Zu Arno Schmidts "KAFF auch Mare Crisium"


Essay, 2003

15 Seiten


Leseprobe


Arno Schmidts „KAFF auch Mare Crisium“

Arno Schmidt wurde 1914 geboren, arbeitete als graphischer Lagerbuchhalter, musste als Soldat im Zweiten Weltkrieg von 1940 bis 1945 dienen und begründete 1947 seine Existenz als freier Schriftsteller. Seine finanziellen Verhältnisse besserten sich erst ab Mitte der 50er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Ein sorgenfreies Leben, durch einen Mäzen finanziert, wie Schmidt es sich in seinen Arbeiten vorgestellt hat, wurde 1977 durch Jan Philipp Reemtsma ermöglicht. Aus dieser Unterstützung entstand jedoch nur mehr ein letztes Romanfragment: „Julia, oder die Gemälde“, das nach Schmidts Tod erschien.

Schmidts Werk bietet zahlreiche Erzählungen, literaturhistorische, in Dialogform geschriebene Essays für das Radio, biographische Arbeiten wie die über Karl May („Sitara“) und Friedrich de la Motte Fouqué („Fouqué und einige seiner Zeitgenossen“), ein Lesedrama, Romane und die späten Prosatexte nach 1970, die sich einer Kategorisierung entziehen.

In der deutschsprachigen Literaturgeschichte nach 1945 nimmt Schmidt eine eigenartige Position ein: wesentlich populärer als er sich und sein Werk selbst einschätzte, erreichten seine Bücher aber bis in die 70er Jahre nur Auflagen von wenigen Tausend Stück. Schmidts eigentliches finanzielles Standbein sind lange Zeit einerseits Erzählungen und Artikel, die er für Zeitschriften bis in die 60er Jahre hinein schreibt, andererseits Übersetzungen aus dem Englischen (Edgar Allan Poe, Wilkie Collins, James F. Cooper), an deren Verkaufseinnahmen er später auch prozentuell beteiligt ist. Auch langfristig betrachtet ist der Verkauf von Schmidts Büchern relativ gering: so beträgt die Auflage für die Taschenbuchausgabe von „KAFF auch Mare Crisium“ laut Verlagsangabe von 1970 bis 1994 42.000 Stück, wobei zu bemerken ist, dass mehr als die Hälfte dieser Bücher in den ersten 5 Jahren auf den Markt geworfen wurden: 25.000 Stück von 1970 bis 1975. Dadurch lässt sich ablesen: wenn es einen Zeitpunkt gegeben hat, zu dem Schmidt kurz davor war, berühmt und auch verkaufskräftig zu sein, dann zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. 1970 hatte Schmidt ein Werk veröffentlicht, dass ohne Zweifel einen Solitär der deutschsprachigen Literatur darstellt: „Zettels Traum“, ein Buch von etwa 1300 Seiten, in drei Spalten geschrieben, von denen eine sich mit der Deutung und Übersetzung des Werks von Egdar Allan Poe beschäftigt, eine weitere den Inhalt einer Zusammenkunft von älteren Poe-Fans darstellt, und eine dritte Spalte den Gedankenspielen der Hauptperson gewidmet ist. Wahrscheinlich war es die schiere Größe des Werks, das es schnell zu einem Kultbuch werden ließ. Die Erstauflage (zu einem stolzen Preis von 298 DM pro Stück) war bald vergriffen, ebenso ein Raubdruck, der kurz darauf stattfand. Erst in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts folgte eine weitere Ausgabe zu einem horrenden Ladenpreis, eine „Taschenbuchausgabe“ zu einem erschwinglichen Preis erschien im Jahr 2002.

„Zettels Traum“ ist trotz seiner Bekanntheit merkwürdig folgenlos geblieben. Schmidt scheint in der Literatur das geworden zu sein, was er auch im realen Leben war: ein Einzelgänger, eine Einzelerscheinung. Eine Repopularisierung Schmidts in den 90er Jahren stand letztlich unter keinem guten Stern: der Schweizer Haffmanns Verlag übernahm es, das Gesamtwerk Schmidts herauszugeben und zu teils wirklich günstigen Preisen zu veröffentlichen. Leider wurde dieser Aktion durch den Konkurs von Haffmanns ein abruptes Ende gesetzt, mit Haffmanns verschwand auch wieder die Gesamtausgabe Schmidts aus den Buchhandlungen. Heute ist es der Fischer-Verlag, in dem Schmidts Werk weiterlebt und kritisch betreut und veröffentlicht wird.

Einen Wendepunkt in Arno Schmidts Arbeit stellt sein Roman „KAFF auch Mare Crisium“ dar. Das Buch erschien 1960 im Stahlberg-Verlag, es war Schmidts vierter Roman nach den beiden „Kurzromanen“ „Aus dem Leben eines Fauns“ und „Die Gelehrtenrepublik“ und dem „Historischen Roman aus dem Jahre 1954“: „Das steinerne Herz“. „KAFF“ ist hervorgegangen aus einer Beschäftigung Schmidts mit dem Astronomen Johann Hieronymus Schroeter, über den er einen Roman verfassen wollte, der nach Schroeters Wirkungsstätte Lilienthal benannt werden sollte: „Lilienthal, oder die Astronomen“. Die erste Idee dazu kam Schmidt Ende der 40er Jahre und noch kurz vor seinem Tod wollte er seinen literarischen Plan umsetzen, entschied sich dann aber dafür, „Julia, oder die Gemälde“ zu beginnen.

„KAFF“ ist End- und Anfangspunkt zugleich: es ist Schmidts letzter Roman, der noch normal gesetzt gedruckt erscheinen konnte. Im Anschluss an „KAFF“ ging Schmidt dazu über, die althergebrachte Form der graphischen Darstellung eines Prosatextes (der Text in Zeilen gegliedert, die mehr oder weniger die ganze Breite einer Seite ausfüllen, deren Anfang und Ende gerade nach unten verlaufen) aufzuheben und seine Texte in Spaltenform zu verfassen. Veröffentlicht wurden diese Texte nur noch als Typoskript: Wiedergaben von Schmidts Manuskriptseiten samt handschriftlichen Einträgen und Verbesserungen. Ein einzigartiger Fall in der deutschsprachigen Literatur.

Gleichzeitig kündigt „KAFF“ die neue Form, wenn auch in etwas verhaltener Weise, an: der Text ist ebenfalls optisch strukturiert: der zweite Handlungsstrang des Romans, der auf dem Mond spielt, wird optisch hervorgehoben, indem der Textblock nach rechts verschoben wird. Bei aller bewussten thematischen und inhaltlichen Überschneidung bleibt dem Leser so stets bewusst, auf welcher Zeitund Ortsebene er sich befindet.

Die optische Auflösung des Textes spiegelt bereits ein Grundmuster des Romans: seine zahlreichen Verflechtungen, die sowohl von Anziehung wie auch von Abstoßung charakterisiert sind. Grob betrachtet gibt es zwei Handlungsstränge. Der erste davon ereignet sich 1960 in der Nähe von Celle (einer Wohngegend von Schmidt) in dem winzigen Ort Giffendorf. Dort besucht Karl Richter gemeinsam mit seiner Geliebten Hertha Theunert Karls Tante, genannt Tante Heete (im Buch wiederholt als TH bezeichnet). Tante Heete lebt nach dem Tod ihres Mannes allein, der Besuch ihres Neffen erfreut sie dementsprechend. Äußerlich bietet das Wochenende am Land wenig Handlung: Karl und seine Tante führen Gespräche, am Abend besuchen Karl und Hertha die Theateraufführung einer Amateurtruppe im Gasthaus, am nächsten Tag unternehmen beide einen Ausflug in die Kirche eines nahegelegenen Ortes, schließlich fährt die Tante mit Hertha nach Celle. Letztlich bietet die Tante beiden an, zu sich zu ziehen. Die Antwort bleibt offen, das Paar fährt zunächst einmal zurück in sein gewohntes Leben. Die bewusste Eintönigkeit dieses Handlungsablaufes, der die Einförmigkeit des Landlebens schildert, steht jedoch in krassem Gegensatz zu der inneren Handlung. Treten Karl und Hertha zunächst als Liebespaar auf, so wird schnell klar, dass diese Liebe eine fragliche oder zumindest äußerst fragile ist. Deutlich wird dies beim Thema der Sexualität, das fast ständig präsent ist. Karl begehrt Hertha körperlich, diese weist ihn jedoch fast immer ab. Die Vorstellungen von Häufigkeit und Intensität einer körperlichen Beziehung könnten nicht unterschiedlicher verkörpert sein: Karl will praktisch immer, sobald er und Hertha allein sind. Herta will scheinbar - glaubt man Karls Aussagen - nur selten, da sie sich nicht von ihrer Schamhaftigkeit lösen kann und von der verinnerlichten Einstellung, Sex sei etwas Schmutziges. Es ist durchaus berechtigt, Karl in dieser Frage mangelnde Sensibilität vorzuwerfen. Charakteristisch dafür ist seine kalte Schilderung des sexuellen Missbrauchs, der an Herta begangen wurde, als diese 16 war:

<Passiert> war ihr ansonstn damals nichts weiter; sie hatte, 1945, mit 16, so klein & dürr & blutarm ausgesehen, wie 1 Zehnjährije. Nur als sie in ´ n Westen rüberwexeltn, hatte 1 Pole=Star, nach Armbanduhren & Ringen lüstern, ihr den Mittelfinger ins Unterernährte reingeschteckt - das vergaßsie Rappatzkie ´ s nie! (Einerseiz mit Recht. Andererseiz ist jener Plan natürlich ...) 1

Geschildert wird diese Episode, weil Herta kurz vorher nachts offensichtlich aus einem Albtraum völlig verstört aufgewacht ist, in dem ihr dieser Missbrauch ihres damals ohnehin ausgemergelten Körpers wieder in Erinnerung gerufen wurde. Karl ist jedoch außerstande, diesen Vorfall tatsächlich als Missbrauch anzusehen, geschweige denn, ihm langwierige Folgen zuzugestehen, die auch 14 Jahre später noch auf Hertas Sexualverhalten wirken könnten. Tante Heete ist in dieser Hinsicht ebenfalls wenig empfindlich. Zum Stichwort „Vergewaltigung“ fällt ihr ein, dass sie und ihr Mann auch einmal eine Vergewaltigung durchspielen wollten, mit dem Ergebnis, dass ihr Mann, der sich dabei größte Mühe gegeben hat, zwei Tage lang im Bett bleiben und sich erholen musste. Fazit:

Also <vergewaltijen>, mein Jung: entweder mußDu vorher der Frau 1 midde Akckstübern Kopp geebm. Oder es mußnoch Einer middn geladn ´ n Gewehr daneben s=thehen, daßsie aus Anxd leßt. Aber sonns? - Opwohl ´ n Mann, im Allgemein ´ n, ja kräfftijer iss - aber in diesn=s=pehziellen Fall hadder keine Schangßn. 2

Selbst wenn man miteinbezieht, dass Tante Heete zwei Weltkriege mitgemacht hat und immer wieder als kräftig beschrieben wird, erstaunt doch diese Aussage, ebenso, dass Schmidt sie einer Frau unwidersprochen in den Mund legt. Generell missbilligt Tante Heete Herthas Sexualverhalten: aber nicht, weil es zu ausschweifend wäre, sondern im Gegenteil, weil sie sich nicht auf Sex mit Karl einlässt. Auf Karls Bemerkung, Hertha fände Sex erniedrigend, muss Tante Heete um Fassung ringen. „Sonn dummes Dink!“3 ist ihre Reaktion und sie verweist stolz darauf, dass es die Frau ist, die den Mann körperlich fertigmacht beim Sex: „ Den hädd´ich sehen mögen, Der nich s=pädestns binn´ n ainer S=tunnde auf alln Viern von main´ Bett weck gekrochn wär!“4 Aber nicht nur Herthas Zurückhaltung in sexuellen Dingen ist Tante Heete suspekt, es gibt noch zwei andere Eigenheiten an Hertha, die ihr missfallen: zum einen, dass sie keine „Schönheit“ ist, „Weeder in ´n Gesichd, noch <hier>, - “5, womit offensichtlich Herthas auch später beschriebene geringe Oberweite gemeint ist. Und zum anderen, dass Hertha keine gute Hausfrau ist. Karls Erwiderung auf diese Vorwürfe fällt matt aus: er nimmt Hertha nicht in Schutz, sondern führt ihre schwierige Kindheit an, die mangelnde Erziehung, die fehlende Mutter, die mit dem Liebhaber nach Bolivien durchgebrannt ist, die harte Kriegs- und Nachkriegszeit und schließlich ihr „Naturell“: Schüchternheit und Verschrobenheit, wobei unter Verschrobenheit zu verstehen ist, dass Hertha in ihrer Sexualität durch stets vorhandene, wahrscheinlich auch religiös motivierte, Schuldgefühle gebremst wird.6 Mangelhafte Ernährungsgewohnheiten, Pulverkaffee und ungepflegte Hände sind da nur Kleinigkeiten in Karls Anklage gegenüber Hertha, die eigentlich eine Verteidigung sein sollte. Letztlich stellt sich heraus, dass Karl hauptsächlich zwei Gefühle mit Hertha verbindet: sein körperliches Verlangen und das Gefühl der Not. In seinem Alter, wirtschaftlich und beruflich gescheitert, herzkrank, mit geringer Lebenserwartung, bleibt ihm nichts anderes übrig als sich mit Hertha zu begnügen.7

Übersehen wird von Karl auch, dass Hertha Anzeichen von Depression zeigt. So bricht sie zweimal in Tränen aus, einmal wegen der naturalistischen Darstellung körperlicher Vorgänge durch Karl, das zweite Mal, weil Karl sich in seiner Fantasie als Vortragender „für Erwaxene>? Wenn nich gar <Nur für Herren>“8 sieht und damit eine seiner zahlreichen sexuellen Anspielungen fallen lässt. „ Ich wär´ am liepstn gar =nimmer: die Welt iss zu viel für ann Menschn.“ sagt Hertha kurz vor ihrem zweiten Weinen in einer Kirche. Wiederum kurz vorher hat Hertha in einem Ausbruch mit Karl abgerechnet:

Manchmal hasDe mich so weit , daßich ans Schlußmachen denk. - Ich komm mit Dir nie klaar: einerseiz brauchsD úüberhaupt keen ´ Menschn; Du kannsDich mit Dei ´ m eigenen Kopp ammüsiern; (...) Du hast keene Seele. 9

[...]


1 Arno Schmidt: KAFF auch Mare Crisium. Fischer Taschenbuch Verlag: Frankfurt / Main, 1994, S. 171. 3

2 Ebda., S. 201.

3 Ebda, S. 200f.

4 Ebda., S. 201.

5 Ebda., S. 201.

6 Ebda., S. 202f.

7 Ebda., S. 203f.

8 Ebda., S. 251.

9 Ebda., S. 222f.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Zu Arno Schmidts "KAFF auch Mare Crisium"
Hochschule
Univerzita Komenského v Bratislave  (Pädagogische Fakultät)
Veranstaltung
Germanistik
Autor
Jahr
2003
Seiten
15
Katalognummer
V272122
ISBN (eBook)
9783656633655
ISBN (Buch)
9783656633617
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
arno, schmidts, kaff, mare, crisium
Arbeit zitieren
Dr. Jürgen Neckam (Autor:in), 2003, Zu Arno Schmidts "KAFF auch Mare Crisium", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272122

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