Die im vorliegenden Band reproduzierten Modestiche sind in den Jahren zwischen 1867 und 1878 in dem französischen Modemagazin „Le Conseiller des Dames et des Demoiselles” erschienen. Die Mode machte in dieser Zeit eine außerordentliche Wandlung durch, auf die diese Arbeit im Detail eingeht.
Annette F. Bolzius begeisterte sich schon als Kind für Musik und Sprachen. So folgten nach dem Abitur ein Musikstudium und Übersetzer-Sprachstudium (Französisch, Englisch). Nach langjährigen Tätigkeiten als Übersetzerin und Jugendmusikschullehrerin arbeitet sie bereits seit vielen Jahren als Sprachdozentin. Dabei ist es ihr besonders wichtig, die Freude an Sprachen mit einem spielerischen und muttersprachlichem Ansatz zu fördern und zu vermitteln.
Bei GRIN ist bislang ein weiteres Buch von ihr erschienen: "Chante avec moi" (https://www.grin.com/document/985633; ISBN: 978-3-34633-883-9)
Inhaltsverzeichnis
Politik und Gesellschaft in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Einfluss des Modemachers Worth auf die Mode
Der AktionsradiusderFrauen
Die Entwicklung der Mode von ca. 1850 bis 1880
Stoffe und Verzierungen
Schmuck
Architektur und Inneinrichtung
Krinoline
Tournüre
Material
Farben
Unterbekleidung
Schuhe
Haar und Hutmode
Überkleidung und Oberbekleidung
Jahre des deutsch französischen Krieges
Nachkriegsjahre
Anfang der siebziger Jahre: die Tournüre
Mitte der siebziger Jahre: die schlanke Linie
Das zweiteilige Kleid
Unterbekleidung
Morgenbekleidung
Herrenmode
Kinderkleidung
Karneval
Spielzeug
Accessoirs (für Kinder und Erwachsene)
Modezeitschriften
Jules David und der “Moniteur de la Mode”
Blütezeit der Modezeitschriften
Modebildkünstlerinnen
Modebilder
Textteil der Modezeitschriften
Bibliographie
Politik und Gesellschaft in der2. Hälfte des 19. Jahrhunderts
Die im vorliegenden Band reproduzierten Modestiche sind in den Jahren zwischen 1867 und 1878 in dem französischen Modemagazin „Le Conseiller des Dames et des Demoiselles”1 erschienen. Die Mode machte in dieser Zeit eine außerordentliche Wandlung durch. Parallel dazu gab es auf auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene tiefgreifende Umwälzungen. Seit 1852 herrschte Napoleon III als Kaiser der Franzosen im sogenannten Second Empire. Der Glanz dieses Zweiten Kaiserreichs sollte durch prachtvolle Bauten wie die Pariser Oper ausgedrückt werden. Außerdem entstanden unter der Leitung von Georges-Eugène Haussmann die berühmten Pariser Boulevards und Ringstraßen, die die alten Elendsviertel ersetzten. Während des Second Empire fanden in Paris zwei Weltausstellungen (1855 und 1867) statt, in denen Frankreich als bedeutende Industrienation auftrat. Diese Zeit der industriellen Entwicklung wurde auch durch die Bildung neuer Gesellschaftsschichten, nämlich derjenigen der Industriellen und der Arbeiter, geprägt.
Das Zweite Kaiserreich endete nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870-1871), d.h. mit der Niederlage Frankreichs bei Sedan und der Ausrufung der Dritten Republik im September 1870. Der Krieg ging aber mit der Belagerung von Paris durch die Deutschen im Winter 1870/71 weiter. Während dieser Zeit und auch während der Commune, des Bürgerkriegs zwischen der konservativen französischen Regierung und der sozialistischen Selbstverwaltung von Paris von Februar bis Mai 1871, spielten die Arbeiter und zunehmend auch die Frauen bei der Bewältigung des Alltagslebens und der Verteidigung von Paris (es wurde sogar eine Frauenarmee geschaffen) eine bedeutende Rolle. Obwohl auch einige andere französische Städte sich der offiziellen Regierung widersetzt hatten, blieb die Commune letztlich nicht erfolgreich. Trotzdem hat sie eine Demokratisierung auf vielen Gebieten in Gang gesetzt: Die Stellung der Frauen wurde gestärkt (z.B. bessere Arbeitschancen, Hinterbliebenenrente), Mädchen sollten die gleiche Schulbildung erhalten können wie Jungen u.v.m.
Einfluss des Modemachers Worth aufdie Mode
Die hier kurz beschriebenen, zum Teil dramatischen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse während des Second Empire und der Anfangszeit der Dritten Republik spiegeln das Streben nach demokratischeren Lebensformen wieder. Auch die Mode folgte - zumindest in Ansätzen - diesem Zeitgeist. In diese Zeit fällt auch die Erfolgsgeschichte des Modemachers Charles Frederick Worth, der die Modeindustrie nachhaltig revolutionierte. Worth (geb. 1826, in Bourne, England, gest. 1895 in Paris, Frankreich) fing als kleiner Verkäufer von Stoffen an, gründete bereits 1858 sein eigenes erfolgreiches Modehaus „Worth et Bobergh”, zu dessen Kundinnen viele namhafte Namen gehörten, avancierte zum Hoflieferanten der Kaiserin Eugénie und wurde zum Begründer der Haute Couture. Er präsentierte seine Kleiderentwürfe nicht mehr an (im Französischen als „mannequins” bezeichneten) Puppen - wie es damals mitunter üblich war2 -, sondern er ließ seine Modelle erstmals von Frauen vorführen. Bis zu dieser Zeit hatten die Couturiers die Modelle nach den Wünschen ihrer Kundinnen angefertigt, wobei die Accessoires noch von einer Modistin gesondert angebracht wurden. Worth ging dazu über, die Kleider komplett mit dem gesamten Zubehör selber zu kreieren und diese vier Mal im Jahr in Modeschauen der Öffentlichkeit zu zeigen. Da er auch die entsprechenden Schnittmuster als Neuheit in der Modegeschichte einführte, konnten die kostbaren Kleider nun auch von etwas weniger begüterten Frauen nachgenäht werden und zur Popularisierung seines Kleiderstils beitragen. Auf dieser Grundlage konnte Worth aktiv Modetrends setzen: So hat er u.a. die künstliche Krinoline, die Tournüre und die daran anschließende Mode der „schlanken Linie” kreiert. Worth hat den Geist seiner Zeit gut erkannt, der sich für die Frauen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch darin ausdrückte, dass sich ein immer größerer Teil des Lebens der Frau der höheren Gesellschaftsschicht außerhalb des Hauses abspielte. Sie war nicht mehr ausschließlich Hausherrin, wie dies noch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts üblich war.
Der Aktionsradius der Frauen
Die beginnende Emanzipation wirkte sich beispielsweise darin aus, dass es jetzt auch für Frauen möglich war, Sport zu treiben. Die Damen, die den Leserkreis der Modezeitungen bildeten, arbeiteten zwar in der Regel nicht. Aber die Tendenz zur praktischeren Kleidung, die sich immer mehr in der Mode durchsetzte, war wohl die Folge davon, dass zunehmend mehr Frauen berufstätig waren. Fernerhin ermöglichte die Eisenbahn ein billigeres und bequemeres Reisen als z.B. die Kutsche, so dass es für einen größeren Kreis von Familien möglich wurde, die Ferien an einem anderen Ort zu verbringen. Dort kamen die Damen der eleganten und der mondänen Welt erstmals näher in Kontakt, wobei letztere einen gewissen Einfluss auf die allgemeine Kleidermode ausübte. Besonders beliebte
Reiseziele waren das Meer, das Seebad, der Kurort und das Gebirge, die natürlich dazu passende Kleider erforderten. Allerdings durften die Frauen sogar bei der Strandkleidung nur einen kleinen dreieckigen Ausschnitt tragen und die Ärmel nur um ein Minimum verkürzen.
Die ersten Seebäder gab es in England bereits seit Mitte des 18. Jahrhunderts, im übrigen Europa verbreiteten sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts. Nachdem noch Anfang bis Mitte des 18. Jahrhundert das Baden als gesundheitsschädlich betrachtet wurde, änderte sich dies mit einer neuen positiven Einstellung zur Natur sowie speziell zum See-/Meeresklima und Salzwasser. Die ersten Badeanzüge bestanden zunächst nur aus einem weiten Langhemd, zu dem später ebenfalls lange weite Hosen getragen wurden. Selbstverständlich wurden in den Seebädern abgeschirmte Plätze streng nach Geschlechtern getrennt. Obwohl es in den 1860er Jahren schon attraktive Badeanzüge gab, zeigen die Modezeitschriften dieser Jahrzehnte in der Regel keine Badebekleidung. Die hier abgebildeten Modebilder des Conseiller bilden in diesem Punkt leider keine Ausnahme. Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Badehosen bereits sehr viel kürzer waren als die Tageskleidung und somit (zu) viel Bein preisgaben.
Auch die meist aus England stammenden Sportarten (Bergsport, Reiten, Billard, Baden, seit den siebziger Jahren auch Krocket und Tennis, Schlittschuh- und Rollschuhlaufen, Radfahren u.a.) erforderten entsprechende Kleider. Sie sind aber nicht im Conseiller der hier behandelten zehn Jahre repräsentiert. Ebenso erforderderten die gesellschaftlichen Ereignisse - am Ferienort sowie zu Hause - besondere Kleider. So waren beispielsweise die Tageskleider hochgeschlossen, bei Diners, Konzerten, Theaterbesuchen waren ein kleiner, oft spitzer Ausschnitt und dreiviertellange Ärmel erlaubt (s. Abb. 29, 46, 71). Die Ballkleider zeichneten sich in der Regel durch besonders wertvolle Stoffe, eine Überladenheit an Verzierungen (s.u.) sowie durch ein großes Dekolleté und winzige Ärmel oder Ärmellosigkeit aus (s. Abb. 2, 16, 95, 107, 108, 118). Die Übergänge zwischen Abend- und Ballkleidern waren mitunter jedoch fließend: so ähnelt die Toilette für das Kasino, Konzert und die Abendgesellschaft (links) auf Abb. 79 eher einem Ballkleid als den Kleidern für kleine Abendgesellschaften (s. z.B. Abb. 71). Außerdem werden z.B. die Ballkleider auf Abb. 95 lediglich als (gewöhnliche) Damentoiletten angegeben. Ebenso ist die “Toilette für ein Mädchen” auf Abb. 27 rechts eher ein Kleid für die Abendgesellschaft o.ä. Neben den schon bisher üblichen gesellschaftlichen Anlässen - Diners, Empfängen, Whistpartien, Bällen, Theaterbesuchen, Pferderennen u.a. - kam in den siebziger Jahren noch der „five-o'clock tea” (Fünfuhrtee) dazu. Diese Vielzahl an unterschiedlichen Kleidern diente selbstverständlich auch dazu, den Reichtum der Familie zur Schau zu stellen.
Die Entwicklung der Mode von ca. 1850 bis 1880
Wenn wir die Modebilder aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrachten, so fällt vor allem die Verwendung wertvoller Stoffe und aufwändiger Verzierungen für die gesamte zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Bei den Tageskleidern machte allmählich immer mehr der Besatz (Volants, Falbeln, Rüschen, Litzen, Fransen, Bänder, Spitzen, Stickerein, Posamente u.a.) den eigentlichen Wert des Kleides aus. Die Tageskleider für den Morgen waren verhältnismäßig moderat verziert. Dagegen waren die Kleider für den späten Nachmittag schon etwas aufwändiger, während die Kleider zu offiziellen Anlässen, wie z.B. zum Empfang, Besuch, Konzert, Diner, zur Landpartie und vor allem zum Ball besonders reich verziert waren, die sich durch plissierte Rüschen, riesige Knöpfe, z.B. aus Stoff, Bandschleifen, künstliche Blumen als Girlanden auf der Schleppe u.v.m. auszeichneten (s. z.B. Abb. 2, 95, 107).
Genauso prunkend und auffallend wie diese Verzierungen musste auch der Schmuck sein. Als Tagesschmuck wurden z.B. Bernstein, Bergkristall, venezianische Glasperlen, römische Korallen und bunte Emaille verwendet. Sie wurden zu auffälligen, z.B. schleifenförmigen Armbändern und Broschen verarbeitet. Ende der sechziger Jahre wurden große, goldene Kreuze modern (s. Abb. 29, 60 und 97). Den Abenschmuck bildeten Brillanten und Edelsteine in Form von Kolliers, Diademen, Ringen usw. Die eleganten Damen übernahmen bald von den mondänen Damen ihre Art sich zu schminken, die Augenlider nachzuziehen und falsche gefärbte Haare zu tragen.
Auch die Architektur und Inneneinrichtung der damaligen Zeit zeichneten sich durch diesen Hang nach Äußerlichkeit aus. Dies wurde noch dadurch gefördert, dass infolge der Technisierung maschinell gefertigte und daher weniger qualitätsvolle Fabrikprodukte die solide, teure, handgemachte Arbeit verdrängten. In der Architektur wurde Marmor mit Stuck, Hausstein mit Putz usw. vorgetäuscht. Ebenso imitierten die Fassaden der Mietshäuser italienische Paläste und man stellte aus Zementguss billige Skulpturen her. Wie auf vielen Modebildern zu erkennen ist, war die Inneneinrichtung ebenfalls entsprechend überladen: schwere Samtportieren, Plüschmöbel, Quasten, Troddeln galten als chic. Mit Sträußen aus getrockneten oder künstlichen Blumen und Pfauenfedern sowie einem absichtlichen Durcheinander an Kunst- und Gebrauchsgegenständen versuchte man, sich die Wohnung zu verschönern. Um so schlichter wirken dagegen die
Abbildungen 17 und 109, die jeweils einen recht schmucklosen Innenraum einer Kirche anlässlich einer Kommunion bzw. Hochzeit andeuten.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Form der Kleidung vor allem von der Krinoline bestimmt. Diese besondere Form des Rockes war dadurch entstanden, dass ab 1839 die Zahl der Unterröcke zunahm und diese zudem mit Fischbein, Rosshaarpolstern und Strohgeflechten verstärkt wurden, damit das Kleid breiter wurde. Als 1856 die „künstliche Krinoline”, der Stahlkäfig mit stützenden Stahlrippen, von Worth eingeführt wurde (s.o.), hatten die zahlreichen verstärkten Unterröcke ausgedient. Die Krinoline hatte um 1860 einen Durchmesser von 3 m erreicht, wodurch natürlich die Taille sehr schmal wirkte. Außerdem wurde dieser Eindruck durch die Form des Korsetts verstärkt. Mit einem Durchmesser von 3 m war es praktisch unmöglich, die Krinoline noch breiter zu gestalten und der Umfang der Krinoline ging auch bald zurück.
In dieser Zeit, also gegen Mitte bis Ende der sechziger Jahre, wurden gelegentlich fußfreie Tageskleider getragen (s. z.B. die fußfreien Kleider der sehr jungen Damen, bei denen die Röcke in der Regel noch kürzer sein durften, und diejenigen der etwas älteren Generation auf Abb. 1, 5, 7, 8, 10, 19-22, 33). Der Trend zur praktischeren Kleidung wirkte sich auch darin aus, dass zur selben Zeit der Rock meist faltenlos herunterfiel.
Parallel dazu breitete sich der Rock nun vor allem in der unteren Hälfte aus, da die breiteren Reifen erst ab Kniehöhe angebracht wurden. Diese neue Form der Krinoline wurde in den 1860er Jahren zusehends kleiner. Da man aber an dem Übermaß an Stoff als Zeichen des Luxus festhielt, drapierte man den Stoff zu eleganten Falten. Um 1868 entstand im Gefolge dieser Entwicklung eine neue Form. Man befestigte an der hinteren Taille zusätzliche Stäbe an dem Stahlgestell, es entstand die von dem Modemacher Worth (s.o.) initiierte Tournüre. Sie diente dazu, die rückwärtigen Faltenpartien zu halten. Die hintere Gesäßpartie wurde oft noch durch ein im Kleid eingenähtes Polster, dem sogenannten „pouf, zusätzlich betont. Dieser Trend, den Rock nach hinten zu verlängern, wurde ebenfalls durch die wieder eingeführte Schleppe unterstützt, die mit der Zeit immer länger wurde (bis zu 1 bis 2 Metern). Die Damen mussten also wieder einmal mehr Ballast hinter sich her”schleppe”n3. Mit der Tournürenmode wurde gleichzeitig die Taille immer höher angesetzt und die Kleider wurden - im Gegensatz zur Krinolinenmode - aus einem Stück gefertigt. So saß die hohe Taille richtig und konnte nicht verrutschen, was wiederum der Trägerin einen größeren Bewegungsspielraum gab. Aus demselben Grund wurde auch zusehends auf die weiten Ärmel (s. z.B. Abb 1 links) verzichtet, die durch eine lange und enge Ärmelform (s. z.B. Abb. 1 rechts) ersetzt wurden.
Während man Seide in der ersten Hälfte des Jahrhunderts als Material für die Kleider bevorzugt hatte, ging man in den fünfziger und sechziger Jahren bei den Tageskleidern allmählich zu weniger empfindlichen Stoffen, wie z.B. Musselin, Gaze und Tüll, über. Hinsichtlich der Farben dieser Kleider kann verallgemeinernd festgestellt werden, dass in den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts harmonische Farben dominierten, während im letzten Drittel auch Kontrastfarben eingesetzt wurden. Die Töne waren im Allgemeinen eher hart und metallisch. Besonders deutlich wirkten solche Kontrastfarben natürlich bei karierten Mustern, die in dieser Zeit sehr modern waren (s. z.B. Abb. 13 und 16). Auf Abbildung 23 fällt außerdem auf, dass die mittlere Dame einen grünen Sonnenschirm hält, der farblich gar nicht zu ihrem Kleid passt, sondern zu dem Kleid der rechts von ihr stehenden Dame. Diese hält wiederum einen lilafarbenen Sonnenschirm in der Hand, der farblich genau zu der Tunika des links im Bild stehenden Mädchens entspricht (s. auch Abb. 37: Die grau-schwarze Weste der rechten Dame würde farblich viel besser zu dem Rock der linken Dame passen und die Tunika der linken Dame viel besser zu dem Rock der rechten Dame). Es wurden ganz offensichtlich auch Kontrasteffekte mit Accessoires wie dem Sonnenschirm erzielt. Wenn auch die einzelnen Farbkombinationen einer Person mitunter nicht mehr harmonisch wirkten, so wollten die Künstler unter Umständen doch noch eine gewisse Harmonie des Gesamtbildes bewahren, indem sie die Kleiderfarbe einer Dame in einem Accessoire einer anderen übernahmen. Ab 1872 boten die Damen wieder ein farblich stimmigeres Erscheinungsbild, da die einzelnen Teile des Kleides und des Zubehörs wieder besser zusammenpassten.
Die Verwendung von Kontrastfarben wurde noch dadurch gefördert, dass schon in den fünfziger Jahren die Kleider gerne hochgerafft wurden. So wurden die Unterröcke, Strümpfe und Schuhe teilweise sichtbar, wodurch diese Partien den Modegestaltern neue farbliche Perspektiven eröffneten. Im Hinblick auf die politische Entwicklung fällt auf, dass die Kontrastfarben aufkamen, als der Widerstand gegen Napoleon III (seit den 60er Jahren) zunahm und die Arbeiter und Sozialisten während der Commune (s.o.) eine entscheidende Rolle spielten. So drückten möglicherweise die Kleiderfarben auf gesellschaftlicher Ebene den „Kontrast” zwischen Reichen und Armen sowie konservativen und progressiven Kräften aus.
Die Möglichkeiten, Kontrastfarben zu kombinieren, wurden durch die Entwicklung der Teer- bzw. Anilinfarben seit den 1830er Jahren erweitert. Unter Anilinfarben versteht man im weiteren Sinne alle künstlich hergestellten organischen Farbstoffe. Zwar machte F. F. Runge bereits 1834 bekannt, dass sich aus dem aus Steinkohleteer entnommenen Anilin Farbstoffe herstellen lassen. Diese Entdeckung wurde allerdings erst seit den 1850er Jahren auch wirtschaftlich genutzt. Generell hatte die künstliche Fabrikation von Farben viele Vorteile, wie z.B. leichtere Verwendbarkeit und Dosierung, Unabhängigkeit von Wetterbedingungen und Bodenbeschaffenheit, gleichbleibende Qualität sowie billigere Transportkosten. Seit Runges Entdeckung konnten immer mehr Farben synthetisch hergestellt werden. So wurden kräftige Rottöne, wie Magneta, ein Himberrot, und Solferino, ein scharfes Fuchsinrot, besonders beliebt. Für die Schwarztöne, in denen oft die Morgenröcke gehalten wurden, bevorzugte man Alpacca. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich auch zusehend Blautöne mittels der in Indien angepflanzten Indigopflanzen durch. Diese wurden seit dem 12. Jahrhundert in kleinen Mengen, seit dem 16. Jahrhundert in größerem Stil von Indien nach Europa verschifft. Die Beschaffung blieb trotzdem teuer und das Blau war daher während dieser Zeitperiode weiterhin dem Adel vorbehalten. Erst seit Mitte des 19. Jahrhundert, als die indischen Bauern mehr Indigopflanzen auf ihrem Land für den Export nach Europa anbauten, wurde diese Farbe in Frankreich auch für die nichtadeligen Bevölkerungsgruppen erschwinglich. Die synthetische Herstellung des Indigo ist schließlich erstmals dem Chemiker Adolfvon Bayer 1870 gelungen. Die hier abgebildeten blauen Kleider sind oft mit weißen, schwarzen oder grauen Farben kombiniert oder sie sind in unterschiedlichen Blautönen gehalten. Auffälligere Kontrastkombinationen finden sich z.B. auf Abb. 105 (Kombinationen blau/ schwarz/ braun sowie hellblau/rosa) und auf Abb. 108 (blau und rot). Viele Kleider sind auch in einem indigoblauen Unistoff geschneidert (z.B. 1, 9, 14, 18, 26, 29, 37, 38, 47, 74), die sich wie die anderen unifarbenen Kleider oft durch relativ wenig oder dezente Ornamente auszeichnen, so dass die neuen Farben noch mehr zur Geltung kommen.
Auch war es nun möglich, insbesondere durch die technische Weiterentwicklung der Nähmaschine, die meist aus Leinen oder Flanell hergestellte Unterbekleidung mit weniger Aufwand luxuriöser zu gestalten. Sie wurden daher mit Vorliebe bestickt und mit Spitzen besetzt. Für die Unterröcke bevorzugte man bunte Farben, ebenso für die Strümpfe, die bis in die siebziger Jahre bis über die Knie reichten (und mit einem Strumpfband festgehalten wurden). Im Gegensatz zu den allgemein geschätzten bunten Unterröcken gab es zwar auch bunte Korsetts, weiße galten aber als am vornehmsten. Genauso wie die Unterröcke waren in den 1840er Jahren auch die Schuhe unter dem gewaltigen Krinolinenkleid nicht sichtbar. Darum waren sie einfach gearbeitet und absatzlos. Die 1856 eingeführte künstliche Krinoline aber wippte bei jeder Bewegung auf und ab und gab daher den Knöchel frei. Außerdem wurde im Zuge des Trends zur größeren Beweglichkeit der Rock verkürzt, so dass nun mehr Sorgfalt auf die Schuhe verwendet wurde. Am Tage wurde der geschnürte, geknöpfte oder mit einem seitlichen Gummizug ausgestattete Halbstiefel bevorzugt. Diese Stiefeletten bestanden meist aus farbigen Stoffen und waren mit vielen Troddeln und Tressen verziert. Im Gegensatz zu heute bestand nur die Schuhspitze aus Leder. Zu festlichen Anlässen wurden Halbschuhe angezogen, zu denen im Winter Wollstrümpfe und im Sommer Baumwoll- oder Seidenstrümpfe getragen wurden. Anfangs waren Strümpfe aus grüner Seide mit rotem Zwickel sehr beliebt. Bald wurden aber auch gerne andere auffallende Muster verwendet. Im Gegensatz zu der relativ beständig bleibenden Erscheinungsform der Schuhe änderte sich die Haar- und Hutmode häufiger. Denn man empfand beides als eine Einheit, die mit der Schulterpartie und den Ärmeln des Kleides harmonisieren sollten (und diese veränderten sich natürlich entsprechned der Gestalt der übrigen Kleidung, insbesondere des Rockes). Daher beeinflussten die wechselnden Modetrends sehr stark die Haartracht und die Formen des Hutes. So entsprach z.B. die Dicke der Haarwülste des Madonnenscheitels der immer größer werdenden Weite der Krinoline. Als Anfang der sechziger Jahre der Rock vorne flacher und die Schleppe länger wurde, also der Schwerpunkt des Kleides hinten lag, wurde entsprechend das bis dahin leicht gewellte Haar strenger nach hinten gekämmt. Ebenso wurde es nicht mehr an den Seiten aufgesteckt, sondern im Nacken im sogenannten Cadogan zusammengehalten. Dieser Nackenwulst wurde mit der Zeit immer höher gesteckt und wurde nun als Chignon bezeichnet. Der Umfang des Chignon schwoll zusehends an, bis er fast so groß war wie der eigentliche Kopf. Von diesem riesigen und hohen Haaraufbau hingen lange unregelmäßige Locken auf Hals und Nacken herab. Für derart aufwändige Frisuren wurden natürlich falsche Haare neben den eigenen verwendet, wobei das Haar entweder wie vorher in der Mitte gescheitelt wurde oder in Ringellocken auf die Stirn herabfiel, was besonders von den jüngeren Damen bevorzugt wurde. Als Verzierung dieser Haarmoden verwendete man natürliche und künstliche Blumen, die zu dem Bouquet in der Hand passen sollten. Dazu wurde in den sechziger Jahren vor allem auf dem Hinterkopf eine befestigte Haube getragen. Um 1867 wurden auch kleine runde Hüte modern, die vorne auf dem Vorderkopf getragen wurden. Dieser Modetrend dauerte bis zu der zweiten Hälfte der siebziger Jahre.
Zu der Zeit des Madonnenscheitels und der Krinoline trug man als Überkleidung zu dem Reifrock einen oft andersfarbigen Überrock, über den man draußen noch einen großen, mit der Hand festgehaltenen Kaschmirschal schlagen konnte. Er ersetzte den Mantel, weil über den weiten Reifröcken ein Mantel keinen Platz mehr hatte. Anfang der sechziger Jahre wurden kurze Jacken modern, die sich im Schnitt und in der Ausstattung z.T. an der Herrenmode orientierten. Mäntel, Jacken usw. mussten sich in den 70er Jahren der eigenwilligen Form der Tournüre anpassen: Sie waren manchmal hinten in der Mitte oder an den Seiten aufgeschnitten, um der Tournüre den nötigen Platz zu verschaffen. Aus demselben Grund schneiderte man die vorderen jackenähnlichen Teile dieser Oberbekleidung zum Teil länger als die hinteren, so wurde die Tournüre nicht unnötig mit Gewicht belastet (s. z.B. die linke Dame auf Abb. 31, die einen kurzen schwarzen Mantel - den „Paletot” - trägt, der nach heutigen Maßstäben eher als Jacke bezeichnet würde. Auch die schwarze Oberbekleidung auf Abb. 92 ist eine Mischung aus Jacke und Mantel). Die Mäntel waren z.T gemustert, bestanden oft aus dunklem Plüsch oder Samt. Im Winter waren sie gewöhnlich an den Rändern mit Pelz verziert, ansonsten mit Rüschen, Tressen usw. (s. den russischen Mantel auf Abb. 94). Wegen der unförmigen Tournürenmode wurden außerdem - meist schwarze - Umhänge u.ä. getragen. Ein eher seltenes Beispiel für einen in Farbe, Material und Verzierung mit der übrigen Kleidung abgestimmten Umhang findet sich rechts auf Abb. 112. Der Modemacher Worth gab 1867 der Mode einen weiteren neuen Trend, als er den gerafften Überrock (Polonaise) wieder entdeckte, derzeitweise bereits im 18. Jahrhundert (ca. 1772-1780 und 1794-1796) beliebt gewesen war4. Die Begeisterung der französischen Kaiserin für diesen Stil des Überrocks trug zur Beliebtheit der Polonaise selbstverständlich bei. Auch sie hatte wie die Tunika meistens eine vom Rock abgesetzte Farbe. Besonders zum Schutz der kostbaren Balltoiletten, die nicht zerknittert werden sollten, trug man weiterhin gerne Schals aus Kaschmir und anderen edlen Stoffen (s. z.B. den Spitzenumhang auf Abb. 10, den abgelegten Schal auf Abb. 46 und die rechte Dame mit einem Schultertuch auf S. 53).
[...]
1 Im Folgenden auch kurz als „Conseiller” bezeichnet.
2 Zur Geschichte dieser „Modepuppen” s. Gaudriault S. 25. Auch heute lebt diese Tradition beispielsweise in den Schaufensterpuppen und in gewisser Weise auch in den Barbiepuppen weiter.
3 Sowohl die fußfreien Kleider als auch die Schleppe waren seit dem Mittelalter mehrfach Bestandteil der alltäglichen Kleidung gewesen.
4 Grundsätzlich sind die Übergänge zwischen Tunika, d.h. dem glatten Überrock oder Überkleid (wie beispielsweise die weiße Tunika des rosafarbenen Kleides auf Abb. 2) und Polonaise, dem gerafften Überrock, fließend: Ein Überrock, der an den Seiten gerafft war, wird im Conseiller auch als Tunika oder ganz allgemein als Überrock bezeichnet, wie z.B. das rosa-weißfarbene Kleid mit dem zumindest gerafft wirkenden Kleidrock auf Abb. 10, der graue Oberrock auf Abb. 14, Abb. 20 (linke Dame) und Abb. 21 (rechte Dame). Dagegen wird das hellgraue, kaum geraffte Überkleid der linken Dame vom Conseiller als Polonaise betrachtet.
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- Annette Friederike Bolzius (Autor:in), 2013, 120 Modebilder aus der Modezeitschrift „Le Conseiller des Dames et des Demoiselles“ (1867-1878). Zur Entwicklung der Mode in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/272321