Die gesellschaftlichen, geisteswissenschaftlichen und technischen Entwicklungen um 1900 führen zu einem Phänomen der Orientierungslosigkeit, einem Zustand, in dem althergebrachte Erklärungs- und Deutungsmuster nicht mehr gültig erscheinen und „die Welt […] kein verläßliches Gefüge mehr“ bildet. Vor diesem Hintergrund entwickelt sich eine neue Form von Sprachskepsis, die die labile Beziehung zwischen Ich und Wirklichkeit widerspiegelt: Sprache sei ebenso nicht selbstverständlich und künstlich wie die Wirklichkeit selbst. So wird denn die Adäquationstheorie, die von einer Übereinstimmung von wahrnehmbarer Welt, erkennendem Geist und darstellender Sprache ausgeht, abgelehnt. Die moderne Sprachskepsis bleibt jedoch kein literaturwissenschaftliches Phänomen, sondern spiegelt die gesellschaftliche Wirklichkeit und entfaltet philosophische Diskurse.
Gottfried Benn gilt als einer der bedeutendsten Dichter der literarischen Strömung des Expressionismus. Durchaus in der Tradition der literarischen Strömung ist Benns literarisches Werk durch eine besondere Sprachverwendung gekennzeichnet: sie ist, im Gegensatz zur traditionellen literarischen Sprachverwendung, nicht auf Harmonie und Wohlklang ausgelegt, markiert also einen Bruch zur ästhetisierten Dichtungssprache. Seine enge Verbindung zu Friedrich Nietzsche und einige seiner literarischen Werke, so z.B. das 1948 erschienene Gedicht Ein Wort , lassen vermuten, dass mit der Benn eigenen Sprachverwendung eine tiefe Sprachskepsis einhergeht. Im Jahr 1935 konstatiert Benn jedoch, dass die Sprachkrise Ausdruck der Krise des Menschen und somit nur eine Erscheinungsform der Sinnkrise sei. Hiermit bestätigt er einerseits den bereits beschriebenen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und Entwicklungen und Sprachskepsis, andererseits lässt diese Aussage aber auch Zweifel an tatsächlich sprachskeptischen Tendenzen bei Benn zu.
Die Benn-Forschung ist umfangreich und kaum überschaubar. Gerade wurde von Marcus Hahn ein umfassendes Werk zu Benn und der Wissenschaftsgeschichte vorgelegt, was die bisherige Forschung bei all ihrem Umfang dennoch um einige neue Aspekte bereichert. Allerdings bleiben die Aussagen zu Benns Haltung zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in Relation zum Umfang der Forschung dürftig, was nicht zuletzt darauf hinweist, dass dies kein eindeutiges, klar zu benennendes ist. Fraglich ist also, ob Benn als bekannter Nietzsche-Adept tatsächlich auch...
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Moderne Sprachskepsis
- Allgemeines
- Sprachskepsis bei Nietzsche
- Sprachskepsis bei Gottfried Benn
- Benns Sprachskepsis — Merkmale und Ausprägungen
- Bezüge zu Nietzsche
- Sprachskepsis in Benns literarischem Werk
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Hausarbeit befasst sich mit der Sprachskepsis bei Gottfried Benn. Ziel ist es, die konkrete Ausprägung von Benns Sprachskepsis zu erforschen, ihre Verbindung zu Nietzsches Gedankengut zu analysieren und ihre Reflexion in Benns Werk zu untersuchen.
- Moderne Sprachskepsis und ihre Entstehung im Kontext der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen um 1900
- Nietzsches sprachskeptischer Ansatz und seine Kritik an der Sprache als Repräsentantin der Wahrheit
- Benns Sprachskepsis als Ausdruck seiner Weltanschauung und seiner Auseinandersetzung mit der Sinn- und Erkenntniskrise der Moderne
- Die Rolle der Sprache in Benns literarischem Werk und ihre Funktion im Schaffensprozess
- Benns Verbindung zu Nietzsche und die Rezeption von dessen Gedanken in Benns Werk
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Sprachskepsis bei Gottfried Benn ein und stellt die Forschungsfrage nach der konkreten Ausprägung, den Bezügen zu Nietzsche und der Reflexion in Benns Werk. Das erste Kapitel beleuchtet die theoretischen Grundlagen der modernen Sprachskepsis, die sich aus dem Zweifel an der Adäquationstheorie ergibt. Es werden die Beiträge von Kant, Lichtenberg, Wilhelm von Humboldt und Gerber sowie die Entwicklung der Sprachskepsis im Kontext der historischen und gesellschaftlichen Veränderungen um 1900 dargestellt. Das Kapitel endet mit einer detaillierten Analyse von Nietzsches sprachskeptischem Ansatz, der in seinem Essay "Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" zum Ausdruck kommt. Nietzsche kritisiert die Sprache als ein willkürliches System von Begriffen, das die Wirklichkeit nicht adäquat abbilden kann. Er sieht die Sprache als ein Werkzeug der Illusion und der Macht, das den Menschen in eine "Zwingburg der lügenden Begriffe" einsperrt. Die Kunst hingegen bietet ihm eine Möglichkeit, die Sprache zu überwinden und eine neue, eigene Wirklichkeit zu schaffen.
Das zweite Kapitel widmet sich der Sprachskepsis bei Gottfried Benn. Es werden die Merkmale und Ausprägungen von Benns Sprachskepsis im Kontext seiner Biografie und seines Werkes untersucht. Benn, geprägt von der Sinn- und Erkenntniskrise der Moderne, sieht die Welt als ein "problematisches Konstrukt" und das Ich als ein einsames, monologisches Subjekt. Seine Sprache zeichnet sich durch eine starke Betonung des Schöpferischen, der Schaffenskraft des Wortes aus. Benn sieht das Wort als ein Werkzeug der Kunst, das in der Lage ist, die Wirklichkeit zu zerstören und eine neue, bessere Wirklichkeit zu schaffen. Seine Gedichte zeichnen sich durch eine besondere Wortanistik aus, die sich durch Neologismen, Metaphern und Montagetechniken auszeichnet. Das Kapitel beleuchtet auch Benns enge Verbindung zu Nietzsche, insbesondere seine Rezeption von Nietzsches Gedanken zur Sprache und zur Kunst.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen Sprachskepsis, Gottfried Benn, Friedrich Nietzsche, Moderne, Sinnkrise, Erkenntniskrise, Sprache, Kunst, Literatur, Werk, Gedicht, Poetik, Weltanschauung, Biografie, Schöpfung, Wirklichkeit.
- Arbeit zitieren
- Dagmar Zindel (Autor:in), 2013, Sprachskepsis bei Gottfried Benn: Grundlagen und Ausprägungen in Leben und Werk, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/273422