhlt (Bowlby 1969/1997).

1.1.2.2, Das Bindungssystem

Nach Bowlby verfugen Menschen von Geburt an uber ein genetisch verankertes, motivationales System. Dieses Bindungssystem hat uberlebenssichernde Funktion und wird in Belastungs-, Trennungs- und Gefahrensituationen aktiviert. Es dient dazu, die Nahe zur Bindungsperson zu erhalten oder bei gegebener Distanz wiederherzustellen. Das Bindungsverhalten des Sauglings besteht nach Bowlby aus folgenden funfHauptaspekten: Nuckeln, Weinen, Lacheln, Nachfolgen und Klammern (Bowlby 1988/2010). Bowlbys Postulat eines Bindungssystems konnte durch die Hormonforschung bestatigt werden. Oxytocin ist die biologische Basis fur eine Zunahme des Annaherungsverhaltens und Vertrauens, wahrend Endorphine Wiedervereinigungsverhalten verstarken. Beide Hormone unterstutzen auf diese Weise das Bindungs- und Pflegeverhalten. Oxytocin wird auch als Bindungshormon bezeichnet (Hartmann 2011, S.215).

Die Anwesenheit der Mutter oder primaren Bezugsperson, die dem Kleinkind bzw. Saugling Sicherheit und Schutz vermittelt wird als „sichere Basis“ bezeichnet. Diese Basis ist der Ausgangspunkt, um die Umwelt zu erforschen und eigene Erfahrungen zu sammeln. 1st diese „sicherere Basis“ nicht gegeben hat das Kind weniger Chancen Erfahrungen zu sammeln und somit weniger Moglichkeiten sich weiter zu entwickeln (Bowlby 1988/2010). In der Regel ist auch heute die Mutter die primare Bezugsperson, sodass im Folgenden die Mutter als primare Bezugsperson angenommen wird. In Ausnahmefallen konnen aber auch Vater, GroBeltern oder andere wichtige Personen fur den Saugling zur primaren Bezugsperson werden.

1.1.2.3. Innere Arbeitsmodelle

Ein weiterer wichtiger BegriffBowlbys ist das ,,innere Arbeitsmodell“ der Bindung (Bowlby 1988/2010). Im Laufe der ersten Lebensjahre bildet das Kleinkind innere Modelle des Verhaltens und der damit verknupften Emotionen, und zwar auf der Grundlage von vielen Interaktionserfahrungen, in denen Mutter und Saugling nach einer mehr oder weniger gewichtigen Trennung wieder Nahe zueinander herstellen. Der Saugling, der erfahrt, dass seine Bedurfnisse von der Mutter feinfuhlig wahrgenommen werden, nimmt sein Gegenuber als liebend und Hilfe schenkend wahr und entwickelt mit der Zeit die Gewissheit, dass er selbst liebenswert ist, dass er also selbst der Liebe und der Hilfe wert ist. Diese Erfahrungen verdichten sich mit der Zeit zu Verhaltens- bzw. Emotionsmustern und werden als innere Arbeitsmodelle, oder auch als ,,mentale Bindungsreprasentation“ bezeichnet. Das innere Arbeitsmodell der Bindung beinhaltet kognitive, emotionale sowie motivationale Elemente (Grossmann und Grossmann 2012).

Im Laufe der Entwicklung eines Sauglings stabilisieren sich unter der Voraussetzung bestandiger Erfahrungen mit der Mutter innere Arbeitsmodelle als organisierende Instanz von Bindung und tragen beachtlich zur Interpretation der Erfahrungen mit den Bezugspersonen, zum Umgang mit ihnen und anderen Personen bei. Somit spielen innere Arbeitsmodelle eine aktive und grundlegende Rolle bei der Beeinflussung von Verhalten.

Sind Arbeitsmodelle ausgeformt, existieren sie meist auberhalb des Bewusstseins und neigen zu Stabilitat: Sie werden Teil der Personlichkeitsstruktur (Bretherton 1985). Innere Arbeitsmodelle haben weitreichende Folgen sowohl auf die sozial- emotionale Entwicklung, wobei hier die Entwicklung von Selbstvertrauen und Vertrauen gegenuber den Bezugspersonen zentral ist, als auch auf die kognitive Entwicklung des Individuums. Innerhalb der Arbeitsmodelle entstehen auch Regeln zur Ausrichtung und Organisation von Aufmerksamkeits- und Gedachtnisprozessen. Diese Regeln wirken sich forderlich oder hinderlich auf den Erkenntnisgewinn des Individuums aus (Fremmer-Bombik 1999, S.112).

„The way the attachment figure responds to the child’s basic needs is essential for the development of confidence and security in the self and toward the attachment figure, which will be later generalized to other figures and relationships44 (Bowlby 1988 zitiert nach Soares 2005).

1.1.2.4, Bindung und Exploration

Dem Bindungssystem steht das Explorationssystem komplementar gegenuber. Von Bowlby wird das Explorationssystem als weiteres wichtiges motivationales System bezeichnet. Das Erkundungsverhalten stellt eine eigenstandige Verhaltensklasse dar (Bowlby 1969/1997). Das Kind hat sowohl ein Bedurfnis nach Bindung und als auch ein Bedurfnis nach Exploration. Je alter der Saugling wird, desto haufiger und starker tritt das Explorationsbedurfnis naturgemafi auf. Das Gleichgewicht von Bindung und Exploration wird in einem der inneren Arbeitsmodelle des Kindes abgebildet. Das Zusammenspiel von Bindungs- und Explorationsverhalten kann man sich als motivgeleitete Waage vorstellen. Kann das Kind auf seine Mutter als sichere Basis zuruckgreifen, kann es nach Bowlby optimal seine Umwelt erkunden und aushalten, dass es sich von seiner Mutter entfemt. Fuhlt sich das Kind unsicher, krank, einsam oder uberfordert, so ist das Bindungssystem aktiviert und das Explorationssystem folglich deaktiviert. In diesem Falle hat das Kind ein Bedurfnis nach Schutz und Geborgenheit und hat gleichzeitig kein Interesse zu explorieren. Die Bindungsseite der Waage ist oben, die Explorationssseite der Waage ist unten.

Dagegen ist das Bindungssystem deaktiviert, wenn die Bindungsbedurfnisse des Kindes befriedigt sind, sich das Kind also wohl und sicher fuhlt. Es hat folglich Lust "die Welt zu erkunden": Sein Explorationssystem ist aktiviert. Die Explorationsseite der Waage ist oben, wahrend sich die Bindungsseite der Waage unten befindet. Die beiden Systeme entspringen also entgegengesetzten Motivationen und sind wechselseitig voneinander abhangig (Grossmann und Grossmann 2012).

Die Selbststeuerung des Sauglings in Bezug aufDistanz und Nahe zur sicheren Basis wird von einer feinfuhligen Bindungsperson akzeptiert. Wenn sich das Kind in Sicherheit weifi, ist sein Explorationsverhalten vorprogrammiert, es muss nicht erzwungen werden. Gleichzeitig braucht ein Saugling altersgemafien Spielraum fur seine Explorationsbedurnisse und soll nicht daran gehindert werden (Brisch 2009, S.39).

1.1.2.5, Konzept und Klassifikation der Bindungsqualitat

Die kindliche Bindungsqualitat wurde erstmals mithilfe des bereits erwahnten Fremde-Situations-Tests von Mary Ainsworth untersucht. Dieses Messinstrument erwies sich nach Anwendung in verschiedenen Landern und Schichten als valide und reliabel. Die Bindungsqualitat kann in drei Kategorien und eine Zusatzkategorie klassifiziert werden: die sichere Bindung zwischen Mutter und Kind, die unsicher-vermeidende sowie die unsicher-ambivalente Bindung. Hinzu kommt die desorganisiert-unsichere Bindung.

Sicher gebundene Kinder zeichnen sich durch einen offenen emotionalen Ausdruck gegenuber der Bindungsperson aus. Bei Belastung und Angst suchen sie schnell Nahe und Schutz und konnen dies auch angemessen kommunizieren. Bei stressauslosenden Situationen beruhigen sie sich mithilfe der primaren Bezugsperson rasch und sind wieder schnell offen fur neue Exploration.

Kinder mit unsicher-vermeidender Bindung vermeiden Kontakt und Nahe zur Bezugsperson und beschaftigen sich als Ersatzhandlung lieber mit Objekten. Sie sind nicht fahig ihrer emotionalen Belastung Ausdruck zu verleihen. Die Balance zwischen Bindung und Exploration wird hier zu Gunsten der Exploration gestort.

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeichnen sich durch ubermabige emotionale Erregbarkeit aus und lassen sich nur schwer beruhigen. Sie zeigen ein ambivalentes Verhalten von Nahesuchen und argerlichen Widerstand gegen Kontakt, dies wirkt sich oft dahingehend aus, dass sie zwar Trost suchen, diesen aber nicht annehmen konnen. Dies hat zur Folge dass sie bezuglich der Exploration sehr passiv sind, da sie zu stark von bindungsbezogenen Herausforderungen abgelenkt sind.

Bei der Zusatzklassifikation der unsicher-desorganisierten Bindung weisen die Kinder widerspruchliche, uneinheitliche Bindungsverhaltensstrategien und kurze, bizarre Verhaltensweisen, wie z.B. ,,Einfrieren“ des Gesichts oder Korpers auf (Zimmermann 2000b).

Dabei stellt sich immer mehr heraus, dass diese unterschiedlichen Bindungsqualitaten ein Kontinuum darstellen, welches von der sicheren Bindung uber die unsicher-ambivalente und unsicher-vermeidende Bindung bis hin zur unsicher-desorganisierten Bindung und schliefilich zur Bindungsstorung reicht (Brisch 2009, S.22).

Diese Bindungstypen sind uber Lander und Kulturen hinweg weitgehend stabil. In westlichen Industriegesellschaften sind etwa zwei Drittel der Kinder sicher gebunden (Grossmann und Grossmann 2012).

1.1.2.6. Feinfuhligkeit und Bindungsqualitat

Das Konzept der Feinfuhligkeit wurde im Wesentlichen von Mary Ainsworth entwickelt, die als erste feststellte, dass feinfuhliges Verhalten der Bindungsperson fur die Entwicklung einer sicheren Bindung in den ersten Lebensjahren von groBer Bedeutung ist. Feinfuhliges Verhalten besteht im aufmerksamen und richtigen Wahrnehmen der kindlichen Signale und deren richtige Interpretation sowie in einer prompten und angemessenen Reaktion, die Liebe und Zuneigung widerspiegelt (Ainsworth, Blehar, Waters und Wall 1978). Feinfuhliges Verhalten unterscheidet sich von Uberbehuten und Verwohnen dadurch, dass das Kind durch seine Eltern in seiner altersgemaBen Autonomie und seinen zunehmenden Kommunikationsfahigkeiten gefordert wird. Nach Auffassung der Bindungstheorie bildet die Feinfuhligkeit der Bezugsperson ein wichtiges Fundament fur die Qualitat der Bindung, die das Kind im Laufe seiner ersten Lebensjahre entwickelt (Brisch 2009).

Dies wurde mehrfach und zuletzt durch eine weitere Studie 2012 bestatigt. Beijersbergen und Mitarbeiter konnten in ihrer Langsschnittstudie mit 125 Kindern feststellen, dass die feinfuhlige Unterstutzung von Seiten der Mutterfigur das Fortbestehen der Bindungssicherheit noch bis zum 14. Lebensjahr des Kindes in hohen MaB beeinflusst (Beijersbergen, Juffer, Bakermans-Kranenburg und van Ijzendoorn 2012).

Im Gegensatz dazu ist Mutterentbehrung nach Bowlby in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes ein groBes Risiko fur die Bindungssicherheit von Kindern. Bowlby spricht von dem ,,absolute[n] Bedurfnis von Sauglingen und Kleinkindern nach der kontinuierlichen Zuwendung der Mutter“ (Bowlby 1951/2010, S.15) und von der Notwendigkeit anzuerkennen, ,,dass es immer eine ernste Angelegenheit ist, ein Kind unter drei Jahren von seiner Mutter zu trennen; nur aus guten und ausreichenden Grunden ist man dazu berechtigt“(Bowlby 1951/2010, S.15). Auch wenn dies in vielen Teilen unserer Gesellschaft unannehmbar erscheint, stellen dauerhafte Aufenthalte von unter dreijahrigen Kindern in Kindertageseinrichtungen ein nicht zu unterschatzendes Risiko fur die Bindungssicherheit von Kindern dar (Brunner 2007, Meves 2008).

Weitere Faktoren, die eine gute Bindungsqualitat fordern, sind Korperkontakt und Stillen. Bei beiden wird in hohem Mafi das Bindungshormon Oxytocin ausgeschuttet. Dieser Umstand tragt unterstutzt durch die Ausschuttung von Pheromonen, welche ermoglichen, dass der Saugling seine Mutter am Geruch eindeutig von anderen Frauen unterscheiden kann, zu einer sicheren Bindung bei (Hartmann 2011, Meves 2008).

Auch die elterliche Partnerschaftsqualitat, insbesondere das Mafi an liebevollem Umgang und guter Kommunikation der Eltern untereinander, (Werneck 2007) sowie das Temperament des Kindes (Grossmann und Grossmann 2012) spielen eine Rolle bei der Entwicklung von Bindungssicherheit.

1.1.2.7, Bedeutung der Bindungsqualitat als Schutzfaktor

Die langjahrige Durchfuhrung des ,,Fremde-Situations-Test“ ermoglichte zahlreiche Langsschnittstudien, die das Bindungsverhalten als Pradikator fur spateres Beziehungsverhalten nennen. Diesen Studien zu Folge hangt die Bindungssicherheit eindeutig mit spateren psychischen, sozialen und kognitiven Fahigkeiten zusammen (Siegler, DeLoache, Eisenberg, Pauen und Grabowski 2008). Alle Bindungsforscher sind sich daruber einig, wie wichtig innere Arbeitsmodelle fur die Entwicklung der Personlichkeit des Kindes sind: Sie ,,steuern die Wahrnehmung, Interpretation und Ausbildung von Erwartungen, die Regulation der entstehenden Gefuhle und des daraus entstehenden Verhaltens“ (Zimmermann 2000a, S. 121). Dies hat Auswirkungen auf die ,,Gestaltung von Beziehungen, auf die Ausbildung von Selbstwert und auf die Fahigkeit, auch bei emotionaler Belastung eigene Ziele verfolgen zu konnen, sich dabei als aktiv bewaltigend und selbstwirksam zu erleben bzw. sich dabei Hilfe holen zu konnen” (Zimmermann 2000a, S. 121).

Eine gute Bindungsqualitat ist ein wichtiger Pradikator fur die Resilienz eines Kindes im ganzen weiteren Leben. Dabei durfenjedoch Umwelteinflusse und individuelle Faktoren nicht unbeachtet bleiben (Fink 2009). Auch die Neurobiologie untermauert, dass Bindungssicherheit lebenslang Auswirkungen auf die Personlichkeit des Kindes hat. Neurobiologische Erkenntnisse bezuglich der Bindungsforschung werden unter Punkt 2.4. noch genauer erlautert.

So lasst sich abschliefiend festhalten, dass eine sichere Bindung ein zentraler Schutzfaktor in belastenden Lebensabschnitten ist, wahrend unsichere Bindungsorganisationen einen grofien Risikofaktor fur die Entwicklung eines Kindes darstellen. ,,Eine sichere Bindung ist keine Garantie fur lebenslanges Wohlbefinden, doch scheint sie ein wichtiger Schutzfaktor zu sein“ (Fremmer- Bombik und Grossmann 1993, S.99).

1.2. Grundlegendes zu Schulbildung 1.2.1. Bildungsbegriff heute

Der Bildungsbegriff hat im Laufe der Geschichte zahlreiche Auslegungen erfahren und sich immer wieder verandert. Im Folgenden sollen zwei Meilensteine der Geschichte dieses Begriffs hervorgehoben werden. Wilhelm von Humboldt, der als Sektionsleiter fur Kultus und Unterricht im preuBischen Innenministerium im 19. Jahrhundert groBen Einfluss auf das deutsche Bildungssystem hatte, entwickelte eine Bildungstheorie, die davon ausgeht, dass Bildung nicht der bloBe Erwerb von nutzlichem Wissen ist. Bei der Bildung des Menschen geht es nach Humboldt darum, dass der Mensch seine inneren Krafte des Denkens und Handelns an den 'Dingen der Welt' starkt und somit durch die Veredelung der eigenen Person die Idee der Menschheit auspragt. Der Neuhumanist Humboldt stellte die hochste und vielseitige Bildung des Individuums, seine Selbstbildung und Selbstvollendung und nicht die gesellschaftliche ZweckmaBigkeit in den Mittelpunkt von Bildung. Daher verlangte Humboldt, dass das Ziel von Bildungseinrichtungen ,,allgemeine Menschenbildung“ und nicht nutzlichkeits- und wirtschaftsbezogene Ausbildung sei. Diese strikte Trennung von Bildung und Ausbildung hat bis heute in vielen Bereichen unseres Schulsystems Geltung (Wiater 2009, 316).

Eine wichtige Neuausrichtung erfuhr der Bildungsbegriff in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Wolfgang Klafkis ,,Bildungstheoretische Didaktik“ und deren kategoriale Bildung. Klafkis kategoriale Bildung ist die Integration formaler und materialer Bildung im Sinne einer doppelseitigen ErschlieBung (Klafki 1994). Unter formaler Bildung versteht man die ,,Entwicklung und Formung der inneren Krafte und Befahigungen des Heranwachsenden wie z.B. selbststandiges Denken, Problemlosen, Urteilen und Argumentieren, methodisches Vorgehen, Selbstbeherrschung, Zivilcourage, Teamfahigkeit, Kooperationsbereitschaft, Flexibilitat, permanente Lernbereitschaft“ (Wiater S.315). Materiale Bildung hingegen ist Aufnahme von Wissen und Verfugen uber Wissensinhalte.

Die Schule gilt gewohnlich als Bildungsinstitution. Nach den Lehrplanen des bayerischen Schulwesens ist die Vermittlung von Allgemeinbildung Aufgabe der verschiedenen Schulformen - in ihrer je spezifischen Art und Weise. Grundschule, Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Gesamtschule werden als allgemeinbildende Schulen bezeichnet und der Schwerpunkt ihres Bildungsauftrags liegt im Unterschied zu den berufsbildenden Schulen auf der Allgemeinbildung. Nach Klafki umfasst Allgemeinbildung drei Aspekte:

1. Allgemeinbildung ist Bildung fur alle ohne Unterschied der Herkunft, der Geburt, der gesellschaftlichen Klasse oder des Geschlechts.
2. Allgemeinbildung ist allseitige Bildung, d.h. Bildung ist in allen Grunddimensionen menschlicher Fahigkeiten zu verstehen, u.a. als Bildung der kognitiven, handwerklich technischen, sozialen, emotionalen Moglichkeiten des Menschen.
3. Allgemeinbildung ist Bildung im Medium des Allgemeinen, namlich im Gesamtzusammenhang der uns umgebenden Welt (Klafki 1994).

Der moderne Bildungsbegriffbeinhaltet als zentrale Komponenten sachgerechtes Weltverstehen, individual- soziales Selbstverstehen und Fremdverstehen sowie verantwortliche Weltgestaltung mithilfe kritischer Vernunft und auf der Basis von freier und solidarischer Selbstverwirklichung (Wiater 2009 S.315). Diese Komponenten spiegeln die Aufteilung von Bildung in Sachbildung, Selbstbildung und sozialer Bildung wieder. Nach Wiater verbindet Bildung Wissen mit Haltung und Verhalten. Wissen allein ist noch keine Bildung. Bildung hat vielmehr zur Aufgabe eine grundlegende Kenntnis aller wichtigen Bereiche des heutigen Lebens sowie die Fahigkeiten zu eigenverantwortlichem Wissensmanagement zu vermitteln. Bildung ist ein lebenslanger Lernprozess und hat die mundige Personlichkeit eines Menschen zum Ziel (Wiater 2009, 334).

Eine wichtige Neuerung des deutschen Bildungssystems war die 2003 beginnende Einfuhrung von national verbindlichen Richtlinien der Schulbildung, den sog. Bildungsstandards. Hierbei spielt der Kompetenzbegriff eine grofie Rolle. Franz Weinerts Definition von Kompetenz bildet die Grnndlage fur die Kompetenzmodelle der Bildungsstandards: Kompetenzen sind „die bei Individuen verfugbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fahigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu losen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fahigkeiten, um die Problemlosungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu konnen“ (Weinert 2001, S.27f.). Weinerts Definition des Kompetenzbegriffes umfasst neben kognitiven Fahigkeiten auch motivationale, soziale und volitionale Aspekte, die stark situationsspezifisch ausgerichtet sind. Eine Erweiterung gegenuber Weinerts Kompetenzbegriff stellen die Sozialkompetenz und die Selbstkompetenz als eigenstandige Kompetenzen dar.

Bei dem Versuch, ,,Kompetenz“ weiter zu spezifizieren und fur die Schule zu konkretisieren, ergibt sich das Problem der Einteilung in abgrenzbare Kategorien. Je nach Blickwinkel lassen sichjedoch Kompetenzdimensionen herausarbeiten, die unterschiedliche Aspekte beschreiben. Das Staatsinstitut fur Schulqualitat und Bildungsforschung unterscheidet die drei Hauptkategorien Sachkompetenz, Selbstkompetenz und Sozialkompetenz:

Sachkompetenz wird als Befahigung und Bereitschaft definiert, Aufgaben und Probleme mit Hilfe fachlicher Kenntnisse und Fertigkeiten sachgerecht und selbststandig zu bewaltigen sowie das Ergebnis zu beurteilen.

Unter Selbstkompetenz versteht man die Befahigung und Bereitschaft, eigene Begabungen und Fahigkeiten zu erkennen und zu entfalten sowie Identitat und Wertvorstellungen zu entwickeln. Sie umfasst Eigenschaften wie Selbststandigkeit, Konzentrationsfahigkeit, Selbstvertrauen, Zuverlassigkeit, Leistungsbereitschaft sowie Kritikfahigkeit.

Sozialkompetenz meint die Befahigung und Bereitschaft, soziale Beziehungen aufzubauen und weiterzuentwickeln sowie sich mit anderen rational und verantwortungsbewusst auseinander zu setzen und zu verstandigen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 71 Seiten

Details

Titel
Bindung und Schulbildung. Wie wird Schulbildung von der Bindungsqualität beeinflusst?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Fakultät für Psychologie und Pädagogik- Lehrstuhl für Schulpädagogik)
Note
1,5
Autor
Jahr
2013
Seiten
71
Katalognummer
V271274
ISBN (eBook)
9783656623380
ISBN (Buch)
9783656623007
Dateigröße
1458 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bindung, Bildung, Explorationsfähigkeit
Arbeit zitieren
Maria Monika Kopfmüller (Autor:in), 2013, Bindung und Schulbildung. Wie wird Schulbildung von der Bindungsqualität beeinflusst?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/271274

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