Die Poetik des Aristoteles, entstanden um ca. 330 v. Chr., enthält die ältesten umfassenden Aufzeichnungen zur Dramentheorie. Es stellt sich hierzu die Frage, welche der Theorien des Aristoteles noch heute Anwendung finden. Um dies beispielhaft zu untersuchen, soll die Inszenierung des Regisseurs Leander Haußmann von William Shakespeares Romeo und Julia am Residenztheater München 1993 herangezogen werden.
Besonders zu beachten ist dabei, dass zwischen der Werkentstehung und der Inszenierung von Haußmann fast 400 Jahre vergangen sind. So liegt es nahe, zuerst die wesentlichen Änderungen hervorzuheben, welche Haußmann am Stück vorgenommen hat.
Da Die Poetik als esoterische Schrift gilt und auch nicht zur schriftlichen Veröffentlichung durch Aristoteles vorgesehen war, ist es aufgrund des wenig geordneten Textgefüges problematisch, diese als Analysestruktur zu nutzen. Infolgedessen werden die wesentlichen dramaturgischen Kriterien Aristoteles’ isoliert herausgestellt und mit der Inszenierung verglichen.
Von zentraler Bedeutung sind die Aspekte der Handlung, der Nachahmung, der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit, sowie der tragische Held, aus dessen Glücksumschwung in Jammer- und Schaudervolles die Katharsis hervorgeht.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Haußmanns Inszenierung auf der Basis von Shakespeares Drama
3. Die Dramaturgie des Aristoteles
3.1 Handlungsaufbau und Handlungsverknüpfung (Mythos)
3.2 Nachahmung (Mimesis)
3.3 Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit
3.4 Der tragische Held
3.5 Die Katharsis: Eleos und Phobos
4. Schlusswort
5. Literaturverzeichnis
6. Videoverzeichnis
7. Eidesstattliche Erklärung
1. Einleitung
Die Poetik des Aristoteles, entstanden um ca. 330 v. Chr., enthält die ältesten umfassenden Aufzeichnungen zur Dramentheorie. Es stellt sich hierzu die Frage, welche der Theorien des Aristoteles noch heute Anwendung finden. Um dies beispielhaft zu untersuchen, soll die Inszenierung des Regisseurs Leander Haußmann von William Shakespeares Romeo und Julia am Residenztheater München 1993 herangezogen werden, die als Videoaufzeichnung vorliegt.
Besonders zu beachten ist dabei, dass zwischen der Werkentstehung und der Inszenierung von Haußmann fast 400 Jahre vergangen sind. So liegt es nahe, zuerst die wesentlichen Änderungen hervorzuheben, welche Haußmann am Stück vorgenommen hat.
Da Die Poetik als esoterische Schrift gilt und auch nicht zur schriftlichen Veröffentlichung durch Aristoteles vorgesehen war[1], ist es aufgrund des wenig geordneten Textgefüges problematisch, diese als Analysestruktur zu nutzen. Infolgedessen werden die wesentlichen dramaturgischen Kriterien Aristoteles’ isoliert herausgestellt und mit der Inszenierung verglichen.
Von zentraler Bedeutung sind die Aspekte der Handlung, der Nachahmung, der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit, sowie der tragische Held, aus dessen Glücksumschwung in Jammer- und Schaudervolles die Katharsis hervorgeht.
2. Haußmanns Inszenierung auf der Basis von Shakespeares Drama
William Shakespeares Romeo and Juliet, entstanden 1595, wurde von Leander Haußmann für die Inszenierung am Münchener Residenztheater 1993 in wesentlichen Punkten modernisiert. Es ist unerlässlich, die wichtigsten Änderungen an dieser Stelle hervorzuheben, da sie letztlich auch die Relation des Stückes zur Poetik ändern.
Bereits die Bühnenverhältnisse haben sich am Ende des 20. Jahrhunderts im Vergleich zum Elisabethanischen Theater merklich geändert. Fanden in den ersten Theaterbauten zu Shakespeares Zeiten die Aufführungen ohne wesentliche Kulissen und Requisiten bei Tageslicht statt, so hat sich im heutigen Theater die Guckkastenbühne etabliert, unter Einsatz vieler technischer Feinheiten und oft einem Reichtum an Requisiten. Haußmann verwendet eine drehbare Bühnenplattform, auf der wiederum einzeln drehbare halboffene Häuser und Fassaden angebracht sind. Es ergibt sich hieraus eine Vielzahl von dynamisch veränderbaren Bühnenbildern. Die Notwendigkeit einer Shakespeareschen Wortkulisse ist deshalb auch nicht gegeben.
Inhaltlich wurde die Textvorlage stark gekürzt, Haußmanns Inszenierung ist aktionsorientierter und spektakulärer, als es das Original gewähren würde. Bereits der Beginn des Stückes wird mit einem eindrucksvollen Kampf eingeleitet; der Chor entfällt. Das Duell zwischen den Häusern Montague und Capulet wird zunächst wie der Showdown eines Westerns angekündigt und endet in einem Sprachgewirr aus Englisch und Italienisch, in dem die textuellen Inhalte zugunsten des Spektakels in den Hintergrund treten. Die Herren Capulet und Montague werden im Kampf als alt und senil dargestellt.
Auch die Verfälschung der Sinneseindrücke durch die Kameraaufnahme wird gleich zu Beginn hervorgehoben: Beim Abgehen stößt Montague beinahe frontal gegen die Kamera und entschuldigt sich mit einem „Pardon.“
Genauso wird der Text um kurze, moderne Phrasen ergänzt. Romeo spricht zu Benvolio über Rosalinde und verwendet dabei die Formulierungen des Originaltextes. Um dieses dann zusammenzufassen, ergänzt er: „Kurz – sie lässt sich nicht ficken.“ Sprachliche Obszönitäten, die bereits im Original zahlreich vorkommen, werden somit modernisiert. Auch durch die Kostüme – Romeo trägt Strapse – oder durch das Bühnengeschehen – eine Sauforgie der Montagues – werden diese manifestiert.
Der Prinz von Verona und der Chor wurden zusammengefasst und durch einen Sänger ersetzt, welcher weitreichende Kompetenzen besitzt. Er ist stets im Bühnengeschehen präsent und kommentiert sprachlich, mimisch, gestisch und proxemisch die Handlung. Es scheint sich hier um ein Mischwesen zu handeln, welches Herr über Liebe, Leben und Tod ist: Eros und Thanatos in Personalunion. Die Figur begleitet die in den Duellen Dahinscheidenden, kommentiert die Pest und trägt eine Totenkopfmaske. Sie begleitet aber auch Romeo und Julia mit bunten Luftballons, inszeniert ihr Liebesspiel und kommuniziert mit den Vögeln, wird gar selbst zur Lerche.
Nicht zuletzt parodiert der Sänger auch vieles: So scheitert die romantische Hintergrundmusik der Balkonszene an den immer zu kurzen oder brüchigen Leitern, mit denen Romeo Julias Balkon zu erklimmen versucht. Es findet sich in Haußmanns Inszenierung eine Vielzahl von Ironisierungen, so dass die Bezeichnung Tragödie beinahe schon unpassend ist. Graf Paris, Julias Verehrer und angedachter Gemahl, läuft oftmals mit einem überdimensionierten, goldenen Geschenkpaket orientierungslos durch die Szenerie, welches am Ende auch noch laut zu klirren beginnt. Doch ebenso Shakespeare stellte Paris als Trottel dar und brachte viel Humor in das Stück ein, beispielsweise nebensächliche Unterhaltungen von Köchen, Bürgern und anderen Nebenfiguren, die oft aus Haußmanns Inszenierung gestrichen wurden. Welche Bedeutung der Mischung aus Tragischem und Komischem beizumessen ist und welchem Aufbau die Handlung folgt, sowie nach welcher Motivation die Figuren des Stückes handeln, soll nun direkt anhand der Kriterien Aristoteles’ festgestellt werden.
3. Die Dramaturgie des Aristoteles
3.1 Handlungsaufbau und Handlungsverknüpfung (Mythos)
Aristoteles fordert den Aufbau einer Tragödie als in sich geschlossen, „auch die Fabel [...] [muss] die Nachahmung einer einzigen, und zwar einer ganzen Handlung sein“[2]. Diese Handlung soll in ihrer Ganzheit aus Anfang, Mitte und Ende bestehen. So ist auch Romeo und Julia in drei Phasen einteilbar. In der ersten Phase werden die Figuren Romeo und Julia vorgestellt, die Schürzung des Knotens findet statt, die Handlungselemente werden verknüpft. All dies findet im ersten und zweiten Aufzug statt, in dem sich Romeo und Julia bereits von Pater Lorenzo trauen lassen. Im dritten Aufzug vollzieht sich der von Aristoteles geforderte Umschlag: Das Glück der beiden Liebenden wendet sich mit der Verbannung Romeos zum Unglück. Mit dem Fehlschlagen des Plans aus dem vierten Aufzug werden durch den Tod der beiden Hauptfiguren sowie die Einigung beider streitender Häuser im fünften Aufzug sämtliche Konflikte gelöst.
Um Schönheit der Tragödie zu erreichen, muss die bestimmte Größe der Anordung erhalten bleiben: Zu Großes würde unübersichtlich, zu Kleines übersehen. Gemeint ist hiermit, dass die Handlung nicht zu kurz sein darf, da sonst kein Umschwung erfolgen kann und auch nicht zu lang und sich in Nebensächlichkeiten verlierend. So wird im Stück nur das Notwendige dargestellt, um die Haupthandlung verstehen zu können. Nebensächliches, z.B. ein Gespräch zwischen Romeo und seinem Vater oder die Darstellung der Gräfin Montague, werden nicht gezeigt, dagegen jedoch die Phasen der thematisierten Liebesbeziehung gänzlich in ihrem Ablauf gespielt.
Fraglich ist aber, inwiefern die Inszenierung überhaupt als Tragödie im aristotelischen Sinne betrachtet werden kann. So ist der erste Teil komödiantisch heiter, die Bühne wird weniger von nachgeahmten Figuren als von Karikaturen bevölkert. Erst ab dem dritten Aufzug wird die Handlung ernsthaft und erzeugt Schaudern. Allerdings verstärkt dies die Umschlagswirkung des Glücks des Helden ins Unglück.
Nicht nur der Mythos, die Geschehensverknüpfung, sondern bereits das Handeln selbst nimmt eine zentrale Stellung bei Aristoteles ein. „Ferner könnte ohne Handlung keine Tragödie zustandekommen [sic], wohl aber ohne Charaktere.“[3] Haußmanns Inszenierung besteht aus deutlich gezeichneten Charakteren, wird aber von der fortschreitenden Handlung getragen. Durch das schnell wechselnde Bühnengeschehen entsteht ein geschlossenes Bild des tragischen Handlungsgerüstes. Die Charaktere werden somit nicht um ihrer Selbst willen nachgeahmt, sondern um die Handlung zu fördern. Es besteht ein reiner Kausalnexus zwischen menschlichem Handeln und dessen Folgen[4]. So tritt, wie von Aristoteles gefordert, der offenbar omnipotente Sänger nur als Beobachter und Nebenfigur auf, sämtliche Handlung entfaltet sich aus dem auf der Bühne Gezeigten und es kommt zu keinem deus ex machina. Wichtig ist deshalb nicht die Darstellung einer tatsächlichen Handlung, sondern die einer möglichen, welche zudem allgemeingültig sein muss. Durch die Möglichkeit wird der Handlungsverlauf glaubwürdig, in Romeo und Julia findet sich keine unmögliche oder unglaubhafte Szene. Durch die Allgemeingültigkeit kann der Rezipient das Geschehen auf sich beziehen und der kathartische Effekt wird verstärkt. Die Liebesgeschichte ist ein solches allgemeingültiges Thema, welches immer wieder erzählt wird und immer wieder Betroffenheit beim Zuschauer hervorruft.
[...]
[1] Siehe Fuhrmann (2002), 144.
[2] Aristoteles (2002), 29.
[3] Aristoteles (2002), 21.
[4] Siehe Fuhrmann (1992), 26.
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